September
Die Leichtigkeit des Seins
33 Grad, meine Haare flattern im Wind, eine Brise kühlt mein Gesicht. Einen eigenen Helm habe ich noch nicht. „Non importa, macht nichts“, ruft Giulio, „uns wird schon keiner erwischen.“ Eine Böe pfeift unter meinen Leinenrock und lässt ihn tanzen. Die Zehen, die aus den Ledersandalen lugen, freuen sich über den kühlenden Fahrtwind. Frei wie ein Vogel fühle ich mich, durch die Lüfte schwebend. Nie hätte ich gedacht, dass mich eine Fahrt auf dem Motorroller so glücklich machen könnte. Ich schlinge meine Arme um Giulio, der das Zweirad elegant durch die toskanischen Hügel steuert.
Aufgereiht wie an einer Kette ziehen die Zypressen vor meinen Augen vorüber, knorrige Olivenbäume veranstalten Schattenspiele, hier und da krönt ein erdfarbenes Landhaus einen Hügel. Die Nachmittagssonne taucht alles in ein sattes Rosarot, eine Farbe, die nur das Licht des Südens malt. So unwirklich, als hätte sie ein Künstler erdacht. Jedes Mal wieder hüpft mein Herz vor Entzücken, wenn ich diese Landschaft erblicke. Ganz besonders heute, wo ich zu meinem Häuschen in der Toskana fahre.
Wie so viele Male zuvor habe ich mich in Lübeck ins Flugzeug gesetzt, eine Stunde und vierzig Minuten später in Pisa italienischen Boden betreten und dort den Zug nach Florenz bestiegen. Mit einem Unterschied: Diesmal bleibe ich!
„Auswandern, weißt du eigentlich, was das bedeutet?“, hatten mir meine Freundinnen ins Gewissen geredet. „Ein Leben ohne Familie, ohne uns, deine uralten Freunde, an einem Ort, wo keiner deine Sprache spricht …“ Ich hatte mit der Schulter gezuckt. Ich war verliebt: in die Toskana. Seit langer Zeit, seit einem Urlaub vor fünfzehn Jahren. In Florenz hatte es mich erwischt: Ich kostete vom süßen italienischen Leben, spürte die ungeheure Lebenslust, diese Sonne, die so süchtig macht, weil sie täglich den Körper und die Seele streichelt. Ich inhalierte den Geist der Kunst, die grenzenlose Kreativität, die in Florenz in jedem Stein der Altstadt lebt …
Jedes Jahr kehrte ich zurück; vielleicht suchte ich „ihn“. Im vergangenen Jahr fand ich ihn: Giulio, kaum größer als ich, drahtig, wache blaue Augen, dunkle volle Mähne und immer ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Ein Lebenskünstler, der trotz seiner drei Jobs jeden Augenblick lebt, als sei es der letzte, und der täglich aufs Neue genug Muße findet, mich mit Haut und Haaren zu lieben.
Bis zur letzten Minute konnte er nicht glauben, dass ich kommen und bleiben würde. Immer wieder hatte auch er mich gewarnt: „La vita italiana non è solo dolce, sondern das Leben ist hier vor allem dura, verdammt hart.“ Was soll’s, das ist mein Leben als freie Journalistin auch in Deutschland. Aber wenn schon hart, dann wenigstens da, wo die Sonne scheint, wo ich geliebt werde, und wo ich schon immer leben wollte: in Florenz.
Der deutsche Sommer neigte sich dem Ende zu, und ich brach in meine neue Heimat auf. Ohne es zu wissen, folgte ich bereits dem italienischen Rhythmus, denn auch die Italiener kehren im September heim – aus den Bergen und von der kühlenden See zurück in ihre Stadt. Sie bevölkern die verwaisten Plätze, Parks und Paläste, öffnen ihre Läden, schreiben sich an Universitäten und zu Sportkursen ein, sperren die Tore ihrer Schulen und Kindergärten wieder auf und beginnen ihr Alltagsleben von Neuem – jeden September.
An einer sandfarbenen Dorfkirche biegen wir in die Straße mit dem verheißungsvollen Namen Via San Felice a Ema, den „Weg des Heiligen Glücks an der Ema“. Eine alte Steinmauer entlang, rechts in eine Toreinfahrt. Da steht mein Häuschen. Es ist gemietet, aber doch meins, weil ich es sofort im Herzen adoptiert habe, als Giulio es mir vor drei Monaten das erste Mal zeigte: eine limonaia, ein über hundert Jahre altes Gewächshaus für Zitronen, mitten in einem verwilderten Park. Kletterrosen umranken seine Steinmauern. Eine hüfthohe Rosmarinhecke führt zur komplett verglasten Westfront des Häuschens. Durch die haushohen Fenster fällt das milde Abendlicht in die zwei Zimmer. Alles in allem sechzig Quadratmeter: mein neues Reich, zumindest für die nächsten sechs Monate. So lange wollen wir testen, was aus einer anregenden Distanzbeziehung wird, wenn man die Entfernung von fünfzehnhundert Kilometer auf sieben verkürzt. So weit liegt Giulios Einzimmerwohnung im Zentrum entfernt.
Ich reiße die Glastüren auf, lasse meinen Rucksack auf die klobigen Terracottafliesen plumpsen und mich auf das Sofa vor dem Kamin. Giulio zieht eine Flasche Chianti aus seiner Tasche, kramt in der Küche nach einem Korkenzieher und kommt mit zwei Gläsern zurück.
„Benvenuta in Italia“, sagt er und prostet mir zu.
