Einleitung
Eines Tages sagte eine schöpferisch begabte, geistig behinderte Frau mit Down-Syndrom zu ihrer wesentlich jüngeren Betreuerin: «Du bist ein weiter Baum.» Die beiden hatten eine innige Beziehung zueinander, und die Betreuerin spürte, daß ihr damit etwas Wichtiges mitgeteilt wurde, das ihrer beider Verhältnis betraf. Deshalb fragte sie nach: «Was meinst du damit, wieso bin ich ein weiter Baum?» Und sie erhielt zur Antwort: «Ein Baum ist groß, und da wohnen viele Vögel drin. Der Wind rauscht in den Zweigen, und die Sonne scheint. Du bist ein weiter Baum.» So erläuterte die etwa fünfzigjährige Frau der knapp dreißigjährigen im Bild die Seinsweise des Baumes und damit zugleich die Empfindung, die sie in ihrer Gegenwart erfüllte. Sie fühlte sich bei ihr wie unter einem weiten Baum, der Lebensraum spendet für viele Tiere, dessen Blätter von dem Lebenshauch des Windes bewegt werden, der im Licht, in der Wärme steht und zugleich vor sengender Hitze schützt. Ein weiter Baum – er selbst ist üppig gewachsen, ebenso wie man bei ihm und durch ihn wachsen kann. «Du bist ein weiter Baum.»
Die behinderte Frau, die die geistigen Fähigkeiten eines etwa fünfjährigen Kindes besaß, wußte nichts von dem archetypischen Symbol des Lebensbaumes, das sich in allen Kulturen der Erde findet. Sie ahnte nicht, daß schon in den Psalmen des Alten Testaments der Mensch mit dem Baum verglichen wird. Auch dort ist es der beziehungsfähige Mensch – nämlich der, der sein Leben von Gott her begreift und auf ihn hin ausrichtet –, der grünt und gedeiht und reiche Frucht bringt (vgl. Psalm 1,3). Hier deutete die behinderte Frau mit dem Bild des Baumes ihr Beziehungserleben an. Sie spürte die der Entfaltung des Lebens dienende Kraft einer Beziehung, in der wirkliche Begegnung sich ereignet.
Um die Bedingungen solcher Beziehungen, die Martin Buber mit den Worten beschrieb, die ich als Motto wählte, soll es in diesem Buch gehen. Damit versuche ich etwas Unmögliches. Ich möchte sachlich, an Kriterien orientiert, von der Möglichkeit einer persönlichkeitsfördernden, heilsamen Beziehung sprechen, möchte als erklärbares Faktum das betrachten, was sich doch seinem Wesen nach dem rationalen Zugriff entzieht. Die lebendige und Leben gewährende Beziehung bleibt unverfügbares Ereignis, sie läßt sich nicht in ihre Elemente zerlegen, ohne ihre Wirklichkeit zu verlieren, ohne zum Schatten ihrer selbst zu werden. Das Buch wird also dieser Absicht nicht gerecht werden. Deshalb muß ich mein Ziel zurückstecken und mich damit begnügen, das Konzept einer Beziehung zu umreißen, das nur ansatzweise zu vermitteln vermag, was auszudrücken ich anstrebe. Doch der Alternative des Schweigens ziehe ich diese unzulängliche Form der Mitteilung vor.
Der zentralen Frage, wie eine Beziehung zu geistig behinderten Menschen – auch innerhalb des einschränkenden Rahmens einer Institution – zu gestalten sei, damit sie heilsam wirke und psychisches Wachstum erlaube, nähere ich mich im ersten Teil des Buches in drei Schritten.
Im ersten Kapitel verfolge ich die Frage, welche Faktoren die psychische Entfaltung geistig Behinderter einschränken oder unterbinden, wie ihre erhöhte psychische Verletzlichkeit zu erklären sei und welche Lebensbedingungen die bei ihnen so häufig anzutreffenden psychischen Störungen bewirken oder zumindest unterstützen.
Im zweiten Kapitel schildere ich wichtige psychotherapeutische Verfahren, die den Behandlungsbedingungen geistig behinderter Menschen angepaßt wurden. Die Fragen der Beziehungsgestaltung und des therapeutischen Vorgehens, bezogen auf die spezifischen Grundannahmen der jeweiligen Theorie, bilden dabei das Zentrum des Interesses.
