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E-Book

Gehirnflüsterer

Die Fähigkeit, andere zu beeinflussen

AutorKevin Dutton
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783423417051
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
So funktioniert Manipulation! Ständig will uns jemand von irgendetwas überzeugen. Statistisch betrachtet mindestens einige Hundert Mal am Tag, auch wenn wir dies gar nicht mehr wahrnehmen. Oder doch? Manchmal ist es ganz anders. Dann wird von einer Sekunde zur anderen Schwarz zu Weiß. Warum fallen wir auf manche Mittel oder Tricks herein, auch wenn wir es eigentlich besser wissen? Welche »psychologischen Keulen« werden eingesetzt? Wie kommt es, dass wir manipulierbar sind? Diese Fragen beantwortet Kevin Dutton. Er erklärt, dass sich unser Gehirn, der komplexeste Computer der Welt, manchmal in das komplexeste »Furzkissen« (O-Ton Dutton) verwandelt - auch ein Ergebnis der Evolution. 

Kevin Dutton, geboren 1967 in London, ist promovierter Psychologe, er forscht an der University of Oxford und ist Mitglied der British Psychological Society. Er veröffentlicht regelmäßig in führenden internationalen Wissenschaftsmagazinen und spricht weltweit bei Konferenzen. Seine Bücher >Gedankenflüsterer< und >Psychopathen< sind internationale Bestseller.

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Leseprobe

Keine zehn Pferde


Es ist ein dunkler Dezemberabend in Nordlondon. Zwei Männer, ein großer und ein kleiner, stehen am Tresen einer Bar in Camden Town. Sie trinken ihre Gläser leer, stellen sie auf den Tresen, schauen sich an. Noch mal das Gleiche? Ja, warum nicht? Sie machen es sich noch nicht klar, aber sie werden zu spät zu ihrer Verabredung zum Abendessen kommen. In einem indischen Restaurant am anderen Ende der Stadt sitzt nämlich jemand und wartet auf sie. Der kleine Finger seiner rechten Hand zuckt wie elektrisiert, ein schwaches Signal seiner Parkinson-Erkrankung. Der Wartende trägt eine bunte Krawatte, die er sich eigens für diesen Anlass gekauft hat; eine halbe Stunde hat er gebraucht, bis er sie gebunden hatte. Sie zeigt ein Muster aus Teddybären.

Es ist Sonntag. Der Gast im Restaurant sieht dem Regen zu, der die Scheiben herunterrinnt. Sein Sohn hat heute Geburtstag. Auch die beiden Männer in Camden Town betrachten die Regenschwaden draußen im Licht der Straßenlaternen. Wir müssen uns auf den Weg machen, sagen sie, zur U-Bahn, zu dem Restaurant und dem Mann, der auf uns wartet. Sie brechen auf.

Sie kommen zu spät, fast eine Dreiviertelstunde. Sie haben unterschätzt, und zwar erheblich, wie viel Zeit bei vier Gläsern Bier vergehen kann, und wie lange es dauert, mit der Northern- und Piccadilly-Line ans andere Ende von London zu kommen. Als sie im Restaurant ankommen, läuft es nicht gut.

»Schon wieder zu spät?«, fragt der Mann, der auf sie gewartet hat.

Die Reaktion ist schnell und heftig. Zahllose, uralte Kränkungen kochen hoch. Der Kleinere der beiden dreht sich auf dem Absatz um und verlässt das Lokal. Es ist der Sohn. Er tut das nicht ohne ein paar scharfe Worte. Dann steht er da, der kleine Mann. Gerade in der U-Bahn hatte er sich auf ein entspanntes Geburtstagsessen mit seinem Vater und seinem besten Freund gefreut. Jetzt ist er allein in der regnerischen Dezembernacht und läuft den Gehweg entlang zur U-Bahn-Station. Frierend und zunehmend durchnässt, denn seinen Mantel hat er im Restaurant vergessen. Wie schnell sich die Dinge ändern können.

Der kleine Mann kocht vor Wut. Er steht an der Sperre und sucht nach seiner Fahrkarte. Er geht durch die Sperre. Die Station ist menschenleer. Da hört er ein Geräusch von der Straße, jemand rennt. Plötzlich steht der große Mann auf der anderen Seite der Sperre. Er ist völlig außer Atem, denn auch er ist vom Restaurant zur U-Bahn gerannt. Er lehnt sich keuchend an eine Säule.

