Deutschland umsonst –
Von Michael Holzach
Die Reportage von Michael Holzach ist ein Klassiker des deutschen Journalismus. Im Jahr 1982 wanderte er zu Fuß und ohne Geld von Hamburg an den Bodensee und zurück, nur begleitet von seinem Hund Feldmann. Holzach war Reporter bei der Zeit und schrieb über soziale Themen. Sein Buch Deutschland umsonst. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland (Hoffman & Campe), aus dem hier folgende Auszug stammt, erzählt davon. Als der ungewöhnliche Reisebericht 1983 verfilmt werden sollte, stürzte Feldmann in Dortmund-Dorstfeld in die Emscher. Michael Holzach sprang ihm nach und ertrank. Er wurde 36 Jahre alt. In seinem Buch nennt er die Emscher »mein Totenreich«.
Erleichtert lasse ich die Beine fliegen, der Rucksack tanzt mir auf dem Rücken, Feldmann schießt aufgekratzt durch das Bergische Land. Es geht durch enge, geduckte Täler, über kleine, gedrungene Hügel, durch Wälder und Felder. Tiefe Wolkenbänke entladen sich immer wieder mit solcher Heftigkeit, dass mir das Wasser aus dem Bart läuft. Dann hellt es wieder auf, die Wälder beginnen zu schwitzen und dampfen in dichten Nebelschwaden die Nässe aus sich heraus. Laut Bibel hat die Sintflut vierzig Tage gedauert – diesmal scheint es der liebe Gott in der halben Zeit zu schaffen, denn das Land ertrinkt. Die Kühe stehen bis zum Euter im Morast, der einmal Weide war, feuchtes Getreide läßt die Köpfe schwer hängen, schwarze Heuhaufen faulen zu Kompost, überreife Wiesen sind längst fällig für den ersten Schnitt – es muss bald Juli sein!
In den Gärten der Bauern stehen Pfützen, groß wie Seen, die grünen Erdbeeren liegen im Dreck, die Kirschen platzen unreif an den Bäumen. Ein Anblick des Jammers. Wie sehr habe ich mich aufs Erdbeer- und Kirschenklauen gefreut. Allein die Johannisbeeren schaffen es, weiß der Himmel wie, auch ohne Sonne süß zu werden. Von ihnen vor allem ernähre ich mich tagelang, sie geben zwar wenig Kraft, dafür aber genügend Vitamine, um mir in diesem Wetter die Grippe vom Hals zu halten. Bei Übersetzig überquere ich die Sieg. Auf der Brücke reizt es mich sehr, einen hohen Regenbogen in den Fluß zu pinkeln. Wegen des Hochwassers lass ich es dann doch lieber bleiben, denn aus mir soll der Tropfen nicht kommen, der das Gewässer zum Überlaufen bringt. Dafür hebt Feldmann, als sei’s Gedankenübertragung, hier über der Sieg zum ersten Mal in seinem Leben das Bein. Statt wie eine Hündin in die Hocke zu gehen, steht er nun auf drei wackeligen Beinen, grätscht das vierte im stumpfen Winkel weg und fünf, sechs Spritzer verfehlen die Brückenlaterne nur knapp. Ich bin stolz auf meinen Hund! Seit ich ihn aus dem Tierasyl befreit habe, hat er sich auch sonst gut entwickelt, die Brust ist trotz der schlechten Ernährung breiter geworden, das Fell dichter und mit der wachsenden Kraft hat auch das Selbstvertrauen zugenommen. Seine Ausflüge in die Wälder sind keine scheuen Erkundungsgänge mehr wie früher, als er sich alle zehn Schritte hilfesuchend nach mir umsah, selbstständig stöbert er heute durch die Gegend, den Schwanz aufrecht wie eine Standarte. Kein Gatter ist ihm zu hoch, kein Graben zu breit, ich muss manchmal energisch mein »Feldmann, Fuuuß!« brüllen, bis er sich widerwillig dazu durchringt, von einem fliehenden Hasen abzulassen, dem er jaulend und japsend auf den Fersen war.
