Glückliche Kindheit
Am 6. Februar 1920 wurde ich in Neutitschein geboren – eine, wie mir durchaus bewusst ist, ergänzungsbedürftige Information, denn niemand hat jemals von diesem Ort gehört (was auf die Neutitscheiner selbst natürlich nicht zutrifft, aber mit jedem Kilometer wahrer wird, den man sich von dort entfernt). Eigentlich zu Unrecht, denn Neutitschein, das sich früher Neu-Titschein schrieb und auf Tschechisch Nový Jičín heißt, war immer schon eine wunderschöne kleine Stadt, 140 Kilometer nordöstlich von Brünn und 60 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt am Fuß der Beskiden gelegen, ziemlich genau da, wo das Gebirge in eine grüne Ebene übergeht.
Wenn man den Namen Neutitschein ausspricht, legt man die Betonung auf »Neu«, schon deshalb, weil es in vier Kilometer Entfernung auch ein Alt Titschein gibt, einen Ort mit damals knapp 700 Einwohnern, der bis zum 16. Jahrhundert um die Burg Titschein herum entstanden ist. Der letzte Burgherr, Friedrich von Zerotin, musste sie in der Zeit der Gegenreformation im Jahre 1623 verlassen, sodass sie verfiel und nach und nach zu der imposanten Ruine wurde, die sie heute ist. Sie war ein beliebtes Ausflugsziel in meiner Kindheit, eine Fahrradtour von einer Viertelstunde durch eine blühende Landschaft.
Das Land selbst war unter so vielen Kleinbauern aufgeteilt, dass sie, obwohl es fruchtbar war und Getreide, Obst und Gemüse darauf angebaut wurden, nur mehr schlecht als recht davon leben konnten. Nicht einmal das Vieh, das seit Jahrhunderten hier gezüchtet, gehalten und traditionell auf den Viehmärkten in der Umgebung verkauft wurde – weshalb die Gegend auch das »Kuhländchen« heißt –, warf mehr als das Notwendige ab. So hatten die armen Bauern oft nur ein einziges Paar Schuhe, das sie nicht selten fünfzig Jahre lang trugen, die meiste Zeit zusammengeschnürt über der Schulter, um die Sohlen zu schonen.
Ehe sie im Jahre 1918 die Nationalität wechselte und Bestandteil der neugegründeten tschechoslowakischen Republik wurde, gehörte die Stadt Neutitschein zur k. u. k. Donaumonarchie. Dieser Zugehörigkeit verdankt sie ihr pittoreskes barockes Stadtbild, die vielen schönen, stuckverzierten Häuser mit ihren geschwungenen Giebeln und den großen, von dekorativen Arkaden gesäumten Stadtplatz. In den Arkaden, die bei uns Lauben hießen, gab es viele Geschäfte, die mich allerdings weniger interessierten als der Kiosk in einer nahegelegenen Passage, an dem ich zuweilen eine Lakritzschnecke von dem Geld kaufte, das ich zu Hause für den Schulbedarf bekam.
In zweien der stattlichsten Häuser am Stadtplatz waren die Apotheken »Zum weißen Engel« und »Zum schwarzen Adler« untergebracht. Dorthin schickte mich an einem ersten April – ich war damals sechs oder sieben Jahre alt – Herr Schattel, einer der Taxifahrer, die für gewöhnlich am Stadtplatz auf Kundschaft warteten. Er gab mir eine Krone und sagte: »Geh in die Apotheke und lass dir dafür ›Hau mich blau‹ geben. Hast du verstanden?« Ich hatte verstanden, ging in die Apotheke und verlangte für eine Krone Gummibonbons. Die brachte ich ihm. »Wieso bringst du mir Gummibonbons?«, fragte er, »hast du denn nicht ›Hau mich blau‹ verlangt?« – »Doch, hab’ ich«, log ich mit Unschuldsmiene, »und das hat man mir dafür gegeben.« – »Kannst es behalten«, sagte Herr Schattel ein bisschen brummig, weil ich ihn reingelegt hatte, wo er doch mich hatte reinlegen wollen.
In der Mitte des Stadtplatzes steht die Mariensäule, davor der Brunnen mit der Bronzeskulptur eines tanzenden Kuhländler Bauernpaares. Er war ein beliebter Treffpunkt. Man verabredete sich dort mit seinen Freunden, wenn man Ausflüge machen oder zum Skilaufen gehen wollte. Mit seinen Freundinnen natürlich nicht, denn der Treffpunkt war alles andere als geheim. Aber Geheimnisse hatte ich ohnehin erst später.
Donnerstags war immer Markt auf dem Stadtplatz. Da kamen die Bäuerinnen in die Stadt und boten ihre Waren an. Die Hausfrauen gingen dann von Stand zu Stand, schwatzten mit den Händlern oder mit den Bekannten, die sie dort getroffen hatten, und verglichen sorgfältig Qualität und Preise, ehe sie etwas kauften – aufmerksam beobachtet von dem Polizisten, Herrn Klotzmann, der darauf zu achten hatte, dass sie die hygienischen Bestimmungen einhielten und nicht mit dem Finger in die Butter fuhren, um zu probieren, ob sie gut war.
Neutitschein war eine wohlhabende Stadt, in der es etliche Handwerksbetriebe, aber auch einige Fabriken gab, wo, zumindest bis zur Wirtschaftskrise im Jahre 1929, viele Bürger Arbeit fanden: mehrere Tuchfabriken, eine Tabakfabrik sowie drei Hutfabriken, in denen Filzhüte hergestellt wurden. Eine von ihnen, die Firma Hückel, gegründet 1799, so jedenfalls stand es an der Fassade, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg verstaatlicht und in TONAK, tschechisch für »Hutfabrik«, umbenannt. Ich erinnere mich gut an das Firmenwappen, in dem sich zwei auf den Hinterläufen aufgerichtete Hasen mit den Vorderläufen gegenseitig stützten. Hasenfell, das wusste ich, war das Material, aus dem der Filz gemacht wurde.
