II. Karol Wojtyla –
„Ein Papst, der von weit her kommt“
Durch die dickste Mauer des finsteren Kerkers genügt der enge Schlitz einer Schießscharte, um die Sonne zu bezeugen. So auch diese jetzt noch undurchsichtige und dumpfe Welt: die flüchtige Begegnung mit einem Heiligen genügt, Gott zu bezeugen.
Henri de Lubac
Zu meiner Arbeit im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz gehörte gelegentlich die Teilnahme an übernationalen Zusammenkünften. Bei einem Treffen in Luxemburg bewog mich ein polnischer Kollege, P. Alojsy Orszulik, zu einem Besuch seines Landes. Aus ihm ergaben sich im Laufe der Zeit viele Kontakte zu den Menschen dort, und ich war dann von 1975 an wohl jedes Jahr mindestens ein Mal in Polen. Im August 1978 – in den Tagen, als Papst Paul VI. starb – machte ich mit Freunden Ferien in der Nähe von Augustów in Ostpolen am Wigry-See. Wir hatten viel Abwechslung beim Schwimmen und bei Bootsausflügen. Einmal erzählte ein anderer Feriengast von verschiedenen mysteriösen Begebenheiten, die ich nicht ernst nahm und gleich unter der Rubrik „Geschichten für das Lagerfeuer“ einordnete: Vorahnungen und Träume von Künftigem, Botschaften Verstorbener, verwunschene Orte, teuflische Machenschaften. Natürlich ärgerte es meinen Mitbruder, dass ich über seine Geschichten eher lächelte. Als die Nachricht vom Tod des Papstes dann durch die Welt ging, traf ich ihn wieder in Augustów auf der Straße. Er sofort: „In der vorigen Woche hat ein mir bekannter Priester geträumt, dass Paul VI. stirbt und der Kardinal von Krakau sein Nachfolger wird. Jetzt ist der Papst wirklich gestorben. Wir haben diesem Träumer schon gesagt: Ein kleiner Prophet bist du bereits; vielleicht wirst du einmal ein großer Prophet sein.“ Ich war verwundert. Als dann freilich Ende des Monats Johannes Paul I. gewählt wurde, vergaß ich die eigenartige Geschichte aus Ostpolen.
„Wyszynski ist gut, Wojtyla ist besser“
Schon vor den erwähnten polnischen Ferien war der erste offizielle Besuch einer Delegation der Bischöfe Polens in der Bundesrepublik Deutschland angekündigt worden. Wohl hatten diese während des Zweiten Vatikanischen Konzils ihren deutschen Amtsbrüdern in einem bedeutungsvollen Brief zugesagt: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ Dennoch hielten es die Bischöfe des Nachbarlandes wegen möglicher Repressalien der kommunistischen Machthaber für gefährlich, über vielfältige private Kontakte und hilfreiche Kanäle hinaus ihrer guten Beziehung zu den deutschen Katholiken öffentlichen Ausdruck zu geben. Nun aber schien ihnen der Zeitpunkt gekommen. Die Reise war für Ende September 1978 vorgesehen. Prälat Homeyer oblag die Organisation. Wenige Tage vor dem Termin rief er mich an, es sei vergessen worden, der Delegation einen Repräsentanten der Deutschen Bischofskonferenz als ständigen Begleiter zuzuordnen; so sei es aber eigentlich nach diplomatischen Gepflogenheiten gefordert. Ob ich das übernehmen könne? Ich hatte zwar einige Firmtermine im Sauerland, konnte aber einen bischöflichen Stellvertreter finden, und so erklärte ich mich bereit.
Im Grunde genommen wurde der Besuch gar nicht als der einer Reisegruppe der Polnischen Bischofskonferenz wahrgenommen; die ganze Aufmerksamkeit galt nämlich Kardinal Wyszynski, ihrem legendären Vorsitzenden, der von einigen eher unwichtigen Herren begleitet wurde. Die Wagenkolonne nahm den Weg von Fulda über Köln, Neviges und Dachau nach Mainz. Im ersten PKW saß dabei der Primas von Polen mit dem jeweiligen Ortsbischof, im zweiten der damals kaum bekannte Kardinal von Krakau, Karol Wojtyla, mit mir. Während der vielen Straßenkilometer hatte ich Gelegenheit, den bislang fremden Mitbruder ein wenig besser kennenzulernen. Mir ist in Erinnerung geblieben, wie feinfühlig und zurückhaltend er auf ihm begegnende Menschen und Situationen reagierte; dass Kardinal Wyszynski ihn um sein Wort bat, wenn eine Stellungnahme zu politisch Delikatem anstand; dass wir über theologische Untersuchungen sprachen; dass ich ihm eines der letzten Exemplare meiner Doktorarbeit anbot und ihm das Versprechen abnahm, es zu lesen. Ohne Frage: In den wenigen gemeinsamen Tagen hatte Karol Wojtyla mich für sich eingenommen. Als ich dann nach Paderborn zurückkam, traf ich vor dem Generalvikariat Prälat Hermann Christoph, einen der Domkapitulare. Er hatte die Reise am Fernsehen verfolgt und sprach begeistert von den Predigten und Reden des Primas. Ich kommentierte mit dem knappen Spruch: „Wyszynski ist gut, doch Wojtyla ist besser.“
„Nun, was sagen Sie denn jetzt?“
Johannes Paul I. war seiner Krankheit und körperlichen Schwäche rascher erlegen, als die Kardinäle bei seiner Wahl vorhersehen konnten. So stand die Kirche am 29. September 1978 erneut ohne römischen Bischof da. Ich war in meinem Heimatdekanat, um den Jugendlichen das Firmsakrament zu spenden. Auf das Äußerste gespannt verfolgte ich in den Medien alle Nachrichten. Vor allem interessierten mich Spekulationen über die Chancen, die ein Nicht-Italiener beim Konklave haben würde. Noch am Nachmittag hatte ich mich bei einem Besuch des eucharistischen Herrn in meiner Taufkirche – statt zu beten – wieder und wieder gefragt, ob sich nun der merkwürdige Traum des polnischen Mitbruders erfüllen würde.
