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E-Book

In Dingenskirchen

Geschichten vom Arsch der Welt

AutorPhilipp Mattheis
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783644451018
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
«Als ich zum ersten Mal im Fernsehen eine lila Kuh sah, wunderte ich mich. Im Gegensatz zu Stadtkindern, die so ein Tier noch nie gesehen hatte, wusste ich wohl, dass Kühe weiß-braun und nicht weiß-lila sind. Früh war mir klar: Milch kommt von der Kuh, und erst nachdem sie in der Kuh war, landet sie im Supermarkt. Stadtkinder, die anderer Meinung waren, lachte ich aus. Am Nachmittag trafen wir uns auf einer Wiese. Wir versteckten uns in Sträuchern, kletterten auf Bäume und robbten durch das noch hohe Gras. Samstagvormittag wuschen die Väter ihr Auto, am Nachmittag mähten sie den Rasen. Nie wäre einer von uns kleinen Dingenskirchnern auf den Gedanken gekommen, das Dorf könnte eines Tages zu klein, zu miefig, zu uncool werden. Jedes Kind sollte wissen, wie eine grüne Haselnuss schmeckt und wie sich Moos unter nackten Füßen anfühlt. Eine Kindheit auf dem Land ist so gut wie ein Haus am Meer. Danke, Mama, danke, Papa, dafür. Doch eines Tages hörte ich auf, grüne Haselnüsse zu essen. Das ganze Schlamassel begann.» Mit viel Witz erzählt Philipp Mattheis von seiner Jugend in Dingenskirchen, vom aussichtslosen Flirten mit der Dorfschönheit, von Randale an der Bushaltestelle, Saufgelagen hinter der Scheune und von der Sehnsucht nach der großen, weiten Welt - pointiert, sarkastisch und manchmal auch ein bisschen wehmütig.

Philipp Mattheis, geboren 1979 in Bayern, schreibt für die Süddeutsche Zeitung, das SZ Magazin und jetzt.de.

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Leseprobe

Vogel süß-sauer


Mittagsbuffel 6,90 DM», stand auf der Tafel mit Kreide geschrieben. Irgendein Spaßvogel hatte die Haken des «t» verwischt und daraus ein «l» gemacht. Mein Vater hatte die ganze Autofahrt von Dingenskirchen nach Hofning nicht gesprochen. Er öffnete die Tür, und wir standen in einem langen gefliesten Flur, wie es ihn in oberbayerischen Bauern- und Wirtshäusern oft gibt. Links von dem Flur führte eine Tür in den Raum, der einst eine Stube gewesen war. Jetzt standen dort Bambus-Sträucher aus Plastik und golden lackierte Tiere, die an Löwen erinnerten. In der Ecke plätscherte ein Springbrunnen. Es roch nach Räucherstäbchen.

Wir waren die einzigen Gäste. Eine schiefe Flötenmusik dudelte vor sich hin. Ein chinesischer Kellner kam, reichte uns zwei Speisekarten und ging wieder, ohne ein Wort zu sagen. Mein Vater schlug die Karte auf, schlug sie wieder zu und sagte: «Wir nehmen ja eh das Buffet.»

Er faltete die Hände und sah aus dem Fenster. Ich vergrub meine Hände in den Hosentaschen und sah ebenfalls aus dem Fenster.

«Der goldene Affe» war das einzige chinesische Restaurant im Landkreis. Es lief schlecht, wann immer ich an ihm vorbeiging und einen Blick hineinwarf, war es leer. Nur abends saß dort ab und zu eine Familie, die wohl der Meinung war, sich «mal etwas Exotisches leisten» zu müssen. In Hofning gab es außerdem noch ein italienisches Restaurant, in dem immer, wann immer man es betrat, italienische Schlager von Toto Cutugno und Eros Ramazzotti liefen, und einen Griechen, dessen Speisekarte völlig überflüssig war, da jeder Gast stets Gyros bestellte. Der Besitzer des italienischen Restaurants wechselte alle drei Jahre aus unbekannten Gründen, was der Gast nur daran merkte, dass das «Roma» nun nicht mehr «Roma», sondern «Salerno» und später «Napoli» hieß. Der Besitzer des griechischen Restaurants blieb immer derselbe.

