Dezember
DÜSSELDORF AIRPORT, um 18.55 Uhr soll mein Flug starten, die letzten Sonnenstrahlen des Tages erhellen die Welt, als wollte sie mich zum Abschied aus dem Ruhrpott ganz besonders grüßen. Etwas verloren sehe ich mich um, ein komisches Gefühl, mit einem One-Way-Ticket in der Tasche. Plötzlich piept mein Handy: „Wo steckst du? Wir sind im Flughafen:–)“ – Meine Eltern.
Als ich sie endlich gefunden habe, falle ich ihnen in die Arme und freue mich, dass wir die Stunde vor dem Abflug verplaudern können und ich meine durcheinanderpurzelnden Gefühle erst mal im Zaum halten kann. Sichtlich bemüht sich meine Mutter, nicht traurig zu wirken. „Ach, es ist eine tolle Chance für euch! Es wird bestimmt alles gut werden. Dominik fühlt sich doch schon recht wohl.“ Dominik, seit kurzem mein Ehemann, hatte im Sommer durch einen Headhunter das Angebot für eine Arbeitsstelle in der Nähe von Zürich erhalten. Erst vor gut einem Jahr waren wir wegen seines Jobs nach Bochum gezogen. Und nun also in die Nähe der schönen Berge? Wir hatten unsere Bedenken, im Vorfeld hörte man nicht nur Gutes über die Schweiz. Aber solch eine Chance ergibt sich nicht oft. Frei nach dem Motto „Wer nichts wagt, der nichts gewinnt“ haben wir uns für den Schritt in die Schweiz entschieden.
„Im Ruhrgebiet gefiel es euch doch gar nicht so gut. Zürich ist bestimmt ein viel besserer Ort, um glücklich zu werden!“ Meine Mutter drückt mich fest an sich, die Tränen in unseren Augen ignorieren wir tapfer. „Sag Dominik, er soll auf meine Kleine aufpassen! Los, Birgit, wir fahren jetzt.“ Mit einer letzten festen Umarmung beendet mein Vater die Szene. Schluck. Jetzt geht’s los!
Ein Blick aufs Handy lässt die Augen erneut prickeln: Meine Freundinnen schreiben so rührende Nachrichten. Sie freuen sich für uns und unterstützen mich bei diesem großen Schritt – und ich werde sie sehr vermissen.
One-Way in ein anderes Land, wie oft hatte ich davon geträumt! In meiner Vorstellung waren es ferne Ziele wie Kanada oder Neuseeland, doch nun bin ich froh, dass es nicht zu weit fort geht von Zuhause. So sehr ich mich auch auf die Schweiz freue, mindestens ebenso habe ich die Angst im Herzen, ob und wie die Freundschaften die neue Entfernung überstehen werden und wie es uns vor Ort ergehen wird. Als die Maschine sich in die Lüfte erhebt, schaue ich auf Düsseldorf, nehme dieses Bild in mich auf: Die Lichter der Stadt glitzern, die Autobahn wirkt wie eine hübsche leuchtende Perlenkette …
Flughafen Zürich, Dominik empfängt mich, und wir fallen uns in die Arme. Endlich ist Schluss mit unserer kurzen, aber anstrengenden Zeit der Fernbeziehung. Und romantisch-galant trägt er mich über die Schwelle der neuen Wohnung – wir müssen beide kichern. Er zeigt mir die noch leeren Räume, erst am nächsten Tag soll all unser Hab und Gut mit dem Umzugsunternehmen ankommen.
Ich bin froh, dass uns unser Weg in ein deutschsprachiges Land geführt hat, ich gehe davon aus, dass ich gut zurechtkommen werde. Im Vorfeld habe ich Bücher gelesen, „Gebrauchsanleitung Schweiz“ und Ähnliches, um zu verhindern, in die ganz großen Fettnäpfchen zu treten. Nun bin ich gespannt, welche der Warnungen und Klischees über die Schweiz sich bewahrheiten werden.
