Laut SHRIBERG sind 3 bis 5 % der Kinder mit einer entwicklungsbedingten phonologischen Störung von VED betroffen. Das ergibt einen Prozentsatz von 0,125%, wenn man von einer Schätzung von 2,5 bis 5% entwicklungsbedingter Störungen ausgeht.[34] Das Verhältnis betroffener Jungen und Mädchen liegt nach DANNENBAUER bei bis zu 9:1[35], während es bei anderen Autoren häufig nur mit 2:1 bis 4:1 angegeben wird[36].
Bei der Frage nach der genetischen Disposition beim Störungsbild der VED gehen die Meinungen der Autoren auseinander:
HORWITZ konnte nach einer Studie von 1984 über neurologische Befunde von 10 Kindern mit VED keine Rückschlüsse auf einen spezifischen Faktor der Vererbbarkeit der Störung ziehen.[37]
Andere Autoren verweisen aufgrund der Daten anderer Studien auf eine Relevanz in der Diagnostik der VED, z.B. ARAM und GLASSON (1979), sowie HALL et al. (1993)[38].
Allerdings unterscheiden sich die Untersuchungskriterien der einzelnen Studien, indem die genetische Disposition im Hinblick auf Artikulationsstörungen, Sprachentwicklungsverzögerungen, Stottern und Sprechapraxie u.ä. untersucht wurde.
Desweiteren wurden die Angaben über Sprach- und Sprechstörungen in der Familie von den Angehörigen angegeben und sind deshalb nicht wissenschaftlich fundiert.
Eine hohe Rate von Sprach- und Sprechstörungen im familiären Umfeld von Kindern mit VED legt allerdings die Annahme nahe, dass eine mögliche genetische Disposition der VED zugrunde liegen könnte.[39]
LUCHSINGER kommt beispielsweise auf eine Rate von 35,5% der Kinder mit einer entwicklungsbedingten Sprechstörung von 127 Kindern, die eine erblich bedingte Störung aufwiesen.[40]
Ein interessanter Fall wird von HALL, JORDAN und ROBIN 1993 geschildert:
„Ein Mädchen wird wegen ihrer schweren entwicklungsbedingten Sprechapraxie in der Wendell Johnson Speech and Hearing Clinic behandelt. Ihre Mutter ist für die Sprachtherapeuten und Forscher eine alte Bekannte, da auch sie als Kind, zusammen mit ihrer Schwester, wegen schwerer Artikulations- und Sprachprobleme hier behandelt wurde. Aus heutiger Sicht wird auch der Mutter die Diagnose „Sprechapraxie“ zuteil. Die Mutter spricht nach wie vor teilweise unverständlich und zeigt als auffallendes, charakteristisches Merkmal häufig sichtbare Suchbewegungen der Artikulatoren (,groping’, ,silent posturing’) vor oder während der Realisierung von Äußerungen. Von den 4 Schwestern der Mutter zeigten zwei Sprechauffälligkeiten; eine dieser Schwestern war als Kind auch in Sprachtherapie an der W.J.S.H. Clinic. Die Großmutter mütterlicherseits des Mädchens wurde ebenso von den Sprachtherapeuten untersucht. Bei ihr wurde eine schwergradige Artikulationsstörung diagnostiziert. Auch die zwei Schwestern des Mädchens zeigten Auffälligkeiten: die ältere eine Stimmstörung mit pharyngealen Schwierigkeiten, die jüngere eine Sprachentwicklungsverzögerung.“[41]
Allerdings ist zu hinterfragen, in wie weit das Sprach- und Sprechverhalten der Familie, im Besonderen der Mutter, zur Störung beim Spracherwerb des Kindes beigetragen hat.
In einer Studie von HARDY-BROWN, PLOMIN und DEFRIES wurde auf der Forschungsgrundlage der Sprachentwicklung von 50 einjährigen adoptierten Kindern eine Korrelation zwischen den kognitiven Fähigkeiten der genetischen Mutter und den kommunikativen Ausdrucksmöglichkeiten der Kinder festgestellt, während diese Korrelation zur Adoptivmutter fehlte.[42]
Damit wurde zumindest ein genetisch bedingter Beitrag zum Spracherwerb nachgewiesen.
Über die Ätiologie der VED findet man in der Literatur nur wenige Angaben, da dieser Bereich weitestgehend unerforscht ist. Daher haben die Berichte häufig hypothetischen Charakter.
Orientiert man sich an dem Störungsbild der erworbenen Sprechapraxie, liegt der Gedanke einer ätiologischen Erklärung im Bereich der Neurologie nahe.
