I Die Alcis-Zwillinge in der germanischen Überlieferung
In den Mythen der Indogermanen gibt es zwei (Zwillings-)Brüder, die sowohl die Gestalt von Jünglingen als auch die Gestalt von Hengsten haben können. Diese beiden Brüder ziehen als Rosse den Streitwagen des Sonnengott-Göttervaters, der ihr Vater ist, über den Himmel.
Diese beiden Jünglinge erscheinen auch in der Mythologie der Germanen.
1. Die Hirsch-Zwillinge
Die Alcis-Zwillinge treten in den Mythen der Germanen sowohl als zwei Rosse als auch als zwei Hirsche auf.
1. a) Tacitus
Um 100 n.Chr. berichtet der römische Historiker Tacitus, daß die Germanen zwei Brüder verehren, die von ihnen „Alcis“ genannt werden. Dieses Wort bedeutet „Elch, Hirsch“. Anscheinend sind die beiden Pferde-Brüder zumindestens bei einigen Germanenstämmen zu Hirschen geworden.
Bei den Nahanarvalern zeigt man einen Hain, der eine uralte Kultstätte ist. Ihr Vorsteher ist ein Priester in weiblicher Tracht.
Die Gottheiten, so wird berichtet, könnte man nach römischer Auslegung Kastor und Pollux nennen, denn sie entsprechen ihnen in ihrem Wesen.
Sie heißen Alken.
Es gibt keine Bildnisse von ihnen und keine Spur weist auf einen fremden Ursprung des Kultes.
Man verehrt sie als Brüder und Jünglinge.
Tacitus vergleicht die Alcis ausdrücklich den römischen Pferdezwillingen Kastor und Pollux.
Der Priester in Frauentracht ist recht ungewöhnlich – vielleicht sind einfach die langen Gewänder der germanischen Priester gemeint, die sowohl um 1000 v.Chr. im Hügelgrab von Kivik als auch um 1000 n.Chr. auf einigen Runensteinen dargestellt worden sind.
Es wäre auch denkbar, daß mit „Frauentracht“ lange Haare gemeint sind. Die „Haddinge“, die auf den ehemaligen Sonnengott-Göttervater Tyr, also auf den Vater der Pferdezwillinge zurückgehen, haben ihrem Namen zufolge lange Haare gehabt. Der Begriff des Tacitus, der hier mit „Frauentracht“ übersetzt ist, lautet jedoch „muliebri ornatu“, womit „weibliche Ausstattung, weiblicher Schmuck“ und nicht die Haartracht gemeint ist.
1. b) Brakteaten
Brakteat Skrydstrup in Jütland, Nord-Dänemark
Die Brakteaten waren Amulette der Germanen, die aus dünnem Goldblech geprägt wurden.
Auf einem von ihnen ist vermutlich sich der Göttervater Tyr dargestellt worden.
Links von ihm ist evtl. der Fenris-Wolf zu sehen, der ihm die Hand abbeißt.
Rechts über ihm ist Tyrs Adler-Seelenvogel abgebildet.
Rechts unten ist ein Hirsch zu sehen, der somit ein wichtiger Bestanteil der damaligen Mythen des Tyr gewesen sein muß. Er könnte für die beiden Alcis oder für Tyr selber stehen.
Die Runen sind lediglich allgemeine Zauberformel – links ist „ALU“ zu sehen.
1. c) Die Fibeln von Nordendorf
In Nordendorf bei Augsburg wurden in einem Gräberfeld der Alemannen zwei Bügelfibeln gefunden, die von ca. 650 n.Chr. stammen und in deren Unterseite Runen eingraviert worden sind. Auf der einen der beiden Fibeln sind auf der Unterseite in Runenschrift die Worte „birln io elk“ eingraviert worden.
In dieser Inschrift fehlt ein Buchstabe: „birl(i)n io elk“. Sie bedeutet „Bär und Elch/Hirsch“.
Das schmalen Ende dieser Fibel ist dazu passend als Tierkopf geformt worden – es scheint allerdings der Bär und nicht der Hirsch zu sein.
Der Bär ist vermutlich die Stärke, die dem Träger dieser Fibel verliehen werden sollte. Der Hirsch wird demnach ebenfalls ein Tier sein, das eine wertvolle Qualität repräsentierte.
Da der Bär mit dem Schamanengott Odin, der damals gerade der neue Göttervater der Germanen geworden war, mit dem Bären assoziiert wurde, könnte sich auch der Hirsch auf den Göttervater beziehen. Dies würde für eine Kontinuität des Motives sowohl des Göttervaters als Hirsch als auch der beiden Göttervater-Söhne als zwei Elche/Hirsche sprechen.
Der Bär wäre dann die Kraft des Göttervaters und die beiden Hirsche (bzw. in der Fibel-Inschrift der eine Hirsch) der Lauf der Sonne und somit des Sonnengott-Göttervaters selber. Möglicherweise ist der Hirsch als eine Art Bote oder Bote des Göttervaters angesehen worden.
Es könnte sein, daß die Zweizahl der „Alcis“ auf die Einzahl von „elk“ reduziert worden ist, weil Odin im Gegensatz zu Tyr kein Streitwagenfahrer, sondern ein Reiter war.
