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Gegen die Verharmlosung Jesu

AutorGerhard Lohfink
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl488 Seiten
ISBN9783451345616
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Die Verharmlosung Jesu findet auf vielen Feldern statt. Sie geschieht, wenn Jesus als ein etwas aus der Reihe tanzender Rabbi oder als ein zwar außergewöhnlicher, aber eben doch als reiner Prophet eingestuft wird. Widerspruch ist vor allem fällig, wenn sich Christen so verhalten, als sei die Kirche eine Art Verein zur Bedienung religiöser Bedürfnisse, das war von Jesus anders gedacht. Dieses Buch handelt deshalb an vielen Stellen nicht nur von Jesus selbst, sondern auch von der Kirche. Gerhard Lohfinks Reden gegen die Verharmlosung sind provokant, voller überraschender Einsichten und stellen den christlichen Glauben in ein neues Licht.

Gerhard Lohfink, geb. 1934, bis 1986 Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen, lebt und arbeitet als Theologe in der Katholischen Integrierten Gemeinde.

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Leseprobe

Gegen die Verharmlosung Jesu


Im März 1969 habe ich mir in mein Tagebuch drei Sätze von Karl Rahner notiert. Damals las ich geradezu gierig alles, was ich von ihm in die Finger bekam. Die drei Sätze lauteten1:

Die Christenheit hat keine Garantie von Gott erhalten, dass sie nicht die Gegenwart verschlafen könne. Sie kann altmodisch sein, sie kann vergessen, dass man das alte Wahre und die Werte von gestern nur dann verteidigen kann, wenn und indem man eine neue Zukunft erobert. Und sie ist zum guten Teil in diesen Fehler verfallen, so dass das Christentum von heute oft den peinlichen Eindruck erweckt, es laufe nur maulend und verärgert kritisierend hinter dem Wagen her, in dem die Menschheit in eine neue Zukunft fährt.

Diese Sätze (die nun ganz sicher nicht die Summe der Theologie Rahners darstellen) müssen damals meine ganze Zustimmung gehabt haben. Andernfalls hätte ich sie mir nicht notiert. Sie drückten aus, was ich in dieser bewegten Zeit, Ende der sechziger Jahre, selbst empfand. Und sie drückten aus, was damals viele empfanden: Die Kirche müsse endlich ihre verstaubten Traditionen entrümpeln und von der modernen Gesellschaft lernen. Fünf Seiten vorher, im gleichen Tagebuch, hatte ich mir von irgendwoher abgeschrieben:

Traditionen sind wie Laternenpfähle. Sie beleuchten den Weg, den wir gehen sollen. Nur Betrunkene halten sich daran fest.

Ja, so dachten wir damals. Eine prickelnde Aufbruchsstimmung lag in der Luft. Nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kirche drängten viele auf Erneuerung, Veränderung, Umwälzung – und dieses Drängen war ja auch berechtigt. Es ist auch heute berechtigt. Denn jeder Organismus, der lebt, muss sich erneuern. Sonst wird er zu einem schnell verwesenden Leichnam.

Zehn Jahre später finde ich in dem ständig weitergeführten Tagebuch einen neuen Eintrag zum Thema „Tradition“ – und zwar ein Zitat des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski. Er schrieb in einem berühmt gewordenen Essay Folgendes2:

Es gibt zwei Umstände, deren wir uns immer gleichzeitig erinnern sollten: Erstens, hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir noch heute in Höhlen leben; zweitens: würde die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell, befänden wir uns wieder in den Höhlen. […] Eine Gesellschaft, in der die Tradition zum Kult wird, verurteilt sich zur Stagnation; eine Gesellschaft, die von der Revolte gegen die Tradition leben will, verurteilt sich zur Vernichtung.

So radikal auch dieser Text in Richtung Revolte formuliert – er ist zugleich von einer tiefen Skepsis gegenüber einem einseitigen Traditionsabbau erfüllt. Eine Gesellschaft, die ihre Traditionen, also ihre gesammelten, verdichteten und weitergereichten Erfahrungen zerstört, zerstört sich selbst. Das gilt selbstverständlich auch für die Kirche. Sie darf ihre Traditionen nicht abbauen, sondern muss sie unablässig klären, erneuern und vertiefen.

Der Maßstab aller Erneuerung


Die Frage ist nur, was die Kirche für ihre ständige Erneuerung zum Maßstab nehmen soll. Soll dieser Maßstab wirklich die Gesellschaft sein, die laut dem Wort Rahners in einem schnellen und offenbar eleganten Wagen in die Zukunft fährt?

Das kann auch Karl Rahner nicht gemeint haben. Ich habe ihn damals aber offenbar so verstanden. Heute denke ich in diesem Punkt anders. Ich möchte dabei gar nicht ausschließen, dass auch die Gesellschaft eine prophetische Funktion für die Kirche haben kann. Es gibt profane Propheten wie Friedrich Nietzsche oder Karl Marx und viele andere, von denen die Kirche bis heute viel gelernt hat und noch viel mehr zu lernen hätte. Aber der eigentliche Maßstab der Kirche kann nicht der flotte Wagen der Gesellschaft sein. Der schleudert beängstigend, bekommt nicht immer die Kurve und ist im 20. Jahrhundert nur allzu oft ein Leichenwagen gewesen.

Der wirkliche Maßstab der Kirche liegt anderswo. Die profanen Propheten und die Kritiker des Christentums ernst nehmen heißt noch lange nicht, mit heraushängender Zunge hinter der Gesellschaft herlaufen. Unser eigentlicher Maßstab, an dem allein sich die Kirche wirklich erneuern kann, ist Jesus Christus, so wie ihn uns die Evangelien vor Augen stellen. Er ist die Mitte der Kirche – und kirchliche Erneuerung kann nur heißen, dem, was mit Christus der Kirche als innerste Mitte eingestiftet ist, näher zu kommen.