Meine innere Ruhelosigkeit explodierte geradezu, als ich am 16. Oktober abends nach der Firmfeier in Silberg hörte: „Der Kardinal von Krakau ist zum Papst gewählt worden!“ Wir waren mitten im Gespräch mit den Firmhelfern. Ich stand auf – bleich im Gesicht, wie man mir später sagte. Sofort war mir klar: Ich musste bei der Einführung des neuen Papstes in Rom sein! Nie wieder, so schien mir, wirst du den Bischof persönlich kennen, den Christus zum obersten Hirten der Kirche bestellt hat. Erneut hatte ich einen Lückenbüßer für die anstehenden Verpflichtungen zu suchen. Mein Erzbischof gab sein Einverständnis für den Flug. Alles klappte. Unterwegs las ich in der Zeitung, Don Stanislaw Dziwisz, dem ich beim Deutschlandbesuch der Polen begegnet war, würde als Privatsekretär des neuen Papstes im Vatikan bleiben. Also kannte ich wenigstens eine Person in dessen neuem Umfeld. Samstagsspätnachmittags in Rom angekommen, ermöglichte sich für mich leichter als erwartet die Teilnahme an der ersten öffentlichen Eucharistiefeier Johannes Pauls II. Doch mich trieb ein noch vermessenerer Drang: Ich wollte den neuen Papst auch persönlich treffen und ihm meine Freude und Anteilnahme zeigen. Mein Freund aus Polen, Alojsy Orszulik, musste mir helfen. Abends – es wurde schon dunkel – trafen wir uns auf der Piazza del Risorgimento, und ich notierte mir im Schein der Straßenlaterne eine Telefonnummer, über die möglicherweise der Papstsekretär erreichbar wäre. Mein Wunsch ließ mir keine Ruhe, und ich ging allen Möglichkeiten nach, mochten sie auch wenig aussichtsreich sein. Alles geschah unter großem Zeitdruck, denn am Montagvormittag spätestens musste ich nach Deutschland zurück.
Der Einführungsgottesdienst war bewegend und dauerte mindestens drei Stunden. Anschließend begegnete ich an den Kolonaden des Petersplatzes Frère Roger Schutz, dem Gründer der Brüdergemeinschaft von Taizé. Ich kannte ihn schon seit meinem Studium in Frankreich 1958. Beide waren wir überrascht, uns hier wieder zu treffen. Beiläufig hörte ich, der Papst werde am Sonntagnachmittag nicht ausruhen, sondern gegen fünf Uhr die nichtkatholischen Christen empfangen, die seinetwegen nach Rom gekommen waren. War das die Chance auch für mich? Bei Schwester Henriette, der Oberin der Schwestern des Collegio Teutonico, setzte ich mich nach dem Mittagessen ans Telefon und wählte wieder und wieder die Telefonnummer des Privatsekretärs. Erst nach einer halben Stunde erreichte ich ihn und erkundigte mich: „Ist es mir möglich, den Heiligen Vater zu grüßen? Könnte ich zur Audienz mit den nichtkatholischen Ehrengästen zu Ihnen kommen?“ „Wie viele sind Sie?“ „Ich bin allein.“ „Also gut, um 16.30 Uhr.“ Ich borgte mir vom Rektor des Kollegs eine Soutane und mischte mich zur gegebenen Zeit unter die „getrennten Brüder“. Einige, die mich kannten, waren überrascht. Man trennte mich schließlich von der Gruppe und führte mich in einen der Empfangsräume. Nie vorher war ich im Apostolischen Palast gewesen.
Ich wartete. Von irgendwoher waren Reden zu hören, dann Applaus, weitere Reden, Gemurmel. Ich wartete. Es war ganz still, und ich dachte: Offenbar hat man mich vergessen. Da ging plötzlich die Tür auf, und der Papst trat in den Saal. „Nun, was sagen Sie denn jetzt?“, war seine Frage auf Deutsch. Meine verdutzte Antwort: „Ich freue mich so, dass Sie zum Papst gewählt wurden, und ich wollte Ihnen das auch persönlich sagen.“ Wir wechselten einige Worte. Ich erwähnte den Traum des Priesters von Augustów. Und der Papst darauf: „Auch ich habe einen Traum gehabt. Es war während meines Urlaubs in einer einsamen Hütte der Karpaten. Es gab kein Radio, keine Zeitung, keine Post. In diesen Tagen starb Papst Paul VI. Bevor ich irgendeine Nachricht erhielt, habe ich von einem Konklave geträumt, war dann sehr betroffen von der Mitteilung seines Todes und habe innig darum gebetet, dass der Traum für mich nichts bedeuten möchte.“
Unser Gespräch war gewiss nur kurz. Dennoch hatte ich wirklich ein sehr schlechtes Gewissen, diesem Mann an einem solchen Tag die Zeit zu stehlen. Dann sagte er unversehens: „Aber Ihre Doktorarbeit habe ich noch nicht gelesen!“ Da war wieder sein Einfühlungsvermögen für den andern, sein Fremdverstehen – obschon doch am 22. Oktober 1978 die halbe Welt auf ihn schaute und obwohl ich unsere Absprache längst...