Je weiter wir nach Süden gehen, desto einsamer wird das Land. Die Großstädte sind fern, die Dörfer ärmlich und damit in meinen Augen schön. Die Bewohner scheinen kein Geld zu haben, um ihre alten Fachwerkhäuser abzureißen oder mit Eternitplatten zu verschandeln, Supermärkte, Selbstbedienungstankstellen, selbst die fahnengeschmückten Niederlassungen der Japanautos fehlen meist und die Kreissparkasse ist nur mit einer unscheinbaren Haltestelle für den Geldbus vertreten, der einmal in der Woche hier die Runde macht. Auf dem Schwarzen Brett von Giesenhausen am Fuße des Westerwaldes ist zu lesen, dass die rheinland-pfälzische Landesbildstelle am nächsten Montag mit dem fahrbaren Röntgenschirm eine kostenlose TB-Reihenuntersuchung vornehmen will, zu der der Gemeinderat die Bevölkerung herzlich einlädt. Mobil ist auch der Textilhändler, der seine Ware auf der Hauptstraße direkt ab PKW verkauft: Socken und Kinderbekleidung liegen nach Größen sortiert auf der Motorhaube, Oberhemden auf den Rücksitzen, die Miederwaren lagern diskret im Kofferraum. Vor dem Gewerbeaufsichtsamt braucht man sich hier in der Einsamkeit des Westerwaldes nicht zu fürchten.
Einsam ist es hier wohl auch, weil der Dauerregen in diesem Jahr die Touristen vertrieben hat. Überall verweisen die »Zimmer frei«- Schilder der kleinen Pensionen und Gasthöfe auf eine schlechte Saison. So habe ich das Land ganz für mich, aber auch die Leute sind besonders aufgeschlossen, sie grüßen betont freundlich und scheuen oft nicht einmal die Mühe, eine Karte zu holen, um mir den Weg zu erklären, meinen Weg in Richtung Heppenheim. Und weichgeregnet, wie ich bin, habe ich kaum Schwierigkeiten, mein Nachtquartier zu finden. Selbst die scheuesten Bauern lassen mich in ihren Scheunen schlafen und vergessen all ihre Ängste, die ihnen Eduard Zimmermann & Co Monat für Monat am Bildschirm eingebleut haben:
»Es klingelt. Frau G. geht zur Tür, öffnet – und >kämpft gegen einen Kraken<, wie sie später aussagt. Denn überall sind seine Hände, greifen nach ihr, tun ihr weh, ekeln sie. Dabei hätte sie >diesem verwahrlosten, schmutzigen Typ< bestimmt nicht aufgemacht, hätte sie ihn nur vorher gesehen. Ja – hätte sie. Dabei ist es so einfach, dafür zu sorgen, dass man vorher sieht, wer zu einem will. Ein moderner Weitwinkeltürspion kostet nur einige Mark und er ist auch im Nu eingesetzt. Mieter sollten allerdings ihren Vermieter vorher fragen; da ihm das Wohl seiner Mieter am Herzen liegt, wird er die Genehmigung kaum verweigern.
Wenn schon der Sichtkontakt zum Besucher nicht möglich ist, sollte zumindest ein Hörkontakt hergestellt werden, über die Gegensprechanlage oder – notfalls – durch die Tür. In jedem Fall sollte man Fremden die Tür immer nur mit vorgelegter Sperrkette öffnen, denn schließlich gibt es ja auch den Wolf im Schafspelz, rät die Kriminalpolizei.«
Mir dagegen trauen die Leute hier auf den ersten Blick. Ich werde ja wohl die Scheune nicht anstecken, das Haus nicht ausräubern, die Frau in Ruhe lassen, es passiert ja so viel im »Fennseh«, da sieht man es ja mit eigenen Augen. Nein, sag’ ich, ich werde nicht, bin viel zu müde, und was soll schon brennen, es ist ja doch alles nass. Auf einem einsam gelegenen Gehöft hinter Niederirsen bekomme ich sogar Bratkartoffeln mit Spiegelei und Feldmann Küchenabfälle die Menge, in Thal bei Roth bringt mir die Bäuerin vom Hahnenhof für die Nacht trockene Unterwäsche und Socken ihres Mannes in die Scheune, bis sich meine Sachen am Küchenherd ausgetropft haben.
