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E-Book

Die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft: Psychoanalytische und sozialpsychologische Betrachtungen

AutorNicole Borchert
VerlagDiplomica Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl85 Seiten
ISBN9783842844759
FormatPDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft stellt eines der Grundprobleme in pädagogischen Diskursen dar. Vonseiten der Wissenschaft und der pädagogischen Praxis steht im Mittelpunkt des Interesses die Frage, wie der Eigensinn des Individuums mit dem gesellschaftlichen Auftrag von Bildung und Integration zu vereinbaren ist. Diese Problematik stellt sich nicht nur in pädagogischen und bildungspolitischen Kontexten, sondern begegnet uns in fast jeder Lebenslage. Da das Individuum nur als Teil eines großen Ganzen, das heißt als Teil der Gesellschaft gedacht werden kann, ist eine Herauslösung aus dem sozialen Umfeld nicht möglich. Aus diesem Grund erscheint es unmöglich zu erfassen, was genau das Subjektive, das man als 'Kern' der Identität bezeichnen kann, darstellt und impliziert. Trotz dieses Problems scheint es für die Meisten keine Schwierigkeit darzustellen, die Existenz eines solchen inneren Kerns anzunehmen.

Nicole Borchert, M.A., absolvierte ihr Magisterstudium der Fächer Pädagogik und Germanistik an der Technischen Universität Darmstadt. Während ihrer Beschäftigung mit bildungstheoretischen und gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen, war für sie das basale Problem der Vermittlung zwischen Selbst und Umwelt, dem Einzelnen und dem Kollektiv, sprich zwischen Individuum und Gesellschaft, von besonderem Interesse. Aus diesem Grund widmete sie sich diesem Problem bereits in vielen ihrer Texte und macht es zum Thema dieses Buches.

