Einleitung
Die frühen Menschen waren so gut wie nie allein. Ihre Wahrnehmungs- und Gefühlsweise, ihre Sitten und Gewohnheiten bildeten sie gemeinschaftlich aus. Bei fast allem, was sie taten oder erlitten, waren sie von Stammesgenossen umgeben, mit denen sie sich direkt und unkompliziert durch Gesten und vor allem durch Laute verständigten. Die archaische Stammeswelt war akustisch dominiert. Eines Tages aber wurde eine Erfindung gemacht, die zur Auflösung der Stammesverbände führte: die Schrift. Sie erweiterte zwar den Wirkungskreis der Sprache. Texte sind auch dort lesbar, wo man ihren Autor nicht sprechen hört. Aber in Ruhe schreiben und lesen kann jeder nur für sich. Schrift isoliert die Menschen gegeneinander und richtet sich ausschließlich ans Auge. Alphabet und Buchdruck haben dafür gesorgt, daß die optische Wahrnehmung sich von der akustischen abspaltete und allmählich die Herrschaft über das ganze Sensorium antrat.
Doch die Epoche der Schrift geht zu Ende. Telekommunikation und Television haben das Zeitalter einer neuen Gemeinschaftlichkeit eröffnet. Sie potenzieren nicht nur die Reichweite einzelner Organleistungen – wie Fernrohre das Sehen oder Räder das Laufen. Sie dimensionieren den ganzen menschlichen Organismus neu. Sie haben nämlich «das Zentralnervensystem zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet und damit, soweit es unseren Planeten betrifft, Raum und Zeit aufgehoben». Dank ihrer verbindenden Kraft kann man sich nun auf höchstem Kulturniveau und über den ganzen Globus hinweg wieder so direkt und unkompliziert verständigen wie einst im Stammesverband der Frühzeit. «Die Familie der Menschheit wird wieder zu einem großen Stamm.»[1]
So legte sich in den 1960er Jahren der Medientheoretiker Marshall McLuhan den Gang der Menschheitsgeschichte zurecht – ultramodern, und doch ganz im Trott jenes altehrwürdigen Drei-Phasen-Schemas, das die biblische Tradition tief ins abendländische Denken eingesenkt hat: Es war einmal ein guter Urzustand naturwüchsiger Zusammengehörigkeit (Paradies); dann wurde er durch abweichendes Verhalten verspielt (Sündenfall); doch auf höherem Niveau, angereichert durch alle zivilisatorischen Errungenschaften, die die ausgedehnte Epoche der Trennung mit sich gebracht hat, wird er demnächst wiederhergestellt werden (Rettung). Dies Drei-Phasen-Schema ist derart elementar, daß selbst die beiden radikalsten Kritiker des christlichen Europas im 19. Jahrhundert davon nicht ganz loskamen. Der «höhere» Kommunismus, auf den Karl Marx hinarbeitete, sollte, wie einst der «naturwüchsige» Kommunismus des primitiven Stammesverbands, ohne jedes Privateigentum an Produktionsmitteln funktionieren, aber selbstverständlich auf dem kulturellen Niveau, das in den Jahrtausenden der räuberischen privaten Aneignung gemeinschaftlichen Gutes durchaus erreicht worden war.[2] Der höhere Menschentypus, der Friedrich Nietzsche vorschwebte, sollte wieder so stark und souverän sein wie einst die raubtierhaften Frühmenschen, aber zugleich vollgesogen mit allem kulturellen Raffinement, das die lange Zeit der Dekadenz der Menschheit immerhin beschert hatte.[3] McLuhan bietet von dieser Denkfigur nur noch eine medientheoretische Flachversion: Wie die ursprüngliche Einmütigkeit der archaischen Stammesgesellschaften durch die Trennkraft der Schrift zersetzt worden sei, so werde die telekommunikative Bindekraft einen neuen, höheren Einklang herstellen und die ganze Menschheit «zu einem großen Stamm» machen.