Professionelle Gastfreundschaft wird mir im Kloster Marienstatt geboten, das im Nistertal mitten in der Abgeschiedenheit des hohen Westerwaldes seine monumentale Pracht entfaltet. Gerade erst bin ich so ehrfurchtsvoll, wie das der frontale Gebirgsregen nur eben zuließ, übers alte Kopfsteinpflaster zwischen verwitterten Grabplatten auf das herrschaftliche Mönchsschloss zugestiefelt, habe mit meinem ganzen Gewicht die schwere Eichentür aufgestoßen und stehe nun, vor Nässe triefend, vor marmornen Engeln und Heiligenfiguren umstellt, in der grandiosen Empfangshalle des Klosters, da entriegelt der Bruder Pförtner auch schon eine Sprechluke und fragt:»Darf ich Ihnen eine kleine Speise bringen lassen, Sie sehen so aus, als könnten Sie’s gebrauchen?« Überrascht, wie sehr man sich in dieser weltabgewandten Frömmigkeit offensichtlich noch den Blick für die Realitäten erhalten hat, setze ich mich auf einen kunstvoll geschnitzten Stuhl vor einem runden Tisch und lasse mich bedienen. Ein junger Mönch in weißen, wallenden Gewändern liest mir alle Wünsche von den Augen ab: Die Tomatensuppe ist so gut, wie es eine gewöhnliche Tomatensuppe eigentlich gar nicht sein kann, der Kochfisch zergeht auf der Zunge, die Götterspeise ist himmlisch. An den Hund unterm Tisch denkt mein frommer Kellner, beim heiligen Franziskus, ganz von selbst und bringt so viele Knochen und Kartoffelreste, dass Feldmann fast vor dem Futterberg kapituliert hätte.
Aber mit dem göttliche Mal ist der Service des Mönchs, der sich mit »Frater Ambrosius« vorstellt, noch lange nicht erschöpft. »Kommt ein Wanderer des Wegs, so beherberge ihn wie den Heiland selbst«, zitiert er eine Ordensregel der Zisterzienser und fragt rhetorisch, ob ich nicht ein wenig bleiben wolle, das richtige Wanderwetter sei das ja nun wirklich nicht, außerdem stehe der heilige Sonntag vor der Tür. Etwas Ruhe und innere Einkehr, bis die Sachen wieder trocken sind, können nicht schaden. Fast dankbar greift der Geistliche zum Telefon und regelt meine Unterbringung.
Die Kammer, in die mich Ambrosius führt, ist karg möbliert, das Bett unterm großen Holzkreuz kaum gefedert und das Waschbecken wenig größer als die Weihwasserschale neben der Tür. Ein bisschen spartanisch für den Heiland, denke ich. Auf körperliche Behaglichkeit wird wenig Wert gelegt, dafür ist für das Seelenwohl gesorgt: Am Schrank, dort, wo in Hotels gewöhnlich die Preisliste hängt, befindet sich eine Liste mit den »Offizien«, den sechs Gebetszeiten: »5.15 Uhr Laudes, 6.15 Uhr Terz, 12.55 Uhr Sext, 15.30 Uhr Vesper, 17.30 Uhr Matutin, 20.00 Uhr Komplet.«
Kaum habe ich meine nassen Kleider mit der klammen Wechselgarderobe getauscht, meine Haare...