Der chinesische Kellner kam wieder, mein Vater sagte «Wir nehmen das Buffet», woraufhin der Kellner auf einen langgezogenen Tisch deutete, auf dem vier rechteckige silberne Behälter standen. Ich füllte eine Schüssel mit einer schleimigen Suppe, in der weiße Flocken schwammen, und schaufelte anschließend einen Teller voll mit Stücken gebackener Ente.

«Willst du kein Gemüse?», fragte mein Vater.

Ich schüttelte den Kopf.

Ich war der Meinung, dass wir uns dieses Gespräch sparen konnten. Es war vollkommen überflüssig. Er würde sagen: «Junge, einfach so Sachen kaputt machen, das geht nicht.» Und ich würde sagen: «Klar, mir tut das wirklich leid.» Er würde sagen: «Okay.»

Wir setzten uns. Ich nahm einen Löffel Schleimsuppe und beschloss, sie nicht aufzuessen. Mein Vater aß Salat und Reis.

Wir kauten, schluckten und schwiegen. Ich nahm ein Stück gebackene Ente in die Hand, in der Erwartung, dass mein Vater mich darum bitten würde, Messer und Gabel zu benutzen. Er sagte nichts. Ich legte den Kopf in meine aufgestützte Hand, tauchte ein Stück Ente in eine süß-saure Sauce und stellte mir vor, es wäre ein Chicken McNugget. Ein McDonald’s in Hofning wäre das Allerbeste, was uns passieren könnte. Ein McDonald’s, das wäre besser als ein Jugendzentrum. So ein Laden wäre ein Treffpunkt und ein Fenster zur Welt. Auf dem Parkplatz davor könnten wir skaten, dann einen Cheeseburger essen und die Gurkenscheiben an die Glasscheibe werfen. Die Gurkenscheiben würden dort kleben bleiben.

«Welche Vögel kennst du?», fragte mein Vater.

Ich zuckte mit den Schultern.

«Welche Vögel kennst du? Sag ein paar Namen, los.»

Ich kaute auf einem Stück Entenknorpel herum.

«Spatz.»

«Ist das alles?»

«Amsel.»

«Ja, und welche noch?»

«Drossel, Fink und Star.»

«Welche noch?»

«Mann, was soll das denn?», fragte ich und schluckte den Knorpel herunter.

«Okay, Papagei, Adler, Kakadu.»

Mein Vater schaufelte seinen gebratenen Reis von einem Ende des Tellers zum anderen.

«Taube?»

«Natürlich kenne ich Tauben.»

«Was ist mit Meisen?»

«Sind das die mit der gelben Brust?»

«Und was ist mit dem Specht?»

«Der, der so viel Lärm macht, weil er immer gegen einen Baum hämmert.»

Er schaufelte den Reis wieder zurück und nahm einen Bissen.

«Ist die Ente gut?»

«Ist auch ein Vogel.»

«Das meine ich nicht. Ich wollte wissen, ob sie gut schmeckt.»

«Passt schon», sagte ich und tauchte ein weiteres Stück in die süß-saure Sauce. Chicken McNuggets waren 100 Prozent knorpelfrei. Pommes frites schmeckten auch nicht so gleichmäßig und armselig wie Reis.

«Wusstest du, dass die Herzschlagfrequenz eines Sperlings bei 900 liegt? Es gibt noch mehr interessante Fakten über Vögel: Zugvögel zum Beispiel haben einen Magnetsinn, mit dem sie sich auf ihren langen Reisen orientieren. Manche Arten besitzen im Schnabel eigene magnetische Teilchen. Diese reagieren auf das Magnetfeld der Erde. Wie ein eingebauter Kompass! Mit einem Unterschied: Sie bestimmen die Richtung nicht, indem sie zwischen Nord- und Südpol unterscheiden, sondern indem sie die Inklination des Erdmagnetfeldes erkennen. Andere wiederum haben einen Magnetsinn im rechten Auge – dort bilden sich mit dem einfallenden Licht sogenannte Radikal-Paare. Diese reagieren auf das Erdmagnetfeld. Vieles ist noch nicht erforscht, aber man weiß, dass es diesen Sinn gibt. Zugvögeln gelingt es so, sich über Tausende Kilometer zu orientieren – von hier bis nach Afrika.»

Ich tunkte ein weiteres Stück gebackener Ente in die süß-saure Sauce und schob es langsam in den Mund.

