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Die Zeit ist ein Augenblick

Erinnerungen

AutorGabriele Henkel
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641224974
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die bewegenden Memoiren der Society-Ikone
Gerade einmal 16 Jahre alt ist Gabriele, als ihre Eltern sie nach London schicken, ohne einen Pfennig in der Tasche. Allein schlägt sie sich in der fremden Stadt durch, lernt Englisch und wird Journalistin - bis sie 1955 in die Industriellen-Dynastie Henkel einheiratet. Von da an gehört Gabriele Henkel zum internationalen Jetset: Als Sammlerin erobert sie die Welt der Kunst im Sturm, in ihrem eleganten Heim an der Düsseldorfer Chamissostraße veranstaltet sie legendäre Abendgesellschaften, bei denen sich Gäste wie Hildegard Knef und Helmut Schmidt die Klinke in die Hand geben. Ihre Erinnerungen erzählen von einem Leben voll Liebe, Kunst und Glamour - und von einer mutigen Frau, die immer ihren eigenen Weg ging.

Gabriele Henkel, geborene Hünermann, begann zunächst als Journalistin in London und Bonn, bis sie 1955 Konrad Henkel heiratete, den späteren Chef des Henkel-Konzerns. Eine weltweit anerkannte Kunstsammlerin, saß sie ab 1972 im Internationalen Beirat des Museum of Modern Art (MoMA) in New York. Als Künstlerin trat sie mit phantastischen Raum-Installationen hervor, als Publizistin schrieb sie für internationale Medien. 1990 wurde sie Honorar-Professorin für Kommunikationsdesign an der Universität Wuppertal.

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Leseprobe

Ein kleines Mädchen steht vor seinem Elternhaus an der Reichsstraße 51 in Düsseldorf und sammelt begeistert Bombensplitter.

Das war ich.

Der Bombenkrieg, der 1940 über das Rheinland niederging, kam mir zunächst wie ein Schauspiel vor. Ein harmloses Feuerwerk. Wir warfen nachts mit Asbesthandschuhen Stabbrandbomben von unserem Speicher in den Garten. Wir, das waren Walter und Theo, meine Brüder, Hete, meine Schwester, und ich.

Unser Vater meinte: »Die englischen Verwandten werden uns schon nichts antun.« Wir glaubten ihm. Die Bomben der Royal Air Force schlugen rings um unser Haus ein, und anfänglich war am Wochenende sogar Ruhepause. Die Bemerkung meines Vaters war sarkastisch gemeint, aber nicht aus der Luft gegriffen: Seine Mutter war Engländerin. Als junger Mann hatte er einmal, noch vor dem Ersten Weltkrieg, mit zwanzig Goldmark ausgestattet, den Familienzweig in England besucht. Sie waren erfolgreiche Geschäftsleute, Import und Export. Die Firma Hiltermann Brothers in Manchester kaufte Seide und Baumwolle in Indien.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war er zwanzig. Er war ein junger Medizinstudent, der am Russlandfeldzug teilnahm, an der Front und in den Lazaretten, wo er bereits chirurgisch arbeitete. Dann landete er selber im Krankenbett, mit einer schweren Darmerkrankung, monatelang hing sein Leben an einem seidenen Faden.

Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war er fünfundvierzig. Aus dem Medizinstudent war ein Mediziner geworden, der angesehene Professor Dr. Theodor Hünermann, Facharzt für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde in Düsseldorf, verheiratet mit meiner Mutter Hete und Vater von vier Kindern. Eines Tages klingelte Generalfeldmarschall Kesselring an der Tür: »Hünermann, wir brauchen Sie.« So verließ unser Vater, bekennender Gegner des Regimes, unser Zuhause und operierte an allen Frontabschnitten, leitete Lazarette in Frankreich, Belgien, Berlin und an der Ostfront.

Doch nein, die »englischen Verwandten« verschonten uns nicht. Bombenhagel Tag und Nacht, und schließlich traf er auch unser Haus mit der schönen klassizistischen Fassade und die verwaiste Praxis meines Vaters. Als sie in Flammen aufging, marschierte ich nachts in meinen Schnürstiefeln zur Sternstraße, schleppte all die Instrumente, Akten und Patientenkarteien aus dem Sprechzimmer, bis ein brennender Balken auf meinen Fuß fiel. Ich musste sofort ins Krankenhaus. Später erhielt ich das Verwundetenabzeichen Dritter Klasse. Ich war das einzige Kind mit einem Orden, doch getragen habe ich ihn nicht. Abzeichen mit Hakenkreuz? Enä, wie wir Rheinländer sagen.