DRONKERS verglich 1996 25 Erwachsene mit einer erworbenen Sprechapraxie „Apraxia of Speech“ (AOS) mit 19 Erwachsenen ohne AOS.
„A 100% lesion overlap was revealed which demonstrated that all 25 patients with AOS exhibited lesions involving the precentral gyrus of the insula, immediately anterior to the central sulcus.”[43]
DRONKERS geht davon aus, dass das oben beschriebene Areal der Insula auf die Planung der Sprechmotorik spezialisiert ist und die Ursache von VED in einer Störung oder einer verspäteten Entwicklung dieses Areals liegen könnte.
Andere Autoren kritisieren die Auswahlkriterien für die Patienten aus DRONKERS Studie. Außerdem belegen andere Studien, dass AOS auch ohne eine Schädigung der Insula vorliegen kann. Diese Autoren gehen von einer Störung im Bereich des Broca-Areals aus.[44]
Im Hinblick auf den möglichen Zusammenhang zwischen erworbener Sprechapraxie und VED ist zu bedenken, dass bei der kindlichen Störung eine bilaterale Schädigung des kindlichen Gehirns vorliegen müsste, da aufgrund der Flexibilität des sich noch entwickelnden Gehirns die andere Hemisphäre die Funktionen der geschädigten Seite übernehmen würde. [45]
Die Kontrolle und die Planung von Sprechbewegungen erfolgen über ein komplexes Netzwerk von motorischen und sensorischen Zentren in der Hirnrinde, dem Kortex, und in subkortikalen Bereichen (siehe Abb.2).
Abb. 2: s. POECK1994, S. 135
Die prämotorischen Rindenfelder sind für die Planung von Bewegungsfolgen wichtig, während die Broca-Region für die Auswahl von Bewegungen von Bedeutung zu sein scheint.[46]
Die Zentren sind eng miteinander verknüpft und bilden ein komplexes Netzwerk. Wird ein Zentrum in seiner Entwicklung gestört, wirkt sich dieses auch auf die anderen Zentren aus.
Bei neurologischen Untersuchungen von Kindern mit VED konnten keine lateralisierten oder fokalen Läsionen festgestellt werden.
„If there are brain anatomy correlates in childhood verbal dyspraxia, they generally are most likely to be structurally normal-appearing brain with the possible exception of some minor developmental anomalies. Genetic factors may play a role in etiology in some cases.”[47]
ROSENBEK und WERTZ untersuchten 1972 50 Kinder mit dem Anliegen, den kausalen Zusammenhang zwischen der VED und einer fokalen Hirnläsion zu finden. Bei 36 dieser Kinder wurden neurologische Untersuchungen durchgeführt. Die anderen Kinder wurden aufgrund postnataler Traumata oder anderer erworbener neurologischen Krankheiten ausgeschlossen.
Bei 22 der untersuchten Kinder zeigte sich eine orale Apraxie, die in einigen Fällen von einer generellen Apraxie begleitet wurde. Bei den übrigen 14 Kindern zeigte sich eine apraktische Schwäche, begleitet von allgemeiner Muskelschwäche, Hyperreflexie, Spastik oder Hyperkinesie.
Bei 26 Kindern wurden Elektroenzephalogramme (EEG) erstellt, wobei bei 15 Kindern abnorme Werte festgestellt wurden. Bei 10 Fällen kann dies auf generelle kortikale Unregelmäßigkeiten zurückgeführt werden, bei den übrigen 5 Fällen wurde eine fokale Ursache angenommen, wobei diese nicht genauer definiert wurden.[48]
YOSS und DARLEY testeten 1974 16 Kinder mit VED. 15 Kindern zeigten neurologische Auffälligkeiten in Form von verlangsamten alternierenden Zungen- und Handbewegungen und Schwierigkeiten in der Koordination von Bewegungen. Diese neurologischen Auffälligkeiten wurden von den Autoren „soft signs“ genannt.
Die Autoren schreiben die „soft signs“ einer Entwicklungsverzögerung zu und keiner fokalen Schädigung.[49]
Die neurologischen Abweichungen folgten in keiner dieser Studien einem beständigen Muster. Jedoch zeigten die meisten Kinder mit VED neurologische Begleiterscheinungen in Form von „soft signs“. Diese fielen individuell allerdings sehr unterschiedlich aus, so dass es schwierig sei, sie in Beziehung zur VED zu setzen. [50]
Auch DANNENBAUER erwähnt das Vorliegen von „soft signs“ im Sinne
von motorischer Unreife, auffälligen EEG-Befunden und unklaren Lateralitätsverhältnissen. Allerdings gäbe es...