Doch schon die Einteilung der Medien in verbindende und trennende ist schief. Alle Medien verbinden, seien sie nun Träger, Leitungen, Kanäle oder Frequenzen. Stets sind sie durch die Fähigkeit definiert, bestimmte Informationen – Schriftzeichen, Bilder, Töne oder sonstige Konfigurationen von Sinnesreizen – über beträchtliche Entfernungen hinweg zu transportieren. Daß das Medium Schrift die alten Stammesverbände aufgelöst habe, ist Unfug. Umgekehrt: Stammesverbände hatten sich längst zu größeren städtischen Gemeinwesen mit einem höfischen Machtapparat, vielen Untergebenen und Tributpflichtigen ausdifferenziert, als gegen Ende des vierten vorchristlichen Jahrtausends in Mesopotamien die ersten profanen Schrifttäfelchen aufkamen. Auf ihnen waren Bildzeichen für Naturalienmengen eingeritzt, die an den Königshof abzuliefern waren: soundsoviele Rinder, Scheffel Gerste, Krüge Bier etc. Diese Zeichen hatten Vertragscharakter. Sie hielten Abgesprochenes sichtbar fest, gewissermaßen auf tönernen Schuldscheinen, weil auf mündliche Vereinbarungen in Zeiten unübersichtlich anwachsender Gemeinwesen anscheinend nicht mehr genügend Verlaß war. Schriftzeichen sollten die locker gewordene Verbindlichkeit zwischen Tributpflichtigen und Herrschenden wieder festigen.[4]
Wie alle Medien verbinden, haben freilich auch alle etwas Trennendes. Schrift löst Worte von ihrer konkreten Sprechsituation ab und transportiert sie in erstarrter Form in andere Gegenden und Kontexte. Aber auch Ton- oder Bildsequenzen werden nur telekommunikativ übertragbar, indem sie von ihrem Entstehungsort abgelöst und, zerlegt in Impulse, durch Leitungen geschickt werden. Ihre Empfänger können sie nicht wahrnehmen, ohne ihrerseits von ihrer unmittelbaren Umgebung abgezogen zu werden. Schon das alte Telefon riß mit seinem penetranten Klingeln den Angerufenen aus seiner jeweiligen Beschäftigung heraus. Und noch das nahezu lautlose Anschalten eines Fernsehers oder Computerspiels, das Checken von E-Mails oder Facebook-Nachrichten hört nicht auf, unterbrechend auf alles zu wirken, was sonst gerade an Ort und Stelle geschieht.
Zwar erschien es in der Frühzeit des Telefons wie ein Wunder, ferne Stimmen durch eine Leitung als nah zu erleben. Und immer noch macht es staunen, daß Leute, die sich physisch in ganz verschiedenen Erdteilen befinden, per Skype konferieren können, als säßen sie im selben Raum. Faszinierend die Perspektive, nicht nur Konferenzen, sondern womöglich auch medizinische Operationen telekommunikativ durchzuführen. Tröstlich die Vorstellung, mit den Angehörigen auch auf der Reise oder der Flucht in Verbindung zu bleiben. Inspirierend die Aussicht, über Mobiltelefone in kürzester Zeit Massendemonstrationen organisieren und sie so lenken zu können, daß sie nicht sogleich in die Fallen von Polizei oder Militär tappen. Welch eine Ersparnis an Reisen, welch eine Bündelung von Kompetenzen, welch eine Trostspendung, Freundschaftspflege und Gemeinschaftsbildung ermöglicht doch mediale Verbindung! Allerdings nur, indem sie Leitungen für einzelne, voneinander isolierte Sinnesorgane legt und dabei punktuell raumzeitliche Ferne überbrückt. Die Nähe, die so entsteht, ist immer bloß eine sporadische, die sich ein- und ausschalten läßt, aber nicht jene umfassende der wechselseitigen Teilnahme und Einfühlung, die sich nur allmählich in längerem Zusammenleben und -erleben bildet und am dringendsten benötigt, was die neue Technologie am meisten einsparen will: Zeit.
So steht sich die Telekommunikation selbst im Weg. Sie verhindert, was sie verheißt: die Zusammenführung der «Familie der Menschheit» «zu einem großen Stamm». Das mochte der Teleromantiker McLuhan nicht wahrhaben. Dennoch hat er, wie ein blinder Seher, mit seiner Assoziation von Telekommunikation und Stammesgesellschaft einen Geistesblitz gezündet, dessen Relevanz erst allmählich wahrnehmbar wird – seit die große Medieneuphorie des 20. Jahrhunderts verdampft ist und die Mikroelektronik sich zum globalen Alltag ernüchtert hat. Seither ist klar: Die Menschheit wird nicht solidarischer und glücklicher durch Telekommunikation, aber die Telekommunikation wird ständig mächtiger durch die sie entwickelnden Menschen. Sie stiftet keine umfassende menschliche Nähe. Allenfalls trägt sie zu deren Erhaltung über räumliche Trennung hinweg bei. Desto mehr gewinnt sie das Ansehen eines unentrinnbaren Schicksals. Wer sie nicht nutzen möchte, ist verloren. Sie schließt die wenigen, die nicht mitmachen wollen, gnadenlos aus, weil sie darauf angelegt ist, alle einzuschließen.
«Inklusion» ist das Zauberwort. Niemand soll «zurückgelassen» werden. Prominent wurde dieser Gedanke durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Allen Menschen, so heißt es dort, auch denen mit schwersten körperlichen und geistigen Behinderungen, soll «die volle und wirksame Teilhabe [englisch: participation] an der Gesellschaft und Einbeziehung [englisch: inclusion] in die Gesellschaft»[5] zuteil werden. Das klingt unendlich barmherzig, heißt im Klartext aber: Auch die Versehrtesten und Behindertsten sollen vorbehaltlos an allem teilhaben, was die real existierende Gesellschaft ausmacht, auch an sämtlichen...