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E-Book

Die Traumwerkstatt von Kerala

Die Welt verändern - das kann man lernen

AutorSabriye Tenberken
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783462309881
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Nur nicht die Wut verlieren! Außenseiter verändern die Welt Die Blindenschule in Tibet wird heute von den Schülern der ersten Generation geleitet. Andere ehemalige Schüler betreiben einen integrativen Kindergarten, eine Massageklinik oder studieren. Sie sind denkbar schlecht ins Leben gestartet - doch sie haben ihre Träume realisiert. Diese Erfolge haben Sabriye Tenberken und Paul Kronenberg ermutigt, das kanthari-Institut im südindischen Kerala zu gründen - ein Campus für soziale Visionäre aus aller Welt, die selbst einer gesellschaftlichen Randgruppe angehören. Stephen kommt aus einer Region am Victoriasee, in der mehr als 30 Prozent der Menschen an den Folgen von Aids sterben. Zunächst nahm er die Kinder seiner Angehörigen auf und nun leitet er ein Heim für Aids-Waisen, denen er Mut und neues Selbstbewusstsein vermittelt. Jayne ist in ihrem Umfeld die einzige Person mit heller Haut. Menschen mit Albinismus werden in Ostafrika gejagt und ermordet, weil ihre Körperteile angeblich Glück bringen. Sie kämpft mit ihrem Projekt gegen Hexenglauben und Menschenjagd. Ojok ist Umweltaktivist, Bienenzüchter und blind. In seinem Trainingszentrum in Uganda bildet er Blinde zu Imkern und Umweltschützern aus. Sie alle sind Absolventen des kanthari-Instituts in Kerala. Es ist eine globale Traumwerkstatt - hier lernen sie alles, was man braucht, um Visionen von einer sozialeren, gerechteren und friedlicheren Welt zu realisieren. Sabriye Tenberken berichtet in ihrem Buch von einer Reise zu erfolgreichen kanthari-Projekten in Afrika, zeichnet ihren eigenen Weg zur Unabhängigkeit nach und schildert die abenteuerlichen Anfänge und das Campusleben in Kerala. Und wir erfahren, was aus den blinden Kindern von Lhasa geworden ist.

Sabriye Tenberken, geboren 1970 in Köln, erblindete im Alter von zwölf Jahren. Sie hat Tibetologie, Soziologie und Philosophie studiert und kümmert sich seit 1998 zusammen mit ihrem Lebensgefährten Paul Kronenberg um die von ihnen gegründete Blindenschule in Lhasa und um das Kanthari-Institut für Leiter sozialer Projekte im südindischen Kerala. Sabriye Tenberken wurde für ihr Engagement u.a. mit dem Charity-Bambi der Burda-Verlagsgruppe, mit dem Hero Award des Time Magazine, dem National Friendship Award der chinesischen Regierung und dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet und, ebenso wie Paul Kronenberg, zum Ritter von Oranje geschlagen. Sie veröffentlichte die Bücher Mein Weg führt nach Tibet. Die blinden Kinder von Lhasa (KiWi 1302) und Das siebte Jahr. Von Tibet nach Indien über die Besteigung des Lhakpa Ri zusammen mit dem blinden Bergsteiger Eric Weihenmayer und den Kindern der Blindenschule. Der in diesem Zusammenhang entstandene Film »Blindsight« wurde 2007 mit dem Publikumspreis der Berlinale ausgezeichnet.

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Leseprobe

3. Fatale Traditionen


Sand in den Augen, Staub in der Nase, Heu unter den Schuhen. Kletten finden ihren Weg in die Socken. Zikaden sirren so laut, als wären es Transformatoren. Die Luft ist erfüllt vom Geruch nach Feuerholz und Rinderfell. Und überall der Duft von Gras. Es ist leicht bewölkt, nicht wirklich heiß, nur manchmal kommt die Sonne zwischen den Wolkenfetzen hervor und verbrennt in wenigen Minuten Gesicht und Hände.

Der Wind bläst ungewöhnliche Geräusche in unsere Richtung. Es klingt, als presse jemand in schnellem Takt einen überdimensionalen Blasebalg. Die Geräusche nähern sich, und jetzt erkenne ich tiefe und hohe Männerstimmen, die in Rhythmen und Gegenrhythmen Luft aus ihrem Zwerchfell zu pumpen scheinen. Es ist eine kleine Gruppe von Männern, die langsam tanzend in einer Reihe auf uns zusteuert. Ich höre stampfende Füße, durch die Luft pfeifende und aneinanderklickende Stöcke und kleine Glocken, die wie bei einem indischen Tempelelefanten jeden Schritt akustisch begleiten. Dicht vor uns springen sie plötzlich in die Luft, wohl einen halben Meter hoch, einer nach dem anderen, und dann erhebt sich eine kreischende Männerstimme, die mit gurgelnden Lauten einen »Gesang« anstimmt, der keiner Melodie folgt, die mir in irgendeiner Weise vertraut wäre. Es scheint, als imitierten sie Naturgeräusche, vielleicht das Lachen der Hyänen oder das Meckern des Enkaleri, eines einheimischen weißen Reihers.