»Warte!«, sagt er, als er wieder sprechen kann.

Der kleine Mann will nichts hören.

»Ich denke gar nicht dran«, antwortet er und hebt die flache Hand über den Kopf. »Seine giftigen Bemerkungen stehen mir bis hier.«

»Warte doch«, sagt der große Mann.

Der Kleine wird immer wütender: »Hör zu, du vergeudest deine Zeit. Geh zurück zu ihm, zurück ins Restaurant, geh, wohin du willst. Aber mich lass in Ruhe!«

»O.k., o.k.«, sagt der Große, »aber darf ich noch was sagen, bevor ich gehe?«

Schweigen. Der Regen wird plötzlich rot, die Ampel an der Kreuzung vor der U-Bahn-Station ist umgesprungen.

Damit er ihn loswird, gibt der Kleine nach. »Na gut, was gibt’s?«

Es ist ein Augenblick der Wahrheit. Die beiden sehen sich an, über die Barriere hinweg. Der Kleine sieht, dass am Mantel des Großen ein paar Knöpfe fehlen. Dass seine wollene Mütze ein paar Schritte entfernt in einer Pfütze liegt. War wohl recht anstrengend, der Weg von dem Lokal zur U-Bahn, denkt der kleine Mann. Plötzlich fällt ihm ein, was sein Freund ihm erzählt hat. Die Mütze hatte seine Mutter gestrickt, es war einmal ein Weihnachtsgeschenk gewesen.

Der Große breitet seine Arme aus, aus Hilflosigkeit, vielleicht will er auch seine Offenheit zeigen.

Und dann sagt er:

»Wann hast du mich je so rennen sehen?«

Der Kleine sucht nach einer Antwort, ringt nach Worten. Es fällt ihm nichts ein. Es ist nämlich so, dass der große Mann fast 180 Kilo wiegt. Sie sind seit langem befreundet, aber der kleine Mann hat den großen Mann niemals rennen sehen. Tatsache ist, wie er selbst zugibt, dass ihm schon das Gehen schwerfällt.

Noch immer denkt der Kleine über eine Antwort nach. Je länger das dauert, desto mehr schwindet auch seine Wut. Bis er schließlich sagt: »Na gut, nie.«

Es gibt eine kurze Pause, dann streckt der Große die Hand aus. »Na komm schon, lass uns zurückgehen.«

Und das tun sie denn auch.

Zurück im Restaurant entschuldigen sich der kleine Mann und sein Vater beieinander, und die drei, weiser, wenn auch nicht weise geworden, setzen sich zu Tisch. Zum zweiten Mal. Über Wunder sprechen sie nicht, denken aber ganz sicher daran. Der Große hat einige Mantelknöpfe eingebüßt, und die Wollmütze, die ihm seine Mutter geschenkt hatte, wird auch nie mehr dieselbe sein. Doch irgendwie hatte er dafür etwas anderes, Besseres eingetauscht. Mitten in einer kalten Londoner Dezembernacht hatte er so etwas wie Sonnenschein erzeugt.

Definitiv nichts, so denkt sich der kleine Mann, was irgendjemand sagt, hätte mich in dieser U-Bahn-Station dazu bringen können zurückzugehen. Keine zehn Pferde hätten mich so weit gebracht. Und doch hatte es der Große mit einer simplen Frage zustande gebracht: »Wann hast du mich je so rennen sehen?« Und warum? Weil diese einfache Frage von jenseits der Grenzen des Bewusstseins kam.

Ehrlich währt am längsten


Wie oft am Tag haben Sie das Gefühl, jemand will Sie zu etwas überreden? Etwas zu tun, etwas zu lassen, etwas zu kaufen, irgendwohin zu gehen. Meine Frage betrifft den ganzen Tag, vom Aufwachen bis zum Abend, wenn Sie Ihren Kopf aufs Kissen legen. Zwanzig Mal, vielleicht dreißig Mal? Das schätzen die meisten Leute, denen diese Frage gestellt wird. Deshalb grämen Sie sich nicht, wenn Sie hören, dass das falsch ist: Tatsächlich geht man davon aus, dass sich solche Situationen mindestens vierhundert Mal am Tag wiederholen. Klingt erschreckend, oder? Denken wir einen Moment darüber nach. Worum geht es? Welche Einflussmoleküle dringen durch die Schlüssellöcher unseres Gehirns?

