Polen: Faszinierende Persönlichkeiten, schicksalhafte Erlebnisse
Seit der Wahl von István Báthory, dem ungarischen Großfürsten von Siebenbürgen, zum König von Polen (1576–1586) ist die ungarisch-polnische Freundschaft ein wichtiges Kapitel in der Geschichte beider Länder. Der polnische General Józef Bem war ein legendärer Held im ungarischen Freiheitskampf 1848/49 gegen die Habsburger. In den Jahren 1939/40 fanden über 100 000 vor der deutsch-russischen Besatzung fliehende Polen Aufnahme in Ungarn. Die Posener Unruhen in Polen und die drohende Gefahr einer russischen Intervention waren die direkten Auslöser jener historischen Demonstration am 23. Oktober 1956 in Budapest, die als Vorspiel zum Ungarnaufstand in die Geschichte einging. Diese Traditionen und die gemeinsame Bedrohung der sich parallel entwickelnden Reformbewegungen, die in Warschau Władysław Gomułka und in Budapest Imre Nagy an die Macht brachten, bewirkten, dass die Solidarität mit Ungarn unter allen Ländern der Erde wahrscheinlich in Polen am stärksten war. Zehn polnische Journalisten hielten sich im Oktober und November 1956 zeitweilig in Ungarn auf und berichteten mit großer Sympathie über das dramatische Geschehen.
Dass es den Polen gelungen war, eine sowjetische Gewaltaktion abzuwehren und die Veränderung friedlich, durch Reformen zu erreichen, während die Ungarn eine blutige Tragödie erleben mussten, verlieh der alten Zuneigung eine neue und besondere Intensität. Zusammen mit vielen Freunden und Kollegen hoffte ich, dass der einheitliche Widerstand der Intelligenz und der Arbeiterklasse Ungarns, der Druck der Weltöffentlichkeit und der westlichen Mächte, aber auch die Sympathie Jugoslawiens und Polens noch den Weg zu einem erträglichen Kompromiss öffnen und eine Vergeltungskampagne des vom Kreml installierten Kádár-Regimes verhindern könnten.
Eine folgenschwere Reise
Nach fünf verlorenen Jahren (Militärdienst, Internierung und amnestierter, aber politisch unzuverlässiger Ex-Häftling mit Berufsverbot für drei Jahre) war ich erst im Sommer 1956 politisch rehabilitiert worden. Als Ressortchef für Außenpolitik einer neuen, offiziell »unabhängigen« Tageszeitung, Esti Hírlap, erhielt ich im Januar 1957 eine durch polnische Kollegen organisierte Einladung des damals von Reformern geführten Parteiblatts Trybuna Ludu nach Warschau, um von dort über die Parlamentswahlen zu berichten, die auch als Test für den Erfolg des Reformflügels angesehen wurden (für Details siehe mein Buch Auf schwarzen Listen). Wie sich jedoch zeigen sollte, versiegten die polnischen Reformen bald in der Wüste eines blockweiten Neostalinismus.
Diese erste Auslandsreise überhaupt, als Journalist im Alter von 27 Jahren, am 12. Januar 1957 mit den folgenden 18 Tagen in Warschau wurden zum Wendepunkt in meinem Leben. Von der ersten bis zur letzten Minute spürte ich während meines Aufenthalts die Solidarität der polnischen Journalisten und Intellektuellen mit dem geknebelten Ungarn. Die Hinrichtungen von Aufständischen, die Verhaftungen von Schriftstellern und Journalisten und andere Hiobsbotschaften zeigten, dass sich das Kádár-Regime für einen unbarmherzigen Kurs der Rache entschieden hatte. Das war, zusammen mit der Wirkung von Begegnungen mit vielen westlichen Berichterstattern, nicht zuletzt mit Hugo Portisch, Adam Wandruszka und Erich Lessing aus Wien, die später zu meinen engen Freunden wurden, der Hauptgrund für meinen dann folgenden Absprung nach Österreich. Bereits vor meiner Reise nach Prag, der nächsten Station der von meiner Zeitung arrangierten Tour, war ich fest entschlossen, in Wien ein neues Leben in Freiheit anzufangen.
Diese dramatischen Tage in Warschau waren aber keineswegs das Ende meiner spannenden Erfahrungen in Polen. Am 29. September 1959 wurde ich stolzer Besitzer eines österreichischen Reisepasses und arbeitete ab Mitte 1960 als Wiener Korrespondent für die Londoner Financial Times. Im Juni 1961 fragte mich die Auslandsredaktion, ob ich für die Zeitung über die Posener Messe in Polen berichten könnte. Vorher hatte das Blatt schon erste größere Artikel von mir über die Wirtschaftslage in Ungarn und Jugoslawien gebracht.