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Leseprobe
Textprobe: Kapitel 4.4.1, Zur Konstitution des falschen Selbst: Das Konzept des 'falschen Selbst' wird nicht nur von Winnicott aufgegriffen, sondern gehört seit jeher zu den Grundfragestellungen der beschreibenden Psychiatrie und ist Thema in verschiedenen Religionen und philosophischen Diskursen. Die Differenzierung von wahrem und falschem Selbst ist demnach begrifflich und psychologisch nicht neu (vgl. Reifungsprozesse, 182). Wandelt oder steigert sich das durch die Entwicklung herausgebildete integrative soziale Selbst in das Extrem des falschen Selbst, wird das wahre Selbst vollkommen verdrängt, wodurch das ererbte Potenzial von der Außenwelt isoliert wird und nicht zur Entfaltung kommen kann. In diesem Moment der Verdrängung und Unterdrückung verortet Winnicott aufgrund seiner praktischen therapeutischen und psychoanalytischen Erfahrung die Ursache für verschiedene psychische Erkrankungen. Kann das wahre Selbst nicht zum Ausdruck gebracht werden und kann keine Vermittlung mehr stattfinden, weil das soziale Selbst ins Extrem geschlagen ist, ist das nicht nur eine psychische Belastung, sondern es kann die Gefahr einer Spaltung bestehen. Zunächst ist anzumerken, dass grundsätzlich jeder ein 'geteiltes Wesen' besitzt; bei jedem gesunden Menschen besteht demnach eine Diskrepanz zwischen 'wahrer' Identität und dem gesellschaftlichen Selbst- und Fremdbild. Auch Winnicott betont immer wieder, dass jedes Individuum über ein wahres und ein falsches (soziales) Selbst verfügt (vgl. Der Anfang ist unsere Heimat, 73). Normal beziehungsweise gesund ist es demzufolge auch, dass man im Privatleben ein etwas anderer Mensch ist als in der Öffentlichkeit, sich bei Freunden anders verhält als bei Arbeitskollegen und so fort. Man könnte sagen, dass jeder Mensch unterschiedliche 'Rollen' verinnerlicht hat, und diese je nach Bedarf und Angemessenheit einsetzt. Trotz dieser verschiedenen, an die Außenwelt angepassten Verhaltensweisen geraten die Menschen in der Regel nicht gravierend in Konflikt mit ihrem wahren Selbst, da meist genügend Raum und Möglichkeit besteht oder geschaffen wird, dieses im privaten Bereich 'auszuleben'. Es gelingt niemandem, immer er 'selbst' zu sein; das ist weder möglich noch erstrebenswert, nicht zuletzt, weil dieses Selbst nicht klar zu definieren ist. Ein gesellschaftliches Zusammenleben kann nur unter der Bedingung funktionieren, dass sich jeder Einzelne auch der Allgemeinheit unterordnet. Winnicott spricht davon, dass jeder Mensch ein 'höfliches' oder 'gezähmtes' Selbst hat, und auch ein persönliches Selbst, welches nur in privaten Situationen zum Ausdruck kommt (vgl. Der Anfang ist unsere Heimat, 74). Diese Aufspaltung des Selbst ist der Regelfall bei einem psychisch gesunden Menschen und ist eine 'Leistung, die mit der persönlichen Reifung erbracht werden kann' (Der Anfang ist unsere Heimat, 75). Im Normalfall stellt sich die Vereinbarung zwischen wahrem und sozialem Selbst relativ unproblematisch dar, obwohl man diese 'Leistung' durchaus als Problem der Adoleszenz betrachten kann, welches in der Regel mit dem Heranwachsen des Kindes in Form eines Kompromisses zwar nicht gelöst, aber zumindest angegangen wird. Bei einigen Menschen geht die beschriebene (natürliche) Aufspaltung des Selbst in eine symptomatische Abspaltung des Selbst über, die eine große Gefahr für die menschliche Psyche darstellt. Bei solchen Menschen kann diese Spaltung als unüberwindbare Hürde empfunden werden, da zwischen dem wahren und dem sozialen Selbst keine Vermittlungsmöglichkeit (mehr) besteht; Winnicott beschreibt diesen Zustand als einen 'Riss in der geistig-seelischen Verfassung' (Der Anfang ist unsere Heimat, 75). Wird dann das soziale Selbst als absolut unabhängige und dominierende Instanz wahrgenommen und eingesetzt, entspricht dies dem Krankheitsbild der Schizophrenie. In diesem Falle muss von einem 'falschen Selbst' gesprochen werden, da keine Verbindung zum wahren Selbst besteht und eine Vermittlung für die betroffene Person ausgeschlossen ist. Eine grundlegende Frage, die sich die Psychoanalyse in diesem Kontext stellt, ist die nach der Entstehung und Funktion des falschen Selbst. Im