«Vögel sind die Tiere, von denen es die meisten Arten gibt – zumindest unter Landwirbeltieren. Es sind über 10 000. Das muss man sich mal vorstellen: Dir sind gerade einmal zehn eingefallen. Der kleinste ist der Zwergkolibri mit nur fünf Zentimetern, der schwerste ist der Strauß. Manche Vögel sind vielleicht nicht einmal entdeckt. Wer weiß das schon. Leider werden es aber immer weniger. Wenn wir nichts dagegen tun, werden bis zum Jahr 2100 zehn Prozent aller Vogelarten ausgestorben sein.»

«Krass», sagte ich mit vollem Mund.

Ich schluckte das Stück Ente herunter, ohne es ausreichend zerkaut zu haben, wodurch meine Speiseröhre schmerzte. Es war in solchen Situationen besser, nichts zu sagen, weil sich aus meinem Widerspruch erst recht etwas ergab, was einer Moralpredigt beziehungsweise einem Anschiss nahekam. Noch war die Situation erträglich, nicht angenehm, aber aushaltbar.

«Papa, ich …»

«Vögel und Menschen – das ist auch ein interessantes Thema. Die Familie der ‹Honiganzeiger› zum Beispiel ist höchst raffiniert. Der Vogel macht den Menschen durch lautes Rufen auf sich aufmerksam, fliegt dann ein Stück und wartet darauf, dass man ihm folgt. So führt er den Menschen zu einem Bienennest, dass dieser dann ‹für ihn› plündert. Der Mensch kriegt also den Honig, und der Vogel frisst die verbleibenden Insekten.»

«Das ist alles wirklich blöd gelaufen …»

«Der Honiganzeiger legt seine Eier übrigens wie der Kuckuck immer in fremde Nester. Das ist doch …»

«Wir wollten das nicht mit dem Käfig.»

«… interessant!» Er wurde lauter. «Das ist doch faszinierend!»

«Es war blöd, okay?», sagte ich lauter.

«Vögel sind doch unglaublich interessante Tiere!», schrie er durch das Lokal. Der chinesische Kellner in der Ecke blickte auf.

«Ich mache so was nicht wieder, okay?», schrie ich zurück.

«Verdammt!»

 

Wir schwiegen. Er aß seinen Reis jetzt schneller, kaute hektisch wie ein Kaninchen. Ich bestellte bei dem Chinesen ein Glas Spezi und trank in einem Zug die Hälfte aus. Ich wartete darauf, dass er mir erzählte, wie lange sein Schulweg gewesen war, dass er die drei Kilometer jeden Tag hatte gehen müssen, auch im Winter. Dass die aus Schlesien vertriebene Familie arm gewesen und es ein Privileg gewesen sei, auf das Gymnasium zu gehen. Dass es zum Geburtstag keine Playstation, sondern ein Buch mit Vogelbildern und -namen gab, und dass er erst wegen dieses Buches sich entschlossen habe, Biologie zu studieren. Dass er nicht und keiner seiner Freunde auch nur auf den Gedanken gekommen war, etwas «nur so, aus Langeweile» zu zerstören.

Ich wartete darauf, während ich den Spezi schneller leerte, als es mir guttat, und sich in meinem Magen etwas Gewaltiges zusammenbraute. Aber es kam nichts dergleichen. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Ja, danke, jetzt ist es mir klar. Von nun wird alles anders werden? Jetzt, durch deine Erzählungen von damals, ist die Langeweile auf einmal verschwunden?

In einer gewissen Weise beneidete ich ihn. Ich glaubte, damals sei all das einfacher gewesen. Nicht leichter, aber weniger kompliziert.

Auf seinem Teller war kein einziges Reiskorn mehr. Er tupfte sich die Lippen mit einer rosa Stoffserviette ab und winkte dem chinesischen Kellner. Ein junges Mädchen kam und räumte die Teller ab. Der Kellner sagte etwas auf Chinesisch zu ihr, es klang nicht freundlich, sie murrte und verschwand.

Mein Vater bezahlte die Rechnung, und wir stiegen ins Auto.

 

Nach der Tankstelle bogen wir auf die Straße nach Dingenskirchen und passierten das Schild «Bimskofen 10 Kilometer», obwohl eigentlich Dingenskirchen der nächste Ort war und nur sechs Kilometer entfernt lag. Grund hierfür war ein Streit zwischen den Gemeinden. Vor etwa 20 Jahren war ein Bauer namens Kreithmayer beim Pflügen seines Feldes...

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