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Die unterste Milliarde

Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann

AutorPaul Collier
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641204945
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der vielfach preisgekrönte Longseller jetzt in einer neuen Ausgabe
Die unterste Milliarde - das sind die ärmsten Menschen der Erde, die am weltweit steigenden Wirtschaftswachstum keinen Anteil haben. Ihre Lebenserwartung ist auf fünfzig Jahre gesunken, jedes siebte Kind stirbt vor dem fünften Lebensjahr. Seit Jahrzehnten befinden sich die Ökonomien dieser Länder im freien Fall - ohne Aussicht auf Besserung. In seinem vielfach preisgekrönten Bestseller erklärt Paul Collier, wie es zu dieser krassen Armut gekommen ist und was man gegen sie tun kann.

Paul Collier, geboren 1949 in Sheffield, ist einer der wichtigsten Wirtschaftswissenschaftler der Gegenwart. Er war Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank und lehrt als Professor für Ökonomie an der Universität Oxford. Seit vielen Jahren forscht er über die ärmsten Länder der Erde und untersucht den Zusammenhang zwischen Armut, Kriegen und Migration. Sein Buch »Die unterste Milliarde« (2008) sorgte international für große Aufmerksamkeit und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Lionel Gelber Prize und der Corine. Im Siedler Verlag erschienen außerdem »Gefährliche Wahl« (2009), »Der hungrige Planet« (2011), »Exodus« (2014) - eines der wichtigsten Bücher zur Migrationsfrage - sowie »Gestrandet« (2017, mit Alexander Betts). Sein Buch »Sozialer Kapitalismus!« wurde 2019 mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien »Das Ende der Gier« (2021, mit John Kay).

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Leseprobe

Vorwort

1968 studierte ich in Oxford. Dort schloss ich mich den Revolutionären Sozialistischen Studenten Oxfords an, ein Name, der heute nicht einmal mehr ein müdes Lächeln hervorruft. Damals aber schien alles ganz einfach. Nach dem Studium wollte ich meine wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnisse in den Dienst Afrikas stellen. Den neuen Staaten Afrikas fehlte es an vielem, und kaum ein Afrikaner hatte Zugang zu einer Ausbildung wie ich. Viele meiner Kommilitonen in Oxford hatten damals Beziehungen zu Afrika, denn ihre Väter waren in der Kolonialverwaltung tätig gewesen. Ich nicht, mein Vater, der mit Geburtsnamen Karl Hellenschmidt hieß, war Metzger in Yorkshire und hatte die Schule mit zwölf Jahren verlassen. Aber einige dieser kolonialen Verbindungen müssen auf mich abgefärbt haben. Der Vater meines Freundes war Generalgouverneur des kleinen Njassaland gewesen, daher begann ich mich für dieses Land zu interessieren. Und was ich las, ließ in mir den Entschluss reifen, dorthin zu gehen. Umbenannt in Malawi, war es das ärmste Land des Kontinents. Es ist einfacher, ein Land umzubenennen als umzugestalten. Fünfunddreißig Jahre später ist es immer noch bettelarm. Ob das in weiteren fünfunddreißig Jahren sehr viel anders sein wird, wage ich zu bezweifeln, es sei denn, dass … Das vorliegende Buch handelt von diesem «Es sei denn, dass».

Malawi hat sich in den letzten fünfunddreißig Jahren kaum verändert – und ich mich in gewisser Weise ebenso wenig. Nach wie vor beschäftige ich mich mit Afrika, jetzt im Rahmen einer Professur in Oxford. Davor war ich Professor in Harvard und Direktor der Forschungsabteilung der Weltbank. Joseph Stiglitz hatte mich geholt, um die ärmsten Länder näher ins Blickfeld zu rücken. Mein erster Einsatz für die Weltbank führte mich nach Äthiopien. Ich war frisch verheiratet, und es war meine Hochzeitsreise, wenn auch in Begleitung von Joe anstelle meiner Frau. Zum Glück brachte sie Verständnis auf. Sei es aus Zufall oder weil sich Gleichgesinnte anziehen, hatte sie nach dem Studium in Malawi gearbeitet.