»Das sind die Krieger, die Wächter unserer Kultur«, flüstert mir Monicah zu. »Es sind traditionelle Tänze, zur Feier der Initiation.«

Später sitzen wir im Schatten einer Akazie, die ihre mit Dornen gespickten Äste wie einen Schirm weit über die Wiese spannt. Monicah reicht uns frisch zubereitetes Fleisch und Ugali, einen zu einem Kloß gekneteten Teig aus Maismehl. Wir essen schweigend. Meine Reisebegleiter sind überwältigt von der weiten hügeligen Landschaft, die sich vor uns ausbreitet, und ich bin beeindruckt von den ungewöhnlichen Darbietungen und besonders von Moses, einem der Tänzer, der uns seinen kunstvoll geschnitzten Stock, den mit bunten Perlen verzierten Kopfschmuck und seinen Speer vorführt. Und dann sein ganzer Stolz: die riesenhaften Ohrlappen, die, über Jahre durch schweren Schmuck gedehnt, eigentlich nur noch aus einem Hautring bestehen. Damit wir sie bestaunen können, muss er sie allerdings erst einmal von seinen Ohren abwickeln.

Mit Monicah (Mitte) bei den Massai in Kenia

Eine Frau setzt sich neben mich ins Gras. Sie hat einen schlafenden Säugling auf dem Arm. »Gefällt dir unsere Kultur?«, spricht sie mich an.

»Oh, ja!«, schwärme ich. »Es ist alles so – urtümlich. Der Weg hierher, die Gerüche, die Tänze, Gesänge, Geräusche … einfach umwerfend!«

Sie lacht leise, aber es klingt so, als sollte ich meine Begeisterung etwas zügeln. Ich weiß nicht, was in ihr vorgeht, da ich ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen kann, und bevor ich in ein Fettnäpfchen trete, halte ich mich mit weiteren Äußerungen erst mal zurück.

Nach einigen Minuten sagt sie nachdenklich, während sie ihren Säugling hin- und herschaukelt: »Der rite de passage, der Übergangsritus … Sie tanzen und feiern, während ein 12 Jahre altes Mädchen zur Frau gemacht wird.« Sie hält kurz inne, und das Baby fängt an zu schreien. Sie wendet sich wieder mir zu: »Weißt du, was FMG ist?«

Ja, das weiß ich. Ich hatte viel über die grausame Praxis der »Female Genital Mutilation« (FMG), der Weiblichen Genitalverstümmelung, gelesen, aber auch geglaubt, dass es sich, zumindest im Osten Afrikas, um eine weitgehend ausgestorbene Tradition handelt. Denn immerhin bemühen sich viele afrikanische Regierungen, den frauenverachtenden Brauch durch entsprechende Gesetzgebungen zu beenden. Doch Monicah hatte uns vor einigen Jahren im kanthari-Institut darüber aufgeklärt, dass manche afrikanischen Stämme noch weit davon entfernt sind, diese Praktiken vollkommen aufzugeben. Sie organisierte sogar eine öffentliche Ausstellung mit Fotos, welche die verheerenden Bräuche in unbarmherziger Deutlichkeit darstellten.

Unsere indischen Mitarbeiter waren damals schockiert und meinten, man könne solche Bilder der konservativen südindischen Gesellschaft nicht zumuten. Monicah erklärte jedoch brüsk: Man nehme eine Gesellschaft nicht ernst, wenn man ihr die Möglichkeit verwehre, sich zu empören. Und so marschierte sie trotz gut gemeinter Warnungen mit einem Stapel der Skandalbilder unterm Arm zum nächsten Copyshop nach Trivandrum und begann schon dort mit ihrer Aufklärungskampagne.

Vor einem Pulk von Neugierigen breitete sie ihre Poster und Abbildungen aus und beschrieb in allen Einzelheiten die unterschiedlichen Weisen der Beschneidung. Von Klitoridektomie, der teilweisen oder auch vollständigen Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris, über die Exzision, das Herausschneiden der inneren Schamlippen, bis zur Infibulation, die Entnahme des gesamten äußeren Genitals samt der äußeren Schamlippen.