Woche eins in der neuen Heimat. Ich tapse zwischen Kisten-Ausräumen, Wohnung-Einrichten und Ankommen herum. Keinen zu kennen, das hatte ich bereits in Bochum erlebt, und es hat sich nicht allzu schön angefühlt. Ich hatte lernen müssen, dass es nicht leicht ist, neue Kontakte zu knüpfen. Meine Blauäugigkeit in dieser Hinsicht hatte ich also schon längst hinter mir gelassen, irgendwo auf der Autobahn zwischen Aachen und Bochum. Nun weiß ich, dass wir hier eine Weile alleine zurechtkommen müssen. Vor allem, da man den Schweizern eine deutliche Zurückhaltung nachsagt, insbesondere gegenüber Deutschen. Es fühlt sich seltsam an, fremd zu sein und die Sprache eben doch nicht zu verstehen, obwohl es Deutsch ist. Deutsch? Das, was ich im Radio oder Supermarkt höre?
An einem sonnigen Mittwoch fahre ich mit dem Rad durch den Ort zur Gemeindeverwaltung. Als ich mein Velo für den Rückweg aufschließe, schüttele ich unwillkürlich den Kopf. Ich kann es immer noch nicht glauben. Krame in meiner Tasche und hole das neue Ausweisdokument noch einmal hervor: ein grauer, aufklappbarer Beleg für meine Aufenthaltsbewilligung – zu groß für jedes Portemonnaie. Es ist in tristem Sandmatschgrau gehalten, innen mit Foto. Außen steht es schwarz auf weiß, in großen Lettern, damit ich es ja nicht vergesse: „Ausländerausweis“. Schon verstanden. Die Bewilligung läuft, dank Dominiks unbefristetem Arbeitsvertrag, genau fünf Jahre. Wenn wir uns in der Zeit benehmen und wir immer noch unser Einkommen haben, dann dürfen wir einen Antrag auf Verlängerung stellen. Vielleicht erhalten wir dann ja den hellgrünen Ausweis C mit der Niederlassungsbewilligung. Wir werden sehen.
Tags darauf schreie ich bei der Fahrt zum Supermarkt plötzlich vor Begeisterung auf: „Die Alpen!“ So weit weg – und doch: „Ich kann sie sehen, auf dem Weg zum Einkaufen. Wie cool ist das denn?! Unfassbar.“ „Ja, sieht toll aus, nicht?“, lächelt Dominik mich an. Sofort durchströmt mich eine Glückswelle, und alle meine Befürchtungen und Ängste sind wie weggeblasen. Dieses wunderschöne Land wird uns für so manche Strapaze entschädigen, ich bin mir sicher!
Mein Plan sieht vor, den Dezember nur mit Ankommen zu verbringen, um den Job kümmere ich mich wieder im neuen Jahr. Die Absagen, die ich bisher erhalten habe, reichen erst mal. Jetzt steht „Neue Heimat erkunden“ auf dem Programm – und verschnaufen. Ich bin so froh, dass das Timing geklappt hat und ich in der Vorweihnachtszeit hier eintreffe. Überall sind die Häuser und Vorgärten mit unzähligen Lichtern geschmückt. Waren in Deutschland auch so oft leuchtende Rentiere, Sterne und glitzernde Balkone zu sehen? Oder fällt es mir nur auf, weil ich hier mit den Augen einer Fremden unterwegs bin?
