3. Auf den Spuren der Wanderhure
Nachdem wir in den ersten drei Jahrzehnten unseres Lebens kaum in der Welt unterwegs gewesen waren, genossen wir das gemeinsame Reisen umso mehr. Dabei probierten wir unterschiedlichste Reiseformen aus. So flogen wir einmal nach Tunesien und zweimal nach Istanbul. Spanien und Marokko erreichten wir mit dem Bus, und in Deutschland und der näheren Umgebung waren wir mit dem Auto unterwegs. Zunächst übernachteten wir in Pensionen, Ferienwohnungen, Hotels und Jugendherbergen.
Schlussendlich verlegten wir uns aufs Camping, denn wir hatten festgestellt, dass wir unsere Reisen so am unkompliziertesten planen konnten und am meisten zu sehen bekamen. Den Campingplatz brauchten wir außerhalb der Hauptsaison nicht im Voraus zu buchen. Auch konnten wir jederzeit alles zusammenpacken und das nächste Ziel ansteuern.
Zunächst zelteten wir, doch das brachte natürlich einige Einschränkungen mit sich: Es gab keinen Kühlschrank, um Vorräte frisch halten zu können. Und auch wenn unser holländisches Sturmzelt elf Quadratmeter umfasste und aus zwei Abteilungen mit durchgehendem Boden bestand, war es auf Dauer doch arg beengt, zumal die Wände nach hinten und zur Seite stark abfielen und somit der überwiegende Teil nur zum Schlafen zu gebrauchen war. Zudem mussten jedes Mal sechzig Zeltnägel in den Boden geschlagen werden, und so nahmen Auf- und Abbau sehr viel Zeit in Anspruch.
Daher liebäugelte Iny nach ein paar Jahren mit dem Kauf eines Wohnwagens. Elmars Begeisterung hielt sich zunächst in Grenzen, da er fürchtete, mit einem Anhänger deutlich langsamer unterwegs sein zu können. Außerdem behauptete er, ein Wohnwagen wäre sehr umständlich zu fahren. Iny meinte nur lapidar, dass Elmar als Landwirt ja bereits Anhänger gewöhnt sei und den Umgang mit ihnen kaum verlernt haben könnte. Dem hatte Elmar nun wenig entgegenzusetzen, und so kam es, dass wir ab diesem Zeitpunkt die Recherchen für die Wanderhure und die Folgeromane mit dem eigenen Schneckenhaus am Haken – wie Iny es nannte – unternahmen.
Und tatsächlich lernte Elmar bald die Vorzüge des Wohnwagens zu schätzen: Anders als das aus schwerem Segeltuch bestehende Zelt musste er nicht langwierig trocknen, wenn es mal wieder geregnet hatte. Wir verfügten zudem von nun an nicht mehr nur über einen Kühlschrank, sondern auch über einen Dreiflammenkocher und eine Essecke, die in ein Bett umgewandelt werden konnte. Besonders angenehm war die eigene Toilette, da wir nun nicht mehr bei Wind und Wetter bis zum Sanitärgebäude laufen mussten, und vor allem freuten wir uns an genug Stauraum, um Bücher, Laptops und Kleidung unterzubringen.
Wir wurden allerdings auch jetzt nicht zu Campern im üblichen Sinn, die ihren Wohnwagen auf einem malerischen Campingplatz in Position bringen, die Markise ausfahren und Tisch und Stühle hinausstellen, wo der Göttergatte ein gepflegtes Bierchen trinkt, während seine Ehefrau alles vorbereitet, damit er Steaks und Bratwürste grillen kann.
Sind wir mit dem Wohnwagen unterwegs, sind wir in zwei Hauptzuständen anzutreffen: Entweder sitzt jeder von uns mit dem Laptop auf dem Schoß in seiner beziehungsweise ihrer Ecke und schreibt, oder wir sind unterwegs, um uns all das anzuschauen, was uns wichtig erscheint. Ein typischer Tag verläuft in etwa folgendermaßen: Wir stehen früh auf, gehen zu den Duschen, bevor die Masse der Camper aus den Federn steigt und es in den Waschräumen zu einem Gedränge kommt. Anschließend frühstücken wir und setzen uns danach bis kurz vor Mittag an die Laptops und arbeiten. Wir essen eine Kleinigkeit, dann geht es hinaus, um mögliche Kulissen unseres aktuellen Projekts in Augenschein zu nehmen. Wenn es nötig ist, von einem Campingplatz aus eine längere Strecke zu fahren, lassen wir an jenem Tag die Laptops in den Hüllen und brechen gleich nach dem Frühstück auf. Am späten Nachmittag oder frühen Abend kehren wir dann auf den Campingplatz zurück. Am nächsten Morgen schreiben wir entweder wieder und sehen uns anschließend etwas an, oder wir unternehmen die nächste längere Tour.
Unsere erste richtige Recherchereise unternahmen wir bereits mit dem Wohnwagen, und zwar auf den Spuren der Wanderhure. Dabei hatte alles schon Jahre zuvor mit einem Zitat begonnen, auf das Iny in einem Taschenbuch gestoßen war:
Als wir nach Konstanz kamen, gab es in der Stadt drei Hurenhäuser. Als wir sie wieder verließen, nur noch eines, aber das reichte von einem Stadttor bis zum anderen.
So beschreibt der Minnesänger und Diplomat Oswald von Wolkenstein die Stadt Konstanz zur Zeit des Konstanzer Konzils von 1414 bis 1418. Dieses Zitat findet sich in unserer Ausgabe von Joachim Fernaus Sachbuch „Und sie schämeten sich nicht – Eine Sittengeschichte der Deutschen“. In diesem Werk nimmt sich der Autor nicht weniger als zweitausend Jahre Geschichte der Liebesbeziehungen in Deutschland an.