„Lass uns den Wein in der Abendsonne trinken“, schlage ich vor und trage zwei Holzstühle aus der Küche vors Haus. Giulio folgt mir mit dem Bauerntisch auf die Wiese, in den Schatten eines Olivenbaumes. Wie praktisch, dass in Italien fast alle Wohnungen möbliert vermietet werden. Mein Vermieter hat dabei Geschmack bewiesen. Neben dem nagelneuen, weißen Ausklappsofa ist die limonaia nur mit antikem Holz ausgestattet: vom Bett über den Schrank bis zur Kommode. Historische Lithographien zieren die gekalkten Wände und geben allem einen Touch von Ferienwohnung.
Die Häkeldeckchen in der Küche, die Kristallvasen und Plastikblumen auf dem Kamin werde ich allerdings für die Zeit meines Aufenthalts einmotten. Sind erst meine Kisten da, ersetze ich die geblümten Porzellantassen durch meine schlichten Ikeabecher. Der Hamburger Wasserkocher, die Thermoskanne und das Teesieb werden mit der örtlichen Mokkamaschine in der Küche die deutsch-italienische Freundschaft bezeugen. Die Ecke zwischen Kamin und Badezimmer werde ich zum Büro ernennen, dort werde ich mit Blick über silbergrüne Olivenhaine, Weinberge und Pferdekoppeln meine Reportagen tippen. Bis die Spedition anklopft, habe ich allerdings noch Schonfrist, mache Urlaub und stimme mich auf das italienische Leben ein.
Violett blüht der wilde Thymian auf der Wiese, die ich ab heute meinen Garten nenne. Bei jeder Berührung mit dem Schuh verströmen die Blüten ihren Duft. Ich schlüpfe aus meinen Sandalen, schleudere sie Richtung Häuschen. Drinnen blubbert im Topf die pasta. Mit meinem Weinglas in der Hand zupfe ich ein paar Salbeiblätter von dem Busch neben der limonaia. Etwas Öl dazu und fertig ist unser Abendessen unterm Olivenbaum. Für den Nachtisch pflückt Giulio ein paar Birnen. Ob der Baum noch zu meinem Garten gehört? Irgendwo wird er wohl enden, auch wenn kein Zaun eine Grenze markiert. Von Giulio weiß ich, dass auf dem riesigen Anwesen noch andere Personen wohnen.
Niemand ist zu sehen. Nur die Wäsche, die zwischen zwei Bäumen auf einer Leine hängt, zeugt von der Präsenz meiner Nachbarn. Ein paar Meter weiter steht zwischen den Olivenbäumen ein Verschlag mit Gerätschaften. Wohnhäuser sind nicht in Sichtweite. Allerdings führt ein Trampelpfad von der Wäscheleine zu einem Kiesplatz, auf dem fünf Autos parken. Das Land dahinter schützt eine Reihe gigantischer Zypressen vor neugierigen Blicken.
„Wo wohnt eigentlich mein Vermieter?“, frage ich Giulio, der mir meine Bleibe auf italienische Art über Beziehungen organisiert hat.
„Lassù, dort oben“ sagt er, und zeigt in Richtung des Parkplatzes. Hinter den Zypressen erahne ich auf einem Hügel eine Villa.
„Vuoi fare un giro?“, will Giulio wissen. Klar will ich einen Rundgang machen. Er greift meine Hand und steuert mich erst mal auf der anderen Seite den Hügel hinab. Weinreben klettern zwischen den knorrigen Olivenbäumen. Dazwischen Gras und Wildblumen. Wilde Rosenbüsche begrenzen am Fuß des Hügels das Grundstück. Aus den dichten Ranken lugt ein marmorner Pferdekopf hervor, ein Stück weiter eine lebensgroße Venus, und auf der Wiese ragen sechs Marmorsäulen in den Himmel. Neben einem Brunnen ruht mitten in der Natur eine steinerne Badewanne. Surreal, wie die Kulisse eines Fellini-Films.
„Bis in die Siebziger lebte hier ein verrückter Philosoph, der diesen Park zum Lustwandeln anlegen ließ“, sagt Giulio, als er meine überraschten Blicke sieht, „noch in der Nacht seines Todes klauten Unbekannte die wertvollsten Skulpturen, der Rest überwucherte mit der Zeit. Die heutige Besitzerin erbte das Anwesen. Sie ist Kunsthistorikerin, ihr Sohn Filmemacher. Ich glaube, beide finden ihren verwilderten Garten todschick.“
„Woher kennst du sie?“
„Über Freunde, ich hab mal einen Job für die gemacht …“
Staunend schlendere ich mit Giulio weiter durchs Tal, in dem die Ema plätschert. Nach einigen Metern führt der Pfad den Hügel hinauf. Oben thront das barocke Landgut. Wir klettern den steilen Abhang hoch, passieren ein kleines Haus, einen alten Speicher, eine Wirtschaftshütte – allesamt bewohnt – und stehen vor dem Prunkbau. Sandgelb, verschachtelt mit diversen Eingängen, Terrassen und Fenstern. Davor parken unter drei knorrigen Linden mehrere Autos. Ein Trampelpfad führt zu einer hölzernen Tür an der Seitenwand. Giulio klopft. Wir warten. Er klopft noch einmal.
Die Tür öffnet sich, vor uns steht ein Typ, kaum älter als wir, lange schwarze Lockenmähne, blaues T-Shirt, zerschlissene Jeans, durchlöcherte Turnschuhe. Das soll mein Vermieter sein? Der Filmemacher? Der Sohn der Villenbesitzerin?
„Entrate, kommt rein“, sagt er vergnügt, „es ist ein wenig unordentlich. Meine Frau ist mir grad abgehauen. Prendete un caffè, möchtet ihr einen Kaffee?“
„No, grazie“, antwortet Giulio und bleibt im Eingang stehen, „ich wollte...