Erster Teil
Die Vierte Industrielle Revolution
Kapitel 1 |
Ein Deutungsraster für die Vierte Industrielle Revolution
Die Vorstellung, dass die Welt in eine neue Phase des disruptiven Wandels eintritt, gehört zu den meistdiskutierten Themen in Vorstandsetagen und Parlamenten weltweit. Das vorliegende Kapitel stellt die zentralen Konzepte der Vierten Industriellen Revolution vor, ermittelt drei wesentliche Herausforderungen, die gemeinsam bewältigt werden müssen, und macht vier Grundsätze deutlich, auf die sich Bürger und Führungskräfte bei der Lenkung und Gestaltung neuer Technologien und Systeme in ihrer Entstehungsphase stützen können.
Ein Denkmodell für die Gestaltung der Zukunft
Der Begriff Vierte Industrielle Revolution beschreibt die laufenden und anstehenden Transformationen in den uns umgebenden Systemen, die die meisten von uns im Alltag für selbstverständlich nehmen. Was sich für all jene, die tagtäglich eine Abfolge kleiner, aber dennoch maßgeblicher Modifikationen erleben, nicht besonders bedeutsam anfühlen mag, ist alles andere als eine geringfügige Veränderung: Die Vierte Industrielle Revolution ist ein neues Kapitel der menschlichen Entwicklung und steht auf einer Stufe mit der Ersten, Zweiten und Dritten Industriellen Revolution. Auch sie wird von der zunehmenden Verfügbarkeit und Interaktion bestimmter außergewöhnlicher Technologien getrieben.
Die aufkommenden Technologien, die der Vierten Industriellen Revolution zugrunde liegen, bauen auf dem Wissen und den Systemen vorausgegangener industrieller Revolutionen auf, insbesondere auf den digitalen Möglichkeiten der Dritten Industriellen Revolution. Dazu gehören die zwölf Technologie-Cluster, die im zweiten Teil dieses Buches erörtert werden, wie zum Beispiel Künstliche Intelligenz (KI) und Robotik, additive Fertigung, Neurotechnologien, Biotechnologien, virtuelle und erweiterte Realität, neue Werkstoffe, Energietechnologien sowie Ideen und Möglichkeiten, von deren Existenz wir heute noch nichts ahnen.
Die Vierte Industrielle Revolution ist aber weit mehr als nur eine Beschreibung des technologiegetriebenen Wandels. In erster Linie ist sie eine Chance zur Gestaltung einer Reihe öffentlicher Diskurse, die uns allen – von führenden Technologen und Politikern bis hin zu Bürgern aller Einkommensgruppen, Nationalitäten und Provenienzen – verständlicher machen können, wie die machtvollen aufkommenden und konvergierenden Technologien unsere Umwelt beeinflussen und wie wir diese Entwicklung steuern können.
Dazu muss sich aber verändern, wie wir die einflussreichen neuen Technologien, die unsere Welt prägen, betrachten und diskutieren. Wir dürfen uns Technologie nicht als durch und durch exogene Kraft vorstellen, die unweigerlich unsere Zukunft bestimmt. Wir können Technologie aber auch nicht gegenbildlich schlicht als Werkzeug begreifen, das wir Menschen nach Gutdünken verwenden können.
Stattdessen müssen wir besser verstehen, wie sich die neuen Technologien miteinander vernetzen und uns auf subtile oder offensichtliche Weise beeinflussen, indem sie menschliche Werte widerspiegeln und verstärken, wenn wir Entscheidungen über Investitionen, Design, Einführung und Neuerfindung treffen. Ohne klare Vorstellungen von den Interaktionen zwischen Menschen und Technologien ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, gemeinsam an Investitionen, Methoden und kollektiven Maßnahmen zu arbeiten, die sich positiv auf die Zukunft auswirken.
Die große Chance der Vierten Industriellen Revolution liegt daher darin, in Technologien mehr zu sehen als bloße Werkzeuge oder unvermeidliche Einflussfaktoren und Wege zu finden, so viele Menschen wie möglich in die Lage zu versetzen, in ihren Familien, Organisationen und Gemeinschaften Positives zu bewirken, indem sie die Systeme beeinflussen und steuern, die uns umgeben und unser Leben prägen.
Mit Systemen meinen wir die Normen, Regelungen, Erwartungen, Ziele, Institutionen und Anreize, an denen sich im Alltag unser Verhalten orientiert, aber auch die Infrastruktur und die Material- und Menschenströme, die unserem wirtschaftlichen, politischen und sozialen Leben zugrunde liegen. Kollektiv beeinflussen sie, wie wir uns um unsere Gesundheit kümmern, Entscheidungen treffen, Waren und Dienstleistungen produzieren und konsumieren, arbeiten, kommunizieren, miteinander umgehen und uns fortbewegen – bis dahin, was es in unseren Augen bedeutet, ein Mensch zu sein. Wie bereits in der Geschichte vergangener industrieller Revolutionen werden sich im Zuge der Vierten Industriellen Revolution all diese Dinge grundlegend verändern – und viele andere mehr.