Diese Deutung sind jedoch alle recht fraglich – lediglich die Wichtigkeit des Hirsches im Zusammenhang mit dem Göttervater Tyr/Odin ist sicher.
1. d) Sonnenlied
In diesem Lied aus der Lieder-Edda findet sich eine Strophe, die sich auf einen Hirsch bezieht:
Den Sonnenhirsch sah ich von Süden kommen,
Von Zweien am Zaum geleitet;
Auf dem Felde standen seine Füße,
Die Hörner hob er zum Himmel.
Im Süden befand sich die Goldene Halle des Göttervaters Tyr, zu dem der Hirsch demnach gehören wird.
Das Leiten des Hirsches an einem Zaumzeug zeigt, daß es sich um einen zahmen Hirsch handelt. Von den Kelten in Mitteleuropa ist bekannt, daß sie manchmal ihre Zeremonial-Wagen in ihren Prozessionen von zahmen Hirschen ziehen ließen. Auch der Hirsch aus dem Sonnenlied könnte solch ein „Prozessions-Hirsch“ oder „Ritual-Hirsch“ sein, der wahrscheinlich mit dem ehemaligen Sonnengott-Göttervater Tyr assoziiert worden ist, da er explizit als „Sonnenhirsch“ bezeichnet worden ist.
Als Sonnenhirsch könnte er auch ein Alcis sein. Man sollte eigentlich ein Hirsch-Paar erwarten, aber auch der Sonnenwagen wird manchmal nur von einem Roß gezogen. Der Hirsch könnte jedoch auch Tyr selber sein.
1. e) Hrolf Kraki und seine Berserker
In dieser Saga kommt ein Elch-Mann vor, der den Unterleib eines Elches und den Oberkörper eines Mannes hat.
Im folgenden sind nur die Textstellen dieser Saga aufgeführt, in denen etwas über Elch-Frodi ausgesagt wird.
Elch-Frodi ist einer von drei Brüdern. Der Vater der drei Brüder hat vor seinem Tod die Namen seiner Söhne festgelegt:
„Derjenige unserer Söhne, der zuerst herauskommen wird, soll 'Elch-Frodi' genannt werden.“
Drei Brüder, die zudem noch Drillinge sind und deren Vater vor deren Geburt gestorben ist, sind recht sicher durch die drei Söhne des Göttervaters Tyr inspiriert worden, die die drei Stände darstellen. Da alle drei Brüder kriegerisch sind, läßt sich ihre Zuordnung zu den drei Ständen jedoch nicht mehr rekonstruieren.
Der Name „Frodi“ ist eng mit dem Namen des Gottes Freyr verwandt, sodaß es sein könnte, daß Elch-Frodi eine Saga-Variante dieses Gottes ist. Dazu würde auch passen, daß die Zeugungskraft des Freyr oft durch seinen großen Penis betont wird und der Hirsch vor allem ein Symbol für die im Jenseits bei der Wiederzeugung benötigte Zeugungskraft ist. Der Elch wäre dann ein Alternativ-Motiv zu dem Keiler, der ansonsten die Gestalt des Freyr ist – der Keiler ist in den meisten Texten jedoch schon zu Freyrs Reittier umgedeutet worden.
Kurz darauf begannen ihre Wehen und sie gebar einen Jungen – allerdings einen, der ein wenig seltsam war. Er war oberhalb seines Nabels menschlich, aber unterhalb ein Elch. Er erhielt den Namen 'Elch-Frodi'.
Im Bestattungsritual wurde der Tote mit dem Herdentier, das für ihn geopfert worden war, identifiziert, wodurch dessen Zeugungskraft auf ihn übertragen wurde. Auf dieses Motiv weisen u.a. die Pferd-Mensch-Mischgestalten auf den Goldhörnern von Gallehus hin.
Frodis zweiter Bruder Thorir hatte Hundefüße. Sein dritter Bruder Bodvar hatte eine rein menschliche Gestalt. Elch-Frodi und seine beiden Brüder wurden stärker als alle anderen Menschen.
Die Mutter der drei Brüder führte sie zu einer Höhle, in der ihr Vater ihnen drei Waffen hinterlassen hatte. Elch-Frodi konnte das Schwert und die Axt nicht aus dem Stein ziehen, aber den Dolch. Dieser Dolch schnitt sogar Stein.
Elch-Frodi half seinem Bruder Thorir durch seinen Rat, König des Gotenlandes zu werden.
Elch-Frodi errichtete sich eine Halle. Dort fand ihn sein Bruder Bodvar. Bevor sie sich trennten, wurde deutlich, daß Elch-Frodi auch etwas von Magie versteht:
Danach stampfte Elch-Frodi mit seinem Huf auf den Felsen neben ihm und sank bis zu der Afterklaue ein.
Da sprach Frodi: „Ich werde jeden Tag zu diesem Hufabdruck kommen und schauen, was ich in dem Abdruck sehe. Wenn Erde in ihm ist, wirst Du an einer Krankheit gestorben sein, wenn es Wasser ist, wirst Du...