Ich blieb einige Tage in Posen und berichtete über die nicht allzu aufregende Messe und die erwarteten Geschäftsabschlüsse der Aussteller aus dem Vereinigten Königreich. In den folgenden Jahrzehnten habe ich noch oft über die ebenso rituellen wie langweiligen, für die britische Exportwirtschaft aber wichtigen Vertragsverhandlungen bei Messen und Ausstellungen von Brünn bis Plowdiw und Bukarest geschrieben. Meine erste Auslandsreise für das britische Weltblatt war für mich aber mehr als eine Chance bei der FT, es war eine nostalgische Reise in das Land, von dem aus ich knapp vier Jahre zuvor meinen Weg in die Freiheit angetreten hatte.
Vor allem der Abstecher von Posen nach Warschau war ungeheuer aufregend. Ich traf einige alte Freunde, die gar nicht glauben wollten, dass der ehemalige Sonderkorrespondent eines kommunistischen Blattes aus Budapest so schnell im Gewand eines britischen Sonderkorrespondenten zurückkehrte. Die Kontraste zwischen Polen 1957 und Polen 1961 waren beklemmend. Ich war froh, dass ich mir damals das Angebot optimistischer Freunde, eine Zeit lang unter einem Vorwand in Polen zu bleiben, nicht einmal überlegt hatte.
Was aber alle Eindrücke überschattete, war ein banales Missverständnis auf dem Warschauer Flughafen. Nach dem Passieren der Pass- und Zollkontrolle wollte ich eben Souvenirs im Duty-free-Shop kaufen, als ich plötzlich meinen Namen aus dem Lautsprecher vernahm. »Mr Lendvai, kommen Sie bitte zur Zollkontrolle«, wurde da auf Englisch durchgesagt. Ein Schrecken durchfuhr mich; also ich war doch ein Idiot, eine Polenreise »aus Hetz« zu wagen. Mit heftigem Herzklopfen ging ich zum Schalter: »Wir haben Ihren Koffer irrtümlich nicht eingecheckt und wollten wissen, ob Sie noch Handgepäck haben.« Ein Stein fiel mir vom Herzen, und ich trank schnell einen polnischen Wodka darauf.
In den 1960er-Jahren besuchte ich Polen und Ungarn mehrmals. Die Kontraste zwischen den beiden Ländern wurden immer offensichtlicher. Deshalb begann ich mein Essay in der Zeitschrift Der Monat (Oktober 1966) anlässlich des zehnten Jahrestags des Ungarnaufstandes mit einem für die Stimmung charakteristischen Zitat eines polnischen Journalisten: »Ich verstehe nicht, dass meine ungarischen Kollegen so unzufrieden sind. Schau die reichen Auslagen an, die Preisschilder, frage, wer wie oft im Westen gewesen ist, achte auf den Ton und die Offenheit der Diskussionen in der Presse! Es ist fast alles so unvergleichlich besser als bei uns, ganz zu schweigen von der erstaunlichen Popularität, die Kádár im Vergleich mit Gomułka genießt. Wir gewannen im Oktober 1956, aber auf lange Sicht haben wir doch verloren. Die Ungarn verloren damals und haben letzten Endes doch gewonnen.« Der Autor hatte Ungarn erstmals seit dem Krisenherbst 1956 besucht, und viele Polen teilten damals seine Ansicht.
Die Juden als Sündenböcke
Die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen verliehen den Machtkämpfen innerhalb der herrschenden kommunistischen Partei in Polen einen besonderen Antrieb. Ein radikaler stalinistischer Flügel unter der Führung von Innenminister General Mieczysław Moczar versuchte in den 1960er-Jahren, Parteichef Władysław Gomułka zu entmachten. Diesem Zweck diente eine als »Antizionismus« kaschierte antisemitische Kampagne gegen Partei- und Staatsfunktionäre sowie Intellektuelle jüdischer Herkunft. Sie erreichte nach den Studentenunruhen im März 1968 ihren Höhepunkt und führte zur Auswanderung von mehr als 15 000 Juden.
Schon bei meinem ersten Besuch in Warschau im Januar 1957 hatte ich die Journalistin Edda Werfel kennengelernt. Ihr Mann Roman Werfel war ein prominenter Parteijournalist, zeitweilig sogar Chefredakteur der theoretischen Monatsschrift der Partei, Nowe Drogi. Bei den Studentenunruhen wurden ihre Tochter Katarzyna und andere Kinder jüdischer Funktionäre als »zionistische, der polnischen Nation fremde« Drahtzieher der regimefeindlichen Verschwörung angegriffen und vorübergehend verhaftet. Edda, mit ihren perfekten Deutschkenntnissen auch eine anerkannte Übersetzerin, emigrierte mit ihrer Tochter nach Wien, wo sie als Verlagslektorin tätig wurde. Mit ihrer Hilfe habe ich über vierzig bedeutende polnische Persönlichkeiten interviewen können, für die Wien meistens nur Transitstation auf dem Weg in die Emigration war. Sie hat für mich auch regelmäßig die wichtigsten Pressestimmen ausgewählt und übersetzt.
So konnte ich bereits in der September-Nummer 1968 der angesehenen jüdischen Monatsschrift Commentary in New York einen langen Aufsatz mit dem Titel »Polen – die Partei und die Juden« veröffentlichen. Später gab der Verlag Doubleday mein original auf Englisch geschriebenes Buch Antisemitismus ohne Juden...