Juli 2006
1. Juli
Besuch bei Rascha, einem Patenkind meiner Freundin Melitta aus Wien. Die Familie lebt in Armut und Not. Der Vater muss eine fünfköpfige Familie versorgen und hat nur gelegentlich Arbeit. Raschas Schwester, Fâtin, hatte sich vor mehr als einem Jahr in einen muslimischen Jungen aus dem Flüchtlingslager verliebt, und weil sie wusste, dass ihre Familie einer solchen Beziehung niemals zustimmen würde, hatte sie beschlossen, mit ihm ins Ausland zu gehen. An der Grenze wurde sie auf Geheiss der Familie von der Polizei angehalten und zurückgebracht. Sie wurde von ihren Verwandten aufs schlimmste verprügelt, und beim Versuch zu fliehen sprang sie im zweiten Stock aus dem Fenster und kam schwerverletzt ins Krankenhaus – Querschnittlähmung. Die Presse berichtete ausführlich darüber, und die Frauenorganisationen liessen der Familie keine Ruhe. Beschimpfungen und Beleidigungen auf der Strasse und bei Hausbesuchen machten der Familie das Leben zur Hölle. Auch die Tanten und Onkel und deren Kinder und Kindeskinder bekamen die Schande zu spüren.
Es war Osterzeit. Der Vater konnte den sozialen Druck, die Qual der Tochter und die der ganzen Familie nicht mehr verkraften. Er verlor den Kopf. Er sah seine gelähmte Tochter, die im Bett lag und auf die Hilfe der anderen angewiesen war. Irgend etwas musste er tun, um die Ehre der Familie zu retten. Also sperrte er die Mutter und die anderen Kinder in ein Zimmer und schlug der gelähmten dreiundzwanzigjährigen Fâtin so lange auf den Kopf, bis sie tot war.
Er wurde verhaftet. Auch die Mutter und die Kinder wurden zehn Tage in Haft genommen und mussten schlimme Verhöre über sich ergehen lassen. Bei der Beerdigung waren Frauen zugegen, die der Mutter ins Gesicht spuckten und sie und die Kinder beschimpften. Trost suchten sie vergeblich. In der Schule sagte die Schulleiterin vor allen Schülerinnen zu Rascha, sie solle sich schämen, denn ihr Vater sei ein Verbrecher. Die Mutter und die Kinder schlossen sich während mehrerer Wochen in ihrem Haus ein.
Nach sechs Monaten kam der Vater aus dem Gefängnis. Er sperrte sich wochenlang im verdunkelten Schlafzimmer ein und wollte niemanden sehen. Seine Schwestern kamen ab und zu vorbei, doch anstatt ihm und der Familie beizustehen, fuhren sie mit gezielten Beschuldigungen gegen die Mutter fort. Die Mutter, in Trauer um ihre Tochter und geplagt von Angst und Schmerz um ihren Mann und die Kinder, brach zusammen. Sie fuhr nach Amman.
Ich besuchte die Töchter regelmässig, um ihnen Mut zu machen. Wir sprachen viel und intensiv über die Probleme. Vor allem suchten wir nach Wegen, um den Vater aus seiner tiefen Depression zu holen. Gespräche mit dem Priester und mit Bekannten halfen sehr.
Die Mutter ist inzwischen wieder zu Hause. Ihre beiden verheirateten Töchter mit ihren Männern hatten die Versöhnung in der Familie eingeleitet. Die Tanten, die den Vater stets zur Wut angestachelt hatten, wurden gebeten fernzubleiben. Der Vater traute sich langsam wieder auf die Strasse, und er begann wieder teilweise zu arbeiten. Ich war froh und erleichtert zu sehen, dass sich die Familie einigermassen aufgefangen hatte. Für Rascha und ihre Schwester war das letzte Schuljahr sehr schwer gewesen. Jetzt wagen sie einen Neuanfang. Niemals werden sie jedoch die schlimmen Erfahrungen und den Verlust der Schwester ganz verschmerzen.
Innerhalb von sechs Monaten wurden in Ramallah sieben Ehrenmorde verübt. Wenn die Würde der Menschen auf allen Ebenen missachtet wird, dann scheint die Ehre das einzige, das bleibt, und die gilt es zu retten. Oft sind es Kurzschlussreaktionen; ohne nachzuprüfen, werden die Mädchen verurteilt. Das hat nichts mit Religion zu tun und kommt in muslimischen und christlichen Familien vor. Es ist die Tradition einer gebrochenen Gesellschaft, in der zivile Gesetze und Gerichtsbarkeit nicht funktionieren.
In Sabâbda, einem christlichen Ort im Norden, wurde ein christliches Mädchen erschossen. Sie hatte sich in einen Mann verliebt, der sie später missbrauchte. Er fotografierte sie mit dem Handy bei einer unsittlichen Handlung und erpresste sie, um sie zur Kollaboration zu zwingen. Als sie ablehnte, schickte er die Fotos per SMS an Hunderte von Handybesitzern. Der Vater konnte das nicht ertragen. Er erschoss sie, um die Ehre der Familie zu retten. Der Kollaborateur jedoch hatte sich einer bewaffneten Gruppe angeschlossen, die ihn schützte.
Wenn Ehrenmorde sich häufen, dann werden sie zur Norm in der Gesellschaft. Manche Mädchen, die zu einer Ehe gezwungen werden oder die Gewalt in der Familie nicht mehr ertragen können, versuchen sich zu retten, indem sie eine Messerattacke auf einen Soldaten vortäuschen – das Gefängnis als Rettung. Sie werden von den Israelis jedoch als Kriminelle behandelt und müssen lange Haftstrafen verbüssen.