»Bei uns wird es mit Glasscherben oder alten Rasierklingen gemacht, und die Wunde wird dann mithilfe von Akaziendornen zugenäht. Man lässt nur eine kleine Öffnung, so groß wie ein Streichholz, zum Urinieren und für die Menstruation.«

Die Zuhörer standen da, paralysiert, mit offenen Mündern und Riesenaugen. Nur ein älterer Herr richtete sich an seine Landsleute: »Glaubt ja nicht, das gäbe es nur in Afrika. Es gibt diese Praktiken sogar in Asien, vereinzelt auch in Indien.«

 

Das Kind schreit, doch die Frau macht keine Anstalten, es zu trösten. Sie wirkt nachdenklich, fast ein wenig apathisch. Dann sagt sie: »Ich bin auf der Suche nach einem Arzt, der alles wieder in Ordnung bringen kann.« Viele Frauen erleiden nach der Beschneidung Komplikationen beim Gebären; wegen des Narbengewebes kann sich der Geburtskanal oft nicht richtig erweitern.

Sie war 12 Jahre alt, als sie beschnitten wurde. Da viele Menschen zusammenkamen und man ein großes Fest vorbereitete, wusste sie, was auf sie zukommen würde. Von Freundinnen hatte sie erfahren, wie schmerzhaft der Eingriff gewesen war. Doch die meisten Mädchen lassen es widerspruchslos über sich ergehen, denn die Beschneidung symbolisiert den Übergang vom Mädchen zur Frau. Und wer hat schon etwas dagegen, erwachsen zu werden. Nichtbeschnittene werden mit Spott und Ausgrenzung dafür bestraft, dass sie sich den Schmerzen nicht unterziehen wollten. Ihr wäre es egal gewesen, wie ihre Freundinnen und die Menschen in der Gemeinschaft zu ihr gestanden hätten. Sie hatte große Angst vor den Schmerzen und den Folgen der Beschneidung und wäre geflohen, hätte der Vater ihre Absichten nicht geahnt und dafür gesorgt, dass sie im Haus eingesperrt blieb. Die eigene Großmutter nahm die Genitalbeschneidung der Enkelin vor.

»Sieh dir Monicah an, sie ist stark, denn sie konnte entkommen«, sagt sie nachdenklich. Im Hintergrund hören wir, wie Monicah den anderen erklärt, wie wichtig es ist, einen Zufluchtsort zu haben.

Die Frau neben mir wirkt gedankenverloren. Doch dann sagt sie leise, und es klingt fast resigniert: »Ohne all das wäre mein Leben auch anders verlaufen. Jetzt habe ich nur einen einzigen Wunsch – eine Operation.«

Im Hintergrund höre ich die singenden Tänzer, die jetzt zur Hochform auflaufen. Aber jetzt hat das Ganze für mich eine andere Bedeutung.

 

Monicah nimmt Paul, mich und das Filmteam mit zu einer Dorfschule, in der sie vor einer Gruppe von Mädchen sprechen wird, und erklärt mir: »Es gibt heute weitaus mehr Mädchen, die sich nicht beschneiden lassen wollen. Manche laufen weg und suchen bei mir Unterschlupf. Oft kommen die Eltern mit der Polizei zu mir nach Hause und fordern ihre Töchter zurück.«

Sie plant ein Frauenhaus, einen Zufluchtsort für Mädchen, aber nicht nur für die, die vor der Beschneidung fliehen. Das weiter verbreitete Problem seien heute die Kinderehen. Mädchen würden mit 13, 14 Jahren verheiratet und müssten die Schule abbrechen.

»Das sind unsere Bräuche, unsere Werte! Ich werde den Verteidigern unserer Kultur gehörig auf die Nerven gehen!«

Monicah reist heute von Dorf zu Dorf, um die Eltern umzustimmen, und von Schule zu Schule, um die Mädchen wachzurütteln.

Vor einer Klasse von etwa 40 Mädchen erzählt sie die folgende Geschichte: Es war einmal ein König, der sollte seine Macht durch einen Tanz unter Beweis stellen. Das Problem war nur, dass der König ein miserabler Tänzer war. Und da die Frauen seines Landes nicht nur für ihre Schönheit und Stärke, sondern auch für ihre Anmut beim Tanz berühmt waren, hatte er Angst, sich lächerlich zu machen. Also kam er auf die Idee, allen Frauen seines Landes ein Bein abzuschneiden. Das hatte gleich mehrere Vorteile. Sie waren nicht mehr fähig, sich zur Wehr zu setzen, man konnte sie leichter kontrollieren, sie waren nicht in der Lage wegzulaufen – und sie würden nie mehr tanzen können.

Der König war schon lange tot, doch die Tradition setzte sich fort und verselbstständigte sich. Jetzt hieß es, ein Mädchen könne nur zur Frau werden, wenn man ihm ein Bein abnahm.

Nach vielen Jahren kam eine Reisende ins Land und wunderte sich über die Frauen, die bedrückt und scheu auf einem Bein dahinhüpften. Sie fragte sie, was los sei, warum man ihnen ein Bein abgeschnitten habe. Doch die Frauen kannten den Grund nicht und meinten, es sei eben ihre Kultur.

Die Reisende kam aus dem Staunen nicht mehr raus, denn überall die gleiche Antwort: »Es sind unsere Bräuche, unsere...

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