Iny hatte diese Aussage schon als junge Frau schockiert, und just zu der Zeit, in der wir uns schriftstellerisch neu orientierten, brachte sie in einem Gespräch mit Elmar die Frage auf, wie eine so wohlsituierte Stadt, die damals Bischofssitz eines bedeutenden Bistums gewesen ist, moralisch so hatte niedergehen können. Damals hatten wir gerade mit der „Kastratin“ begonnen und suchten zudem eine Kernidee für den nächsten Roman. Es entbrannte eine rege Diskussion, in der wir verschiedene Theorien entwarfen und schließlich zu dem Schluss kamen, dass wir schlicht zu wenige Fakten kannten. Wir beschlossen, der Sache vor Ort auf den Grund zu gehen.
Und so begaben wir uns zum ersten Mal gezielt auf eine Reise, um den Spuren einer zukünftigen Romanprotagonistin zu folgen. Zwar waren wir schon öfter am schönen Bodensee gewesen, aber noch nie in Konstanz. Es erschien uns wichtig, die Heimat unserer Heldin kennenzulernen, damit wir uns besser vorstellen konnten, wo und wie sie dort gelebt hat. Auch wollten wir durch ihre Erlebnisse in unserem Roman den Unterschied zwischen der Zeit vor dem Konzil und während dieses einschneidenden Ereignisses aufzeigen. Da war zum einen die wohlhabende, bigotte Stadt, in der jede Verfehlung streng geahndet wurde, und zum anderen die aus den Fugen geratene Stadt, wie Oswald von Wolkenstein sie beschrieben hatte.
Wir beluden unseren Wohnwagen, wählten im Campingführer einen zentral gelegenen Campingplatz aus und brachen auf. Von Anfang an fühlte sich die Fahrt anders an. Eine unerklärliche Anspannung hatte von uns Besitz ergriffen und war vermutlich mit schuld daran, dass Elmar die Abzweigung zum Campingplatz übersah und ein paar Kilometer weiter die zweifelhafte Freude hatte, mit unserem Wohnwagengespann wenden zu müssen. Wohnwagenbesitzer wissen, wovon die Rede ist ... Auf unseren Reisen haben wir schon mehrmals den Wohnwagen abhängen und mit bloßen Händen auf Achse drehen müssen – zumal wir uns in den ersten Jahren ja auch nur mit teilweise recht ungenauen Landkarten orientieren konnten, da es natürlich noch keine Navigationssysteme gab.
Der von uns ausgesuchte Platz lag in Birnau-Maurach und bot mit seiner Lage am See einen malerischen Blick. Ganz in der Nähe befand sich das Kloster Birnau, das wir am selben Tag noch zu Fuß aufsuchten. Als wir später wieder im Wohnwagen saßen, machten wir uns ans Pläneschmieden für die nächsten Tage. Wir wollten nicht nur Konstanz selbst aufsuchen, sondern auch das Umland erforschen.
Am nächsten Morgen wurden wir durch unmissverständliches Plätschern auf dem Wohnwagendach geweckt. Ein Blick durch das Fenster zeigte, dass Petrus seine Schleusen weit geöffnet hatte und es munter regnen ließ. Als Elmar auf Inys Bitte hin die Regenjacken aus dem Auto holen wollte, musste er feststellen, dass diese zu Hause vergessen worden waren. Es gibt wahrlich Schöneres, als auf einem Campingplatz bei einem kräftigen Landregen ohne Schirm oder schützende Jacke zu den Sanitärgebäuden und wieder zurück laufen zu müssen. So kam es, dass wir nicht sofort der damals noch namenlosen Marie nachspürten, sondern erst einmal zum Einkaufszentrum in Friedrichshafen fuhren, wo wir laut Aussage der Dame vom Campingplatz regendichte Kleidung bekommen würden.
Kaum waren die Jacken gekauft, fanden wir uns im dortigen Buchladen wieder, und die ersten Bücher über das Konzil gingen in unseren Besitz über, was sich als großer Vorteil erwies, denn wir entdeckten darin eine Vielzahl von Anhaltspunkten, was einer Besichtigung wert sei.
Weniger angenehm war das anhaltend miese Wetter. Und so ließen wir uns im Konstanzer Fremdenverkehrsamt zwar in einem Stadtplan die wichtigsten Gebäude markieren, steuerten jedoch rasch das nächste Café an, um uns aufzuwärmen und ein wenig trocknen zu können. Ein Schirm ist für uns keine brauchbare Option, denn wegen ihrer Gehhilfen kann Iny keinen tragen, und wir können auch nicht nahe genug nebeneinander gehen, als dass ein Schirm uns beide vor Regen geschützt hätte. Nicht nur deshalb trauerten wir den in München gebliebenen regendichten Hosen nach, die uns zumindest trockene Beine beschert hätten. Trotzdem wagten wir uns wieder ins kühle Nass hinaus. Als wir durchgefroren vor dem im Regen düster wirkenden Konzilsgebäude standen, in Konstanz zu „Konzil“ abgekürzt, hätten wir uns niemals träumen lassen, dass darin im Jahr 2014 anlässlich des sechshundertsten Jahrestags des Konzils auch unsere „Wanderhure“ ausgestellt werden würde ...
Anschließend gingen wir noch bis zum Pulverturm weiter, beschlossen dort aber, es erst einmal gut sein zu lassen und in den nächsten Tagen noch einmal nach Konstanz zu fahren.
Auf dem Weg zu unserem Auto kamen wir an einer Buchhandlung vorbei. Nun...