Das Nazi-Regime wurde bei uns daheim verabscheut. Mein Vater hat schon früh, 1932, die Gefahr erkannt, nachdem er einen Vortrag von Hitler im Industrieclub gehört hatte. Die Suada über das Tausendjährige Reich entsetzte ihn, Hitler war in seinen Augen ein Psychopath, drauf und dran, ganz Europa ins Elend zu stürzen. Aus dieser Einschätzung hat er nie ein Hehl gemacht, auch nicht, als das bedeutete: aus der Traum vom Lehrstuhl an einer Universität. Er eröffnete eine Praxis. Und nun musste er für diesen Psychopathen an der Front kämpfen.

Düsseldorf lag in Schutt und Asche. Unser wunderschönes Elternhaus – zerstört, mehr oder minder. Der Anblick war grauenvoll. Nichts war mehr übrig von den stattlichen Räumen, vom Salon mit den Barockmöbeln und den alten Gemälden, vom Rauchzimmer mit den Stichen aus dem 18. Jahrhundert, vom Hausflur mit dem schwarz-weißen Marmorboden. Keine Spur mehr von der Garderobe. Unser Vater hatte die merkwürdige Angewohnheit, uns Kinder in Rucksäcke zu stecken und an der Garderobe aufzuhängen, wenn Besuch kam. Wo waren die Akazienbäume, die im Juni so zauberhaft blühten? Ein Duft, der meine Mutter immer an ihre Hochzeit in Koblenz erinnerte.

Wie oft hatte ich vor »Tizians Tochter Lavinia« gesessen, einem Öldruck, der im Esszimmer über der Anrichte hing: eine junge Frau, prächtig gewandet, und in ihren Händen lag verführerisch eine Früchteschale, als brächte sie die Köstlichkeiten nicht dem Vater, sondern einem Liebhaber. Tizian bezauberte mich, entführte mich in meinen Träumen nach Venedig, wo ich noch nie gewesen war, aber das Bild beflügelte meine Fantasie. Ich hörte die Glocken des Markusdoms läuten, und in der Basilika ertönten die Chöre von Palestrina und Monteverdi. Eine neue, unbekannte Welt ging für mich auf beim Anblick des Gemäldes. Wahrscheinlich war es die erste Erfahrung mit der Wunderkraft der Kunst, die mich ein Leben lang fesseln sollte.

Auch das Gemälde wurde unter den Trümmern begraben. Die Bomben rissen mich jäh aus dem Paradies der sorglosen, verträumten Kindheit, in der meine kleine Schwester Hete, einem zauberhaften Tiepolo-Engel gleich, und ich im Garten herumtollten. Früher. Auf einmal gab es ein Früher, ein Kapitel, das unwiederbringlich abgeschlossen war. Und das in so jungen Jahren.

Kein Zuhause mehr, kein Vater in unserem Leben, keine Ahnung, wie es mit uns weitergehen sollte. Was nun? Das war die bange Frage meiner Mutter, die mit vier Kindern auf sich selbst gestellt war. Zunächst kamen wir bei Tante Änne unter, in der Cecilienallee. Ihr Haus stand noch. Bald zogen wir weiter, nach Hinterzarten im Schwarzwald, wo vom Krieg noch nicht viel zu spüren war. Wir wohnten im Feldberger Hof, zu Tisch saßen wir in der Johann-Peter-Hebel-Stube, dort ruhte auf uns der gütige Blick des Besitzers, Vater Schladerer, der sozusagen unser Ersatzvater war.

Zum schönen Titisee war es nicht weit, nur fünf Kilometer; wir liefen entweder zu Fuß oder nahmen den Zug, der von Freiburg im Breisgau durch das Höllental hochkam und im Dorf haltmachte. Ein Hauch von Frieden und Geborgenheit umhüllte uns den Sommer über. Endlich auch wieder Kultur: erste Klavierstunden bei Edith Picht-Axenfeld.

Im Winter lernten wir Skilaufen und bauten Sprungschanzen. Meine Höchstleistung: neun Meter, »gestanden«. Es dauerte nicht lange, da schaffte ich es schon auf den Feldberg, erst mit dem Schlepplift auf den Seebuck, danach mit Fellen weiter hinauf, und dann: im Schuss hinunter ins Tal. Herrlich!