Das vorliegende Buch handelt von den Malawis und Äthiopiens dieser Welt, einer Minderheit unter den Entwicklungsländern, die heute das Schlusslicht des Weltwirtschaftssystems bilden. Einige, wie Malawi, rangierten schon immer ganz unten. Anderen, wie Sierra Leone, ging es einmal besser als Indien oder China. Die Länder, die heute das Schlusslicht bilden, sind nicht nur die allerärmsten, sie haben auch kein Wirtschaftswachstum und weichen damit vom Entwicklungsmuster der meisten anderen Länder ab. Sie haben den Anschluss verpasst. Mit dem steilen Wirtschaftswachstum ehemals armer Staaten wie Indien und China wurden das globale Bild der Armut verwischt und divergierende Entwicklungen übertüncht. Sicher, damit es einigen Ländern vergleichsweise besser ging, musste es anderen vergleichsweise schlechter gehen. Aber der Niedergang der Länder, die heute das Schlusslicht bilden, übersteigt jede Verhältnismäßigkeit. In vielen Fällen ist er absolut. Viele dieser Länder fallen nicht nur zurück, sie zerfallen regelrecht.

Mein Forschungsschwerpunkt der letzten Jahre war der Bürgerkrieg. Ich wollte verstehen, warum Gewaltkonflikte zunehmend in afrikanischen Ländern mit niedrigem Einkommen ausbrechen. Im Laufe der Zeit entwickelte ich das Konzept der «Konfliktfalle». Es besagt, dass bestimmte wirtschaftliche Bedingungen ein Land für einen Bürgerkrieg anfällig machen und dass, ist ein solcher Krieg erst einmal im Gange, die Spirale der Gewalt zur Falle wird, aus der sich das Land nur schwer wieder befreien kann. Diese Theorie der Konfliktfalle war eine Erklärung dafür, warum bestimmte Länder heute am untersten Ende der Weltwirtschaft stehen. Aber das war nicht die ganze Geschichte. Malawi hatte in den Jahrzehnten seit seiner Unabhängigkeit keinen einzigen Bürgerkrieg erlebt und sich trotzdem nicht weiterentwickelt. Dasselbe gilt für Kenia und Nigeria – Länder, über die ich Bücher geschrieben habe und die mit Malawi oder auch miteinander kaum etwas gemeinsam haben. Auch glaube ich nicht, dass Armut an sich bereits eine Entwicklungsfalle darstellt. Diese Fehlentwicklungen vollzogen sich vor dem Hintergrund eines globalen Entwicklungsfortschritts: Der Mehrzahl der Menschen gelingt es, sich aus der Armut zu befreien. Seit 1980 befindet sich erstmals in der Geschichte die globale Armut auf dem Rückzug. Aber das Problem beschränkte sich nicht auf Afrika allein. Auch andernorts blieb der Entwicklungsfortschritt aus, in Haiti, Laos und Birma, in den Ländern Zentralasiens und, am spektakulärsten, in Afghanistan. In Anbetracht der Verschiedenheit all dieser Länder kann es keine für alle gleichermaßen gültige Erklärung für das Scheitern der wirtschaftlichen Entwicklung geben.

Die selbstverständliche Akzeptanz einiger monokausaler Theorien zu diesem Problem hat unter den Akademikern das Spezialistentum gefördert. Sie sind ohnehin darin geschult, ein grelles, aber eng begrenztes Schlaglicht auf ein Problem zu werfen. Ich für meine Person dagegen habe im Laufe meiner wissenschaftlichen Tätigkeit Bücher über die Entwicklung ländlicher Räume, über Arbeitsmärkte, makroökonomische Schocks, Handelspolitik und Gewaltkonflikte geschrieben. Eine Zeitlang arbeitete ich mit Joseph Stiglitz zusammen, der sich für alles interessierte und oft etwas Geniales zu sagen hatte. Dieses breite Themenspektrum hat seine Vorteile. Ich erkannte, dass es vier verschiedene Fallen gibt, die das Scheitern der Länder in absoluter Armut erklären können. Betroffen sind eine Milliarde Menschen. Wenn nichts unternommen wird, werden sich diese Länder in den kommenden Jahrzehnten noch weiter von der Weltwirtschaft abkoppeln und ein Ghetto des Elends und der Unzufriedenheit bilden.