Im Jahre 1938 verzeichnete die Stadt 14 000 Einwohner, drei Viertel von ihnen waren Deutsche, ein Viertel Tschechen und 209 Juden. Zum Zeitpunkt meiner Geburt wird es ähnlich gewesen sein. Außerdem gab es dort zwei katholische Kirchen, die »Dreifaltigkeitskirche«, in der auf Tschechisch, und die »Pfarrkirche«, in der auf Deutsch gepredigt wurde, darüber hinaus eine ganz kleine protestantische Kirche sowie seit 1908 eine Synagoge. In der Synagoge befand sich sogar eine Orgel, was absolut ungewöhnlich war, weil das Instrument christlichen Ursprungs ist und deshalb von orthodoxen Juden abgelehnt wird. Am Sabbat wurde sie von Herrn Ritz gespielt, und den Balg trat Herr Kral, beide Christen, denn in der jüdischen Gemeinde verstand sich niemand darauf. Am Sonntag spielte Herr Ritz die Orgel in der Pfarrkirche.
In der Legergasse, nahe dem Stadtplatz, hatte der älteste Bruder meiner Mutter, Jakob Gelb, eine Metzgerei. Aus einer Metzgersfamilie in Ungarisch Brod stammend, einer Stadt im Südosten von Mähren, etwa halb so groß wie Neutitschein und 80 Kilometer davon entfernt, hatte er es mit viel Fleiß schon in jungen Jahren zu einem eigenen Betrieb gebracht. Ich erinnere mich noch deutlich an den Geruch von Wurst, wenn man den Laden betrat, noch deutlicher aber an die Schaufensterdekoration, die aus einem Schweinskopf bestand, der eine Zitrone im Maul hatte. Das hielt man damals für eine gute Werbung, und vielleicht war sie es ja auch – immerhin erinnere ich mich nun schon seit meiner Kindheit daran.
Dort arbeitete meine Mutter, die Jüngste von insgesamt 14 Geschwistern, als Verkäuferin und dort lernte sie im Jahre 1918 auch meinen Vater kennen. Er stammte aus dem polnischen Myślenice, einer Kleinstadt in der Nähe von Krakau, und sprach Polnisch, Tschechisch und Deutsch. Meine Mutter sprach Tschechisch und Deutsch, die Umgangssprache in unserer Familie war Deutsch. Nach einer kaufmännischen Lehre im Lebensmittelgeschäft seines Onkels in Witkowitz, heute ein Stadtteil von Ostrava, früher Ostrau, war mein Vater zum Wehrdienst eingezogen worden. Er diente sieben Jahre in der k. u. k. Armee, brachte es darin zum Unteroffizier und war gegen Ende des Krieges in Neutitschein stationiert. Er war ein leidenschaftlicher Tänzer. Einmal, so wurde mir als Kind erzählt, soll er drei Nächte lang durchgetanzt haben, obwohl er tagsüber arbeiten musste. In der dritten Nacht wurde er vor Übermüdung ohnmächtig und erwachte erst wieder unter einem Schwall kalten Wassers.
Dass er ein paar Monate nach Kriegsende in der Neutitscheiner Landstraße Nummer 20 eine Gastwirtschaft pachten konnte, gab den Ausschlag dafür, dass meine Eltern schon bald, nämlich am 25. März 1919, heirateten. Bieten konnte mein Vater meiner Mutter ansonsten freilich nichts: Sein Großvater hatte einst eine kleine Landwirtschaft besessen und den zugehörigen Wald vertrunken, während sein Vater mit einem Pferdefuhrwerk Waren in Krakau abholte und zu den Kaufleuten in Myślenice transportierte. Eine harte Arbeit, die morgens um vier Uhr begann und dennoch nicht mehr als das Lebensnotwendige einbrachte.
Meine Mutter hatte von ihrem Bruder Jakob ein paar kunstlose alte Möbel bekommen, die mit ihren Schnörkeln rechte Staubfänger waren, aber als Einrichtung in der Zweieinhalbzimmerwohnung über der Gastwirtschaft gute Verwendung fanden. Die Wirtschaft selbst war höchst einfach, man könnte sagen: Einfacher ging es nicht. Wenigstens hatte sie keinen Lehm-, sondern einen Holzfußboden, auf den jeden Morgen zur Reinigung ölgetränkte Sägespäne gestreut und danach wieder weggekehrt wurden. Das Publikum bestand hauptsächlich aus den Arbeitern der Hückel’schen Hutfabrik. Gegessen wurde kaum etwas, allenfalls Würstel, weil die Arbeiter sich nicht mehr leisten konnten, dafür aber getrunken: Bier und Korn und vor allem Wacholderschnaps, der in der Umgebung hergestellt wurde und Borowitschka hieß. Einmal im Monat kam ein Mitarbeiter der örtlichen Krankenkasse, der in den Gastwirtschaften die Runde machte, um die Beiträge für die Angestellten zu kassieren. Man nannte ihn den »Borowitschka-Toni«, weil man ihm überall, wo er auftauchte, zuallererst einen Borowitschka anbot.
Am Freitag war immer besonders viel los, weil da den Arbeitern der Wochenlohn ausgezahlt wurde. Damit sie ihn nicht sofort in Alkohol umsetzten, standen ihre Ehefrauen am Freitagmittag am Fabriktor Schlange und nahmen ihnen die Lohntüten ab. Mit dem Geld bezahlten sie die Schulden, die sie die Woche über beim Krämer gemacht hatten. Dabei ließen sie den Männern meist einen kleinen...