TAG 3
DIE
HÜTTE UND DER TANZ
Es war Mittwoch und ich war müde. Der gestrige Tag hatte sich als übermäßig anstrengend erwiesen und die Nacht hatte mir nicht die Erholung verschafft, auf die ich gehofft hatte. Langsam setzte ich einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen der Treppe, in der Hoffnung, sie würde mich ähnlich schnell zum Thronsaal bringen wie am Tag zuvor. Ich hoffte vergeblich, denn heute stellte sie sich mir wie am ersten Tag mit all ihrer Endlosigkeit entgegen. Ihre Stufen wollten nicht weniger werden. Auch wenn ich anfangs kaum gezögert hatte, kämpfte ich jetzt um jeden Schritt.
Der Mann in Weiß lief neben mir. Ich genoss seine Anwesenheit, auch wenn er mir heute den Aufstieg nicht zu verkürzen beabsichtigte.
»Warum ist es heute so anstrengend?«, fragte ich ihn. »Warum bin ich so müde?«
Der Mann ließ sich ein wenig Zeit, ehe er antwortete: »Weißt du, je besser du Gott kennenlernst, desto leichter fällt es dir, den Weg zu ihm anzutreten. Das bedeutet aber nicht, dass der Weg zu ihm immer gleich einfach ist. Gott kommt dir stets entgegen, mal sofort, mal später. Aber manchmal ist es auch anstrengender und nur Gott weiß, warum. An einigen Tagen wird es dich mehr Kraft kosten, als du zu besitzen denkst. Doch wird es nie mehr sein, als du hast.«
Der Gedanke, dass nicht jeder Tag so mühsam sein würde wie dieser, war nur ein schwacher Trost für meine schmerzenden Knie, die kaum noch die nächste Stufe nehmen wollten.
»Komm«, sagte da der Mann, »lass uns heute einmal einen anderen Weg nehmen.«
Wie bitte? Einen anderen Weg? Wie konnte es auf einer Treppe einen anderen Weg geben als nach oben und nach unten? Stiegen wir etwa wieder ab?
Doch als ich aufblickte, musste ich feststellen, dass die Treppe verschwunden war und wir uns auf einem Feldweg befanden, der sich durch eine Sommerwiese schlängelte. Er führte noch immer leicht bergauf, doch die Steigung war wesentlich sanfter geworden. Der Duft von Feldblumen stieg mir in die Nase. Die frische Luft, der blaue Himmel und der Sonnenschein gaben mir genug Kraft, um meine Wanderung zumindest noch ein Stück fortzusetzen, auch wenn die Müdigkeit mich weiterhin bleiern umgab. Ich war daher froh, nach einiger Zeit in geringer Entfernung eine kleine Berghütte zu sehen, wie ich sie aus meiner Heimat, den Schweizer Bergen, kannte.
»Ist das der Thronsaal?«, fragte ich den Mann in Weiß.
Er lachte kurz auf. »Nein«, antwortete er. »Das ist nur eine Zwischenstation, damit du dich ein wenig ausruhen kannst. Ein kleiner Gefallen von Gott.«
Ich war zu erschöpft, um weitere Fragen zu stellen. Wir erreichten das Haus und ich trat dankbar ein. Das Innere war so gemütlich, wie man es von einer Berghütte erwartet. Der Hauptraum war in eine Essecke, eine Küche und ein Wohnzimmer unterteilt und vollständig mit dunklem Holz verkleidet. Die Stühle und Tische waren im Gegensatz dazu aus hellerem Holz und verliehen dem Raum zusammen mit den beiden großen Ohrensesseln und den dicken, weichen Kissen und Decken eine gewisse Behaglichkeit. Noch besser als das Versprechen der Kissen jedoch war das des Duftes, der vom Esstisch zu uns herüberwehte. Dort waren auf großen, runden Holztellern ein noch dampfender Laib Brot, ein Stück Butter und verschiedene Marmeladen angerichtet. Bis zu diesem Moment hatte ich gar nicht bemerkt, wie viel Hunger ich bei all der Anstrengung bekommen hatte. Wir setzten uns also an den Tisch und aßen.
Frisches, gutes Brot ist in meinen Augen schon immer die beste Mahlzeit, die die Menschheit je erfunden hat. Doch das hier war eindeutig das frischeste und beste Brot, das mir bisher untergekommen war: der Gipfel der Brot-Evolution sozusagen.
Nachdem wir mehr gegessen hatten, als gut für uns war, schleppten wir uns zufrieden in den Wohnbereich und fielen in die Sessel. Ich wollte es mir gerade bequem machen, als mir einfiel, dass wir ja eigentlich auf dem Weg zum Thronsaal waren. Wir hatten doch gar keine Zeit für ausgedehnte Pausen.
Also quälte ich mich wieder aus der Gemütlichkeit unter mir und begann, mich für den Restaufstieg bereitzumachen. Der Mann in Weiß blieb mit geschlossenen Augen in seinem Sessel liegen.
»Wollen wir nicht weitergehen?«, fragte ich laut. »Wir müssen doch schließlich noch zum Thronsaal.«
Der Mann seufzte und sagte, ohne die Augen aufzuschlagen: »Wirklich? Bei dem Wetter?«
Ich sah aus dem Fenster. Der blaue Himmel, der eben noch bis zum Horizont gereicht hatte, hatte einer tiefschwarzen Gewitterfront Platz gemacht, welche im Begriff stand, jeden Moment ihre Wut gegen unsere kleine Hütte zu entfesseln. Ich hörte den Wind durch die Dielen pfeifen, ehe ein Blitz und kurz darauf ein gewaltiger Donner explodierte. Von einem Augenblick auf den anderen schüttete es so viel Wasser auf das Haus, dass man hätte meinen können, jemand würde seine himmlische Badewanne über uns auskippen.