Bei den frischen Auslagen eines Bäckers lese ich: Grittibänze. Diese Teigmännchen sehen dem geliebten Weggemännchen, Weckmann oder, wie es im Ruhrgebiet heißt, Stutenkerl doch sehr ähnlich. Das will ich genau wissen. Ich bestelle einen, und die Verkäuferin fragt mich freundlich: „Suscht no öppis?“ Und bemerkt sofort, dass ich sie nicht verstanden habe. Überhaupt nicht. „Darf es sonst noch etwas sein?“, ergänzt sie auf Schriftdeutsch, wie es hier auch oft heißt. Sie sieht mich fragend an: „Hettet Sie gern no äs säckli?“ Ich lächle zaghaft. Wissend erwidert die freundliche Dame mein Lächeln und reicht mir meinen Grittibänz in einer Tragetasche. Da wird der kleinste Einkauf zum Abenteuer. Mein Teigmännchen ist, hmm, süß und fluffig, so muss das sein.
Der Samichlaus genießt hier anscheinend einen ähnlichen Stellenwert wie zu meiner Kindheit der Nikolaus. So gibt es rund um diesen Termin eben die feinen Grittibänze ebenso wie andere Leckereien, die einem die Wartezeit bis Weihnachten wahrhaft versüßen.
Im Supermarkt bin ich irritiert: Irgendetwas fehlt hier. Ich schaue mich um, denke nach, und plötzlich komme ich drauf: Es gibt sie, aber nicht in den Massen wie in Deutschland schon im September: die Schokoweihnachtsmänner. Eher verschämt stehen sie neben den anderen Köstlichkeiten, etwa den bunten Schoggikugeln in allen Farben und Sorten. Und was sehen meine Augen? Printen aus Aachen, aus unserer alten Heimat! Das gibt’s ja gar nicht! Wie schön, dass man heutzutage immer ein Telefon mit Kamera dabei hat, so sende ich direkt einen Gruß in die Herkunftsstadt dieser Leckereien. Daneben türmen sich weitere Berge Schoggi aller Art. Besonders beliebt sind offensichtlich vor allem Lindt & Sprüngli, Chocolat Frey und Cailler. Die beiden letzteren waren mir bislang völlig unbekannt – es sind offenbar hiesige Schoggi-Marken.
Der nächste Morgen begrüßt mich mit leise rieselnden Schneeflocken. Ich kann es nicht lassen, ich zücke die Kamera und mache Fotos aus so ziemlich jedem Fenster. Vorweihnachtszeit und Schnee! Ich strahle übers ganze Gesicht, diese Stimmung und das Winterwetter möchte ich auskosten. Gut gelaunt mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Mein erstes Ziel: der Zürcher Christkindlimarkt in der Bahnhofshalle. Die 150 Holzbuden stehen weihnachtlich geschmückt mit Tannengrün, bunten Kugeln und Lichterketten da, feierlich aufgereiht, und sie laden ein zum Bummeln und Einkaufen. Hübsch sehen sie aus, in den Auslagen findet man Schmuck, Mützen, Kunsthandwerk bis hin zu Käsespezialitäten. Aber irgendwie will sich die typische Weihnachtsmarktstimmung bei mir noch nicht einstellen, etwas passt nicht. Anstatt nett durcheinander dudelnder Weihnachtslieder höre ich vor allem Bahnhofstrubel.Und mir fehlt das typische Winterwetter, nur echt mit Wölkchen vor dem Mund. Der Duft der heißen Maroni, die es hier an vielen Stellen zu kaufen gibt, die Lichter und festlich geschmückten Büdchen – all das kann mich nicht recht von der Bahnhofshallen-Atmosphäre ablenken. Inmitten der Stände bleibe ich stehen und lege den Kopf in den Nacken, um den riesigen Tannenbaum zu betrachten. Die Stadt gilt als eine der reichsten und teuersten weltweit. Da überrascht mich dieser Baum nicht: Fünfzehn Meter hoch und mit 6000 Swarovski-Ornamenten geschmückt, soll diese glitzernde Nordmanntanne, geschützt von einer hohen Plexiglasscheibe, den Wert von etwa einer Million Schweizer Franken haben, sagt man.
Ich schlendere aus dem Hauptportal des Bahnhofs hinaus, vorbei an einem Brunnen, dessen Wasser in...