Industrielle Revolutionen, Wachstum und Chancen
In den vergangenen 250 Jahren und über drei industrielle Revolutionen hinweg haben sich die Wertschöpfung durch den Menschen und die ganze Welt gewandelt. In jedem Fall haben sich Technologien, politische Systeme und gesellschaftliche Institutionen parallel weiterentwickelt und nicht nur Industrien verändert, sondern auch das Selbstbild der Menschen, ihre Beziehungen zueinander und ihre Interaktionen mit der Natur.
Die Erste Industrielle Revolution setzte Mitte des 18. Jahrhunderts in der britischen Textilindustrie ein. Ausgelöst wurde sie von der Mechanisierung des Spinnens und Webens. In den folgenden hundert Jahren veränderte sie alle bestehenden Industriezweige und ließ viele neue entstehen, von Werkzeugmaschinen bis zur Stahlproduktion, der Dampfmaschine und der Eisenbahn. Neue Technologien führten zu Veränderungen in der Zusammenarbeit und im Wettbewerb, und diese wiederum schufen ganz neue Systeme für die Erzeugung, den Austausch und die Verteilung von Wert. Sektoren von der Landwirtschaft bis hin zum produzierenden Gewerbe, von der Kommunikation bis zum Transport wurden auf den Kopf gestellt. Tatsächlich ist der Sinn, in dem wir das Wort »industriell« heute verwenden, zu eng definiert, um die gesamte Tragweite der Revolution zu erfassen. Besser formuliert haben das womöglich mit Thomas Carlyle und John Stuart Mill zwei Denker des 19. Jahrhunderts, die mit »Industrie« alles bezeichneten, was aus menschlicher Anstrengung hervorging.
Die Erste Industrielle Revolution förderte zwar den Kolonialismus und trug zur Schädigung der Umwelt bei, machte die Welt aber fraglos reicher. Vor 1750 verzeichneten sogar die wohlhabendsten Länder – Großbritannien, Frankreich, Preußen, die Niederlande, die nordamerikanischen Kolonien – im Schnitt nur 0,2 Prozent Wachstum pro Jahr, und selbst dieser niedrige Wert war starken Schwankungen unterworfen. Die Ungleichheit war damals stärker ausgeprägt, und die Pro-Kopf-Einkommen lagen auf einem Niveau, das heute als extreme Armut gewertet würde. 1850 waren die Wachstumsraten in diesen Ländern dank der Auswirkungen von Technologien auf 2 bis 3 Prozent pro Jahr angestiegen, und die Pro-Kopf-Einkommen nahmen stetig zu.1
Von 1870 bis 1930 beflügelte eine neue Welle miteinander verzahnter Technologien das Wachstum und die Chancen der Ersten Industriellen Revolution. Radio, Telefon, Fernsehen, Haushaltsgeräte und elektrisches Licht waren Indizien für die transformative Kraft der Elektrizität. Der Explosionsmotor machte das Automobil, das Flugzeug und damit letztlich die zugehörigen Ökosysteme möglich – inklusive Arbeitsplätze in der Fertigung und Autobahnnetze. Es gab auch Durchbrüche in der Chemie: Sie brachten der Welt neue Werkstoffe wie duroplastische Kunststoffe und neue Verfahren – etwa das Haber-Bosch-Verfahren zur Synthese von Ammoniak, das den Weg für billige Stickstoffdüngemittel ebnete sowie für die »grüne Revolution« der 1950er-Jahre und die anschließende Spitze der Bevölkerungszahlen.2 Von sanitären Einrichtungen bis zum internationalen Flugverkehr – die Zweite Industrielle Revolution läutete die Moderne ein.
Um 1950 gelangen revolutionäre Durchbrüche in der Informationstheorie und der digitalen Datenverarbeitung – den Technologien, die das Herzstück der Dritten Industriellen Revolution bildeten. Wie die vorausgegangenen Perioden war auch die Dritte Industrielle Revolution nicht der Existenz digitaler Technologien als solcher zuzuschreiben, sondern der Art und Weise, wie diese die Struktur unserer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme veränderten. Die Möglichkeit, Informationen in digitaler Form zu speichern, zu verarbeiten und zu übertragen, sorgte für Umwälzungen in fast allen Branchen und für drastische Veränderungen des Arbeits- und Soziallebens von Milliarden Menschen. Die kumulativen Auswirkungen dieser drei industriellen Revolutionen haben Wohlstand und Chancen enorm gesteigert – zumindest für die Menschen in Industrieländern.
In den OECD-Ländern, in denen rund ein Sechstel der Weltbevölkerung lebt, ist das Pro-Kopf-Einkommen heute 30- bis 100-mal höher als 1800.3 Abbildung 1 beruht auf Daten des UN-Index der menschlichen Entwicklung für OECD-Länder und Einschätzungen zum Beitrag verschiedener Technologien zu Wachstum, Gesundheit und Bildung und soll illustrieren, inwieweit die verschiedenen auf die Erste Industrielle Revolution folgenden industriellen Revolutionen eine laufende Steigerung der Lebensqualität befördert haben.
Abbildung 1 dient ausschließlich der Veranschaulichung und basiert auf einer groben Schätzung des Beitrags vorherrschender Technologien, Industrien und institutioneller Entwicklungen zu Messgrößen für die menschliche Entwicklung seit 1750.4 Die Abbildung belegt, dass selbst in Ländern nahe der Technologiegrenze der Löwenanteil der...