Das mit dem Weitergehen hatte sich fürs Erste erübrigt.
»Und was jetzt?«, fragte ich meinen Begleiter, der sich inzwischen die Schuhe ausgezogen und die Füße hochgelegt hatte.
»Jetzt machen wir Pause«, sagte er. »Dafür hat Gott dir diese Hütte doch an den Weg gestellt. Betrachte das Gewitter als Gelegenheit, eine Weile auszuruhen und zu Kräften zu kommen, bis der Sturm weiterzieht.«
Ich musste mir eingestehen, dass ich nicht allzu viel Lust hatte, ihm zu widersprechen. Meine Müdigkeit wurde noch durch das Essen in meinem Magen verstärkt, das erst einmal verdaut werden wollte. Also tat ich es meinem Reisebegleiter nach, zog meine Stiefel aus, legte die Füße hoch, deckte mich mit einer großen Wolldecke zu und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.
Als ich aufwachte, wusste ich nicht, wie viel Zeit vergangen war. Ich fühlte mich wesentlich besser. Der Sturm tanzte immer noch um unsere kleine Hütte, doch ich war bereit, es mit ihm aufzunehmen. Der Mann in Weiß stand vor einem Fenster, das nach Westen blickte. Er drehte sich zu mir um, als er mich kommen hörte. Wie immer hatte er ein Lächeln auf den Lippen. Diesmal sah er aus, als gäbe es für ihn nichts Schöneres, als dem wilden Tanz des Sturms auf den Bergen zuzusehen.
»Ausgeschlafen?«, fragte er.
»Ich denke, wir sollten weitergehen.«
»Der Sturm ist noch nicht vorüber. Lass uns warten, bis der Regen abgeklungen ist.«
Ich wollte aber nicht länger warten. Die Hütte war ja gemütlich und das Essen gut gewesen. Doch jetzt hatte all das seinen Zweck erfüllt.
»Und was sollen wir währenddessen tun?« Ich konnte in der Hütte beim besten Willen nichts erkennen, weswegen sich ein ausgedehnterer Aufenthalt gelohnt hätte. Deshalb war ich nicht hergekommen. Der Thronsaal wartete auf mich.
»Ich weiß, dass du lieber durch den Sturm hindurch weitergehen würdest. Dass du Angst hast, deine Zeit hier zu vergeuden. Warten ist jedoch manchmal genauso wichtig wie Loslaufen.«
Seine knappen Antworten waren ja für gewöhnlich ganz gut, aber in diesem Moment kam es mir eher so vor, als wolle er mich um den Finger wickeln. Ich versuchte, mit einem guten Spruch eigener Machart zu kontern: »Manchmal muss man aber mitten durch den Sturm gehen, um weiterzukommen.« Nicht schlecht, fand ich.
»Ja, das stimmt«, sagte er. »Manchmal muss man durch den Sturm hindurch. Aber heute sollten wir warten, bis der Sturm vorbei ist.«
Ernsthaft? Das war ja nicht einmal gut gekontert! Das war –
»Wenn du lernst, Ruhe und Warten nicht nur auszuhalten, sondern auch zu schätzen«, fuhr er fort, ehe ich mich weiter echauffieren konnte, »wirst du auch in anstrengenden Zeiten in der Lage sein, zur Ruhe zu kommen und Kraft zu schöpfen.«
Das ergab Sinn. Irgendwie. Ich wusste noch nicht genau, wie, aber ich beschloss, ihm fürs Erste zu glauben. Ich setzte mich wieder hin. Zunächst hatte ich die Idee, die Zeit mit einem Gespräch zu überbrücken. Dann fiel mir wieder ein, dass ich ja lernen sollte, die Ruhe und Stille auszuhalten. Also sagte ich nichts und ließ meine Gedanken wandern. Ich beobachtete die Regentropfen, wie sie gegen die Fenster klatschten und in Miniaturmeisterschaften gegeneinander antraten, um zu ermitteln, wer zuerst das Untere der Scheibe erreichen würde. Ich betrachtete die aufwendigen, liebevoll gestalteten Muster auf den Kissen und die natürliche Verspieltheit der Maserungen an den Deckenbalken.
Die Welt schien für eine Weile Abstand von mir zu nehmen und eine respektvolle Stille breitete sich um mich und in mir aus. Wie lange war es eigentlich her, dass ich zum letzten Mal so dagesessen war? Ein Gefühl von Freiheit, wie ich es schon beinahe vergessen geglaubt hatte, breitete sich ganz tief in mir aus und begann, mit seiner ganz eigenen Kraft zu leuchten. Es war nicht die Kraft, die ich durch den Schlaf erhalten hatte. Ich spürte es nicht in meinen Muskeln oder meinen Knochen. Es war eine Kraft, die das Herz erfüllte, als würden die Füße nach langer Zeit der Schwerelosigkeit wieder den Boden berühren. Ich kannte das Gegenteil dieses Gefühls gut: Häufig schien mir der Boden unter meinen Füßen weggezogen. Es tat gut, wieder festen Grund unter mir zu spüren.
Ich atmete aus und merkte, dass der Regen aufgehört hatte. Ein einzelner Sonnenstrahl war durch die Wolken gebrochen, hatte sich seinen Weg durch eines der Fenster gebahnt und schien mir jetzt wärmend auf die Füße. Mein Reiseführer...