Der Kommunionunterricht fand in einem nahe gelegenen Kloster statt. Auch dorthin fuhr ich auf Skiern, quer durch die Tannenwäldchen. Der Pater, der mich unterrichtete, zog mich in seinen Bann, faszinierend in seiner tiefen Gläubigkeit, die mich vorbildlich auf den Tag meiner Erstkommunion einstimmte. Am Weißen Sonntag war ich das einzige Kind in der Kommunionbank, sprach ehrfürchtig die lateinische Liturgie des Hochamtes. Meine Brüder durften ministrieren, darum beneidete ich sie; ich durfte einzig die Kirchenglocke läuten. Da fühlte ich mich dem Himmel näher als der Erde.

Im Jahr darauf folgte die nächste Station: Koblenz. Meine Mutter war in Koblenz aufgewachsen, die Eltern meines Vaters hatten in Koblenz ihre letzten Jahre verbracht. Deshalb schien die vertraute Residenz- und Garnisonsstadt der ideale Fluchtort zu sein. Dies war die Rückkehr an den Ort, wo die Liebesgeschichte meiner Eltern begonnen hatte, gekrönt von der Verlobung im Kloster Maria Laach, ganz in der Nähe, zu der die beiden mit dem Motorrad angefahren kamen, er am Steuer, sie im Beiwagen.

Auch mir war Koblenz vertraut von so manchem Besuch bei den Großeltern. Opa Hünermann war Mediziner wie mein Vater, und zwar ein bedeutender: seine Exzellenz Obergeneralarzt Dr. Rudolf Hünermann. Ein imposanter, ernster Mann, der streng dreinblickte. Er hatte bei dem berühmten Pathologen und Bakteriologen Rudolf Virchow in Berlin promoviert. Den Ruhestand verbrachte er in einem Haus in der Bismarckstraße. Das Treppenhaus war dunkel getäfelt. Die Stufen knarrten. Die Toilettenschüssel war mit Blumen bemalt. Dass die Blumen von der Spülung regelmäßig begossen wurden, beruhigte mich.

Ganz anders ging es im Haus von Opa Devin zu. Der Vater meiner Mutter war Richter und Amtsgerichtsrat. Er entstammte einer alten, im 19. Jahrhundert nach Preußen geflohenen Hugenottenfamilie namens De Vin, die sich in »Devin« umbenannte. Opa Devin fühlte sich seinem Namen verpflichtet. Er leerte jeden Abend mehrere Flaschen »Möselchen« aus eigenen Weinfässern im Keller und kommentierte das mit den Worten: »Ich habe nie mehr getrunken, als mit aller Gewalt hineinging.« Das Elternhaus meiner Mutter war eine prächtige Villa direkt am Rhein, auf der Insel Oberwerth, ein Anwesen mit Park, Rosenpavillon, Blumen-, Obst- und Gemüsegärten.

Dieses Bild also hatten wir vor Augen auf dem Weg nach Koblenz. Heimkehr. Geborgenheit. Unterschlupf in dem Haus, das der Familie schon seit drei Generationen gehörte. Aber es kam anders.

In dem einstigen Haus der Herrlichkeit hatte sich inzwischen der Nazi-Oberbürgermeister mit seiner Familie breitgemacht. In der Beletage lagen der Völkische Beobachter und Der Stürmer aus. Wir mussten mit dem Souterrain vorliebnehmen. Ab und zu kam der Milchmann mit dem Pferdewagen vorbei und versorgte uns mit dem Nötigsten.

Um ein Haar wäre ich in Koblenz ums Leben gekommen. Eine Hausangestellte hatte das Bedürfnis, mich »aufzuklären«, und sie umschrieb es nicht poetisch mit Bienchen und Blümchen, sondern so: Männer hätten einen Aal in der Hose, und der sei auf der Suche nach einer geeigneten Höhle, um hineinzuschlüpfen. Ich war angewidert. Was für eine ekelhafte Vorstellung. Um das Bild so schnell wie möglich zu verdrängen, stürzte ich mich in den Rhein. Wohlgemerkt: Ich war neun Jahre alt und hatte noch nicht einmal den »Freischwimmer«! Wie reißend die Strömung war, merkte ich erst, als ich in den Strudeln zwischen den Brückenpfeilern nach Luft schnappte. Zum...

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