Wenn Jesus der Logos Gottes ist, das letzte und endgültige Wort, das Gott gesprochen hat, das Wort, in dem Gott sich selbst ganz und restlos ausgesagt hat, dann ist Jesus uns allen und allen Zeiten freilich immer weit voraus. Dann dürfen wir seine Gestalt nicht nach unseren zeitgebundenen Maßstäben modellieren – so lange, bis sie unseren Vorstellungen entspricht. Dann können wir nur versuchen, ihm nachzufolgen. Und nur in dieser ständigen Nachfolge inmitten der Kirche, inmitten vieler Brüder und Schwestern, werden wir ihn wirklich verstehen – und dann werden wir auch die so kostbare Tradition der Kirche verstehen.

Die neue Botschaft von der Selbstannahme


Dieser Vorgang des Verstehens Jesu ist nicht leicht. Denn wir alle sind Kinder unserer Zeit. Wir sind durch die Leitbilder, die Ideen und die sich wandelnden Werte der Gesellschaft, in der wir leben, viel stärker geprägt, als wir überhaupt ahnen. Und das wirkt sich natürlich auch darauf aus, wie wir Jesus wahrnehmen. Ich möchte das sofort an einem Beispiel verdeutlichen:

Heute wird uns ständig gesagt: Du kannst den Anderen nur lieben, wenn du dich zuerst einmal selbst liebst. Das sagen uns nicht nur Psychologen und Psychotherapeuten, sondern das sagt uns auch unentwegt die religiöse „Erbauungsliteratur“ des 21. Jahrhunderts.

Ich gehe in irgendeine Buchhandlung und hole mir aus dem Regal „Religion“ irgendeines dieser neuen Bücher für religiösen lifestyle heraus. Ich schlage es auf, blättere darin und stoße dabei immer wieder auf Sätze der folgenden Art:

Du musst mit dir selbst in Einklang kommen.

Es hat keinen Zweck, sich selbst zu beschuldigen.

Du darfst dich annehmen, so wie du bist.

Du darfst dich bedingungslos annehmen.

Du darfst dich annehmen mit allem, was in dir ist.

Du darfst darauf vertrauen, dass du gut bist.

Entscheide dich für dich selbst.

Alles in dir ist gut, so wie es ist.

Du musst dich mit dir selbst aussöhnen.

Du solltest in Frieden mit dir selbst leben.

Du darfst dir selbst vergeben.

Du darfst einverstanden sein mit dir selbst.

Du musst Jesus als Tür zu dir selbst erfahren.

Es geht darum, dass du eins wirst mit dir selbst.

Geh barmherzig mit dir um.

Du musst dich selbst gern haben.

Sei zärtlich mit dir selbst.

Das alles waren wörtliche Zitate aus einem einzigen Buch, das ich eher zufällig in einer Buchhandlung von Bad Tölz durchgeblättert habe. Solche Bücher finden sich heute in jedem Buchladen zuhauf – und zwar vor allem in den Regalen für Religion und Esoterik.

Ich will die zitierten Sätze nicht einfach schlechtreden. Sie enthalten ja ein Stück Wahrheit. Selbstannahme kann etwas zutiefst Christliches sein. Ich darf mich zum Beispiel annehmen als von Gott geschaffen. Ich darf mich annehmen als einen, dem Gott immer wieder alle Schuld vergeben hat. Ich darf mich annehmen als geliebt und geführt. Solche Selbstannahme ist heilsam und heilend. Doch die Sätze, die ich zitiert habe, sind in einer anderen Tonart geschrieben. In der Wucht, mit der sie heute von vielen vorgetragen werden und in ihrer Isolation von dem, was das Neue Testament unter Versöhnung versteht, sind sie verführerisch falsch.

Interessanterweise decken sich die zitierten Sätze fast vollständig mit den Reklametexten unserer heutigen wellness-Industrie, und auffälligerweise entsprechen sie exakt der Suche des heutigen Menschen nach lustvoller Selbstfindung. Nur der Bibel entsprechen sie in keiner Weise. Die redet nicht von Selbstannahme, sondern von Umkehr, und nicht von Versöhnung mit sich selbst, sondern von Versöhnung mit Gott und dem Nächsten.

Die Bibel sagt: „Werde anders! Kehre um!“ Dagegen laufen die zitierten Sätze auf die Parole hinaus: „Bleib, wie du bist!“ Es ist für mich kein Zufall, dass mir vor einigen Tagen just diese Parole als Reklamespruch einer großen Bank im Briefkasten lag. „Bleib, wie Du bist!“ heißt es da in großen Lettern und leuchtenden Farben. Flotte Werbesprüche und pseudochristliche Selbstannahme-Spiritualität fließen konturlos ineinander.

In dem Nebel solchen Zeitgeistes verschwinden die Aussagen der Bibel wie hinter einem undurchsichtigen Schleier. Das Doppelgebot der Liebe wird nun plötzlich nicht mehr in der Weise wahrgenommen, wie es die Kirche zweitausend Jahre lang wahrgenommen hatte. Aus dem „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ wird jetzt vor allem und vordringlich die Forderung der Selbstliebe herausdestilliert. So wird aus dem biblischen Doppelgebot das „Dreiergebot“:

Du sollst Gott lieben,

du sollst deinen Nächsten lieben

und du sollst dich selbst lieben –

und zwar dich selbst zuallererst,

denn sonst kannst du weder Gott

noch deinen Nächsten lieben.

Solche Aufforderung zur Selbstliebe ist beruhigend und schenkt guten bürgerlichen Schlaf. Deshalb hat diese Auslegung in den letzten...

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