Diese Länder haben grundlegend andere Probleme als die anderen sogenannten «Entwicklungsländer» – also praktisch alle außer den reichen Ländern mit nur einem Sechstel der Weltbevölkerung –, um die wir uns in den vergangenen vierzig Jahren gekümmert haben. Der Begriff «Entwicklungsland» wurde so definiert, dass er fünf der sechs Milliarden Menschen weltweit einschloss. Aber nicht alle Entwicklungsländer sind gleich. Die wirtschaftlich gescheiterten kämpfen mit gravierenden Problemen, die die erfolgreichen, aufstrebenden Länder nicht kennen. Tatsächlich haben wir uns bisher mit dem weniger komplizierten Teil der globalen Entwicklung befasst; der schwierigere wartet noch. Aber wir müssen weitermachen, weil ein Ghetto mit einer Milliarde verelendeter Menschen von einer Welt im Wohlstand immer weniger hingenommen werden kann.

Bedauerlicherweise besteht die Lösung nicht darin, diesen Ländern unser Geld zu geben. Das wäre relativ einfach, schließlich ist ihre Zahl begrenzt. Abgesehen von ein paar wichtigen Ausnahmen kann Entwicklungshilfe, zumindest in der bisher praktizierten Form, diese Länder nicht wirklich voranbringen. Der Wandel dieser Gesellschaften muss von innen kommen, wir können ihn nicht von außen verordnen. In all diesen Ländern gibt es Kämpfe zwischen den Mutigen und Unerschrockenen, die eine Veränderung wollen, und den Kräften, die ihre Interessen verteidigen und sich diesem Wandel entgegenstellen. Bisher waren wir vorwiegend Zuschauer dieses Kampfes. Wir können sehr viel mehr tun, um die Reformer zu stärken. Aber dazu müssen wir Instrumente nutzen – militärische Interventionen, internationale Standards und handelspolitische Maßnahmen –, die bisher anderen Zwecken dienten. Die Organisationen, die den Einsatz dieser Instrumente kontrollieren, kennen weder die Probleme der ärmsten Milliarde, noch haben sie ein Interesse daran, sie zu lösen. Sie – und auch die Regierungen – werden lernen müssen, dieses breite Spektrum politischer Maßnahmen zu koordinieren.

Solche Denkanstöße eröffnen Horizonte über alle politischen Gräben hinweg. Die Linke wird erkennen müssen, dass Optionen, die sie bisher abgelehnt hat, zum Beispiel militärische Interventionen, Handel und Wachstumsanreize, entscheidende Maßnahmen sein können, um seit langem angestrebte Ziele zu verwirklichen. Die Rechte wird erkennen müssen, dass, anders als bei der globalen Armutsbekämpfung, das Problem der ärmsten Milliarde nicht automatisch durch globales Wachstum lösbar ist und dass das Versäumnis, es zu lösen, für unsere Kinder sicherheitspolitisch ein Albtraum sein wird. Wir können und wir müssen Abhilfe schaffen. Aber dafür müssen wir gemeinsam handeln.

Wir alle haben umzudenken – nicht nur die Entwicklungsagenturen, auch die demokratische Öffentlichkeit, deren Votum Gestalt werden lässt, was machbar ist. Ohne eine informierte Wählerschaft werden die Politiker auch in Zukunft die Ärmsten der Armen nur als Gelegenheit für ein öffentlichkeitswirksames Foto ansehen und keinen echten Wandel in Gang setzen. Dieses Buch ist ein Versuch, zum Umdenken beizutragen. Es soll lesbar sein, weshalb ich auf Fußnoten und den sonst üblichen wissenschaftlichen Apparat verzichtet habe. Die Lektüre soll Spaß machen, was nicht heißen kann, dass das, was ich zu sagen habe, amüsant ist. Meine Ausführungen stützen sich auf eine Vielzahl von Forschungsberichten und Arbeitspapieren, die in Fachzeitschriften veröffentlicht und in wissenschaftlichen Kreisen diskutiert wurden. Einige dieser Materialien sind am Ende des Buches aufgelistet.

Wissenschaftliche Forschung gleicht nicht selten einer langwierigen Suche. Am Anfang steht eine Frage, auf die es keine Antwort zu geben scheint. Zum Beispiel: Wie viel Entwicklungshilfe fließt in die Rüstungsausgaben? Oder: In welchem Umfang fließt Kapital aus dem afrikanischen Kontinent ab? Wie würden Sie, der Leser, vorgehen, um Antworten auf solche Fragen finden? Etwa die...

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