Rahmen seiner Theorie der frühkindlichen emotionalen Entwicklung sieht Winnicott die Gründe für die Entstehung eines falschen Selbst im Säuglingsalter verwurzelt. In der Regel entwickelt der Säugling durch Vermittlung mit der Mutter eine 'Ich-Organisation', die an die Umwelt angepasst ist (vgl. Reifungsprozesse, 195). Voraussetzung hierfür ist die (partielle) Entfaltung der Potenziale des wahren Selbst, Bedingung hierfür ist wiederum, dass die Mutter im winnicottschen Sinne 'gut genug' ist, das heißt, dass sie sich hinreichend den Bedürfnissen des Säuglings anpasst. Die Herausbildung eines sozialen oder gefügigen Selbst kann demzufolge nur in Anlehnung an das wahre Selbst geschehen (vgl. Reifungsprozesse, 195). Die Bildung des sozialen Selbst ist wesentlich abhängig von der Mutter und deren Anpassungsfähigkeit; nur dadurch kann auch der Säugling einen Aspekt des 'Sich-Fügens' in sein Selbst integrieren. Bedingung hierfür ist die Entfaltung des wahren Selbst und damit korrelierend das Vertrauen des Säuglings in die Welt, repräsentiert durch die mütterliche Fürsorge. Das wahre Selbst hat im Normalfall einer gesunden Entwicklung einen notwendigen Aspekt des 'Sich-Fügens'; die daraus resultierende Fähigkeit zu Kompromissen ist eine Errungenschaft der Mutter-Kind-Beziehung (vgl. Reifungsprozesse, 195). Nur aufgrund dieses Urvertrauens in die mütterliche Fürsorge kann das Kind in die Lage versetzt werden, seine Omnipotenz allmählich abzuschaffen und das wahre Selbst bewahrt seine Spontaneität (vgl. Reifungsprozesse, 190). Ist die Mutter in diesem Sinne nicht 'gut genug', kann ein falsches Selbst aufgebaut werden, welches eine Extremform des sozialen oder gefügigen Selbst darstellt. Kann die Mutter der 'Geste' des Säuglings als Ausdruck seiner Omnipotenz nicht begegnen beziehungsweise entsprechen, wandelt sich die Spontaneität des Kindes in ein Sich-Fügen. Anstatt der Geste des Kindes zu entsprechen, setzt die Mutter ihre eigene Geste ein, die 'durch das Sich-Fügen des Säuglings sinnvoll gemacht werden soll' (Reifungsprozesse, 190). Diese Gefügigkeit des Säuglings bezeichnet Winnicott als frühestes Stadium des falschen Selbst, hervorgerufen durch das Unvermögen der Mutter, die Bedürfnisse des Säuglings wahrzunehmen. Hierbei handelt es sich eher um eine Ausnahme, da sich die gesunde Frau in der Schwangerschaft sehr stark mit dem heranwachsenden Kind identifiziert und instinktiv um die Bedürfnisse des Säuglings weiß. Die Mutter kann demzufolge, sofern sie 'gut genug' ist, als Ursprung des wahren Selbst, sofern sie 'nicht gut genug' ist, als Ursache für das falsche Selbst betrachtet werden. Die spezielle Bedeutung der Mutterbeziehung bezeichnet Winnicott in diesem Kontext als 'Hingabe' (vgl. Reifungsprozesse, 192).
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft1
Inhaltsverzeichnis3
1. Einleitung7
1.1 Was ist Vermittlung?7
1.2 Die Ausgangsproblematik9
1.3 Zielsetzung und Herangehensweise11
1.4 Anmerkungen zum Aufbau dieser Arbeit14
2. Donald W. Winnicott und die psychoanalytische Pädagogik16
2.1 Leben und Werk16
2.2 Die Theorie der emotionalen Entwicklung17
3. Der Beginn der Vermittlung19
3.1 Ich und Selbst19
3.2 Ich-Integration21
3.3 Omnipotenzerfahrung und Realitätsprinzip23
3.4 Von der absoluten zur relativen Abhängigkeit27
3.5 Übergangsphänomene und –objekte29
4. Vermittlungen des Selbst30
4.1 Vermittlung als soziale und individuelle Aufgabe30
4.2 Das wahre Selbst – Der Kern der Identität31
4.3 Das „gefügige Selbst“ und Vermittlung33
4.4 Das „falsche Selbst“35
5. Voraussetzungen für Vermittlung41
5.1 Spiel, Kreativität und der „potenzielle Raum“41
5.2 Der Beitrag der Umwelt45
6. Zusammenfassung: Vermittlung bei D.W. Winnicott48
7. George H. Mead und die Sozialpsychologie51
7.1 Mead als Sozialpsychologe und Sozialphilosoph51
7.2 Der symbolische Interaktionismus53
8. Identitätsentwicklung56
8.1 Identität: „I“ und „Me“56
8.2 Subjektivität und Identität59
8.3 Zur Konstitution des Ichs61
8.4 Selbstbewusstsein65
9. Voraussetzungen für Vermittlung68
9.1 Spielen und Kreativität68
9.2 Die Rolle der Umwelt71
10. Zusammenfassung: Vermittlung bei G.H. Mead76
11. Resümee79
12. Literaturverzeichnis82

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