Zunächst ist da die Werbeindustrie. Fernsehen, Radio, Plakate, das Web. Wie oft am Tag sehen oder hören wir Werbung? Richtig. Ziemlich oft. Und es sind noch viel mehr Signale, die ständig auf uns einwirken: der Kerl, der an der Ecke Würstchen zum Verkauf anbietet; der Polizist, der den Verkehr regelt; das Sektenmitglied mit der Erlösungsbroschüre; Politiker, die uns weiß Gott was versprechen; Verkäufer, die auf uns einreden. Ständig will uns jemand zu irgendetwas verführen. Ganz zu schweigen von dem kleinen Kerl in unserem Kopf, der auch immer etwas von uns will. Wir sehen ihn nicht, aber wir hören ihn oft genug. Da kommt einiges zusammen. Das alles nehmen wir kaum noch bewusst wahr. Deshalb denken wir ja auch, dass nur zwanzig, dreißig Mal am Tag jemand etwas von uns will, und nicht mehrere hundert Mal. Und oft genug lassen wir uns davon beeinflussen.

Damit kommen wir zu einer grundsätzlichen Frage. Woher kommt die Kraft der Beeinflussung? Wodurch entsteht sie? Über die Entstehung des Denkens ist schon viel nachgedacht worden, doch was wissen wir über die Entstehung des Umdenkens?

Stellen wir uns eine andere Gesellschaft vor – eine Gesellschaft, in der Zwang das hauptsächliche Mittel der Beeinflussung ist und nicht Überzeugung oder Verführung. Wie sähe ein solches Leben aus? Wie würde es uns ergehen, wenn uns der Würstchenverkäufer jedes Mal, wenn wir beschließen, keine Bratwurst zu kaufen, mit einem Baseballschläger hinterherlaufen würde? Wenn uns, sobald wir ein Verkehrsschild missachten oder zu schnell fahren, ein Selbstschussapparat die Windschutzscheibe durchlöchern würde? Wenn wir Konsequenzen dafür zu tragen hätten, dass wir nicht die »richtige« Partei, die »richtige« Religion wählen, nicht die »richtige« Hautfarbe haben?

Manche dieser Szenarien kann man sich ohne weiteres vorstellen, andere weniger leicht. Worauf will ich hinaus? Es ist ganz einfach: Das Leben in einer Gesellschaft ist überhaupt nur möglich, wenn und weil es Überzeugung und Beeinflussung gibt. Es hat im Verlauf der Geschichte verschiedene Versuche gegeben, diese Behauptung in Frage zu stellen. Doch alle diese Versuche sind früher oder später gescheitert. Überzeugung ist etwas, das uns am Leben hält – und das ist oft genug durchaus wörtlich zu verstehen.

Vor einigen Jahren nahm ich an einer Konferenz in San Francisco teil. Vor meinem Abflug war ich gewaltig unter Zeitdruck und hatte deshalb – wider jegliche Vernunft – kein Hotelzimmer vorab gebucht. Ich wollte mir eines suchen, wenn ich vor Ort war. Aber es fand nicht nur die eine Konferenz statt, die ich besuchen wollte, sondern es gab noch zahllose andere: Alle einschlägigen Hotels waren ausgebucht. Deshalb landete ich mit meiner Zimmersuche in einer extrem gefährlichen Gegend, in der sich sogar Serienmörder nur paarweise auf die Straße trauten.

Jeden Morgen, wenn ich das Hotel verließ, und jeden Abend, nachdem ich die gefährliche halbe Meile von der U-Bahn-Station hinter mich gebracht hatte, stieß ich auf dieselbe Gruppe von Leuten, die sich am Kiosk vor dem Hotel versammelten: einen heruntergekommenen Vietnamveteranen, eine brasilianische Prostituierte und diverse andere Gestrandete und Heimatlose. Allen hatte das Schicksal reichlich zugesetzt. Sie hockten auf dem Gehweg mit ihren abgenutzten Pappkartons, auf denen stand: »Hungrig und obdachlos«,...

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