3. Juli
Im Seminar eine Übung, die sich mit folgenden Überlegungen befasst: Beweg dich vorwärts – weg vom Kämpfen um Macht hin zu Kooperation und Vertrauensbildung. Drücke deine Frustration aus, ohne dich zu blamieren und zu schämen und ohne zu urteilen.
4. Juli
Ich hatte geplant, nach Nablus zu fahren. Ich wollte mich mit drei Frauengruppen treffen, die sich beim Global Fund for Women – einer Non-profit-Organisation in den USA, die sich für die Menschenrechte der Frauen einsetzt – um Unterstützung beworben hatten. Als Vorstandsmitglied und Beraterin des Global Fund war ich gebeten worden, die Gespräche mit ihnen zu führen. Ich fuhr sehr früh los und hatte zwei Checkpoints zügig überwunden. Doch am Hauptcheckpoint von Huwâra musste ich drei Stunden warten. Enttäuscht kehrte ich um; die rechtzeitige Rückreise war nicht garantiert.
5. Juli
Auch der zweite Versuch, Nablus zu erreichen, scheiterte. Beim Checkpoint Atara wurde uns erklärt, dass er den ganzen Tag geschlossen bleibe. Wütend und entsetzt kehrte ich heim. Munîr versuchte mich zu trösten: »Nimm es gelassen, denn so ist unser Leben; vieles klappt meistens nicht. Wir können nicht planen, wir dürfen nicht planen, und wir können es nicht ändern.«
Ich fühle mich Nablus sehr verbunden. Ich liebe die Stadt, und mein Bedürfnis ist gross, hinzugehen und mich mit den Leuten dort zu treffen.
In Nablus hatte ich 2003 mit der Schriftstellerin Sahar Khalifa und zwölf anderen Frauen die 86jährige Dichterin Fadwa Tukan besucht. Fadwa hatte sich einige Zeit zuvor bei einem Sturz die Hüfte gebrochen. Ihr Neffe hatte sie zur Pflege in sein Haus genommen. Wir warteten auf sie im Wohnzimmer. Dann wurde sie von einer Krankenschwester im Rollstuhl in den Raum geschoben. Sie hatte Lockenwickler in den Haaren, die Fingernägel rot lackiert und war sehr schön geschminkt. Sie trug einen türkisfarbenen Kimono aus Seide und zwei goldene Ringe an den Fingern, und ein türkis-goldener Armreif vollendete den Eindruck von Eleganz. Sie strahlte, als sie uns sah, umarmte jede von uns, und der Duft ihres Parfüms umhüllte uns. Sahar erinnerte sie an die Zeit, als es regelmässig solche Treffen mit ihr gab; schöne Stunden, in denen die Frauen von Nablus sich mit dem Vortragen von Gedichten und mit dem Gespräch über Bücher vergnügten, verbunden mit Musik und Gesang. Uns Frauen von der Universität Birseit hatten sie oft dazu eingeladen.
Sahar fragte: »Fadwa, wann war in deinem Leben der Höhepunkt deines dichterischen Schaffens?«
»Immer, wenn ich verliebt war«, sagte sie. »Ich habe mich immer wieder von neuem verliebt, um die Kreativität zum Sprudeln zu bringen. Es waren schöne Erfahrungen, und ich habe diese Beziehungen genossen. Aber ihr wisst, sich verlieben bedeutet keineswegs intime Beziehungen haben, denn das wäre gegen unsere Sitten. Ich hätte mich geschämt und mir nie verziehen, wenn ich gegen unsere Moral und unsere Regeln verstossen hätte. Es war Liebe aus der Ferne. Die Sehnsucht nach einem Blick, das Warten auf ein Lächeln, das Trauern über eine Enttäuschung oder eine verflossene Liebe spornten mich zum Dichten an. Ich habe nie lange getrauert, denn ich wusste, eine neue Liebe würde folgen und neue Gedichte würden mich beglücken. Ich habe nie geheiratet, weil ich fürchtete, die Quelle meiner Gedichte könnte versiegen.«
Sie fuhr fort: »Einmal war ich so dumm, mich in einen schrecklichen Mann zu verlieben. Von Anfang an war er unerträglich, doch ich blieb stur und wollte es mir einfach nicht eingestehen. Ich litt sehr darunter und wusste nicht, wie ich von ihm wieder loskomme. Da schrieb ich kein Lob-, sondern ein Schmähgedicht, um diese Liebe zu beenden.«
Auf unsere Bitte hin trug sie uns das Gedicht vor:
Ich verliebte mich und umhüllte dich mit meinen Flügeln.
O weh, welch eine Katastrophe!
Ich seufzte,
Das Weh meiner geknickten Flügel löschte mein Augenlicht.
Ich erkannte dich, welch eine Erlösung.
Meine Flügel hoben sich,
Das Licht meiner Augen leuchtete einer neuen Liebe
entgegen.
Wir lachten. »Würdest du dich wieder verlieben wollen?« fragte Sahar. »Sehr gerne«, antwortete sie. »Aber die Liebe muss einen Nährboden finden.« Gerührt zeigte sie uns einen Band ihrer Gedichte, den Scheichin Mosa aus Katar herausgegeben hatte – ein Kunstwerk, vergoldet, mit bunten Illustrationen, das die Gedichte von Fadwa Tukan verewigt.
Zwei Monate nach dieser schönen Begegnung starb sie – ein Trauertag für Palästina. Fadwa hinterliess uns ihre Gedichte. Sie lebt weiter in der Erinnerung von Generationen und in der palästinensischen...