Im dritten Kapitel schließlich erläutere ich den Ansatz der entwicklungsfreundlichen Beziehungsgestaltung als eine heilpädagogische Umgangsform mit geistig behinderten Menschen, die sowohl entwicklungsfördernd als auch im begrenzten Rahmen therapeutisch wirkt und der Entfaltung der Gesamtpersönlichkeit dient. Ich verstehe das Konzept der entwicklungsfreundlichen Beziehung – im Sinne Martin Bubers – als Lebensform. Insofern es aber professionell umgesetzt wird, ist es auch fachlich zu begründen und zu reflektieren. Eng verbunden ist es mit der psychoanalytischen Therapie, weil es auf dieselben entwicklungspsychologischen und psychopathologischen Theorien zurückgreift und wie diese auf frühkindliche Erlebnisweisen und Beziehungsbedürfnisse eingeht; gleichermaßen nahe steht es der klientenzentrierten Therapie, mit der es insbesondere die Betonung der klassischen therapeutischen Beziehungsvariablen teilt. Doch wird der Leser auch vielfältige Ähnlichkeiten mit den anderen Therapieformen erkennen. Ausführlich stelle ich in diesem dritten Kapitel zunächst die Grundlagen der entwicklungsfreundlichen Beziehung dar, nämlich ihre Orientierung am Alltagsleben, die Haltung der Bezugsperson und die Entwicklung der emotionalen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten der Persönlichkeit bis zum Erwachsenenalter. Auf dieser Basis erläutere ich das Verständnis von psychischen Störungen und Symptomen. Schließlich erörtere ich anhand einiger für das alltägliche Leben hochbedeutsamer Themenbereiche das praktische, am Entwicklungsstand orientierte pädagogische Vorgehen.
Das vierte Kapitel widme ich der Entwicklung von dreizehn verschiedenen Persönlichkeitsbereichen. In Stichworten werden auch im Alltag beobachtbare Merkmale den einzelnen Altersstufen zugeordnet; denn erst durch die differenzierte Bestimmung des Entwicklungsalters läßt sich beurteilen, ob ein Interaktionsangebot angemessen oder unpassend ist.
Der zweite Teil des Buches dient der Konkretion des Konzeptes. Es soll vorstellbar werden, wie sich im Alltag mit ihm arbeiten läßt, zu welchen Interaktionen es herausfordern kann, welche Veränderungsprozesse möglich sind. Deshalb schildere ich den Umgang mit sechs geistig behinderten Menschen, die sehr verschiedenartige Probleme, aber alle einen kleinkindhaften emotionalen Entwicklungsstand aufweisen. Stephan ist ein achtjähriger Junge, übermäßig brav, der sich nicht zielgerichtet beschäftigt und nicht spricht. Lukas ist ein junger Mann, der so scheu ist, daß er noch nicht einmal um Butter für seine Schnitte Brot bittet. Thomas, ebenfalls ein junger Mann, regt seine Umgebung auf, indem er andere Menschen so lange anstarrt, bis sie ärgerlich reagieren, und indem er ständig dieselben Befürchtungen wiederholt und sich nicht beruhigen läßt. Sabine beißt sich selbst und andere Menschen heftig in die Hände. Gerda tobt bei der geringsten emotionalen Verunsicherung und schlägt sich den Kopf blutig. Maren schließlich, leichter geistig behindert als die übrigen, «provoziert» mit Vorliebe ihre Mitmenschen und zeigt ebenfalls selbstschädigendes Verhalten.
Sie alle überwanden durch die entwicklungsfreundliche Beziehung ihre emotionale Stagnation und haben Vertrauen zu ihrer Bezugsperson und zu sich selbst gewonnen, so daß sich ihre Verhaltensstörungen milderten und sie wichtige Entwicklungsschritte vollziehen konnten. Die eindrucksvollen Erfolge wurden durch einen geringen zeitlichen Betreuungsmehraufwand erzielt. Allerdings verlangten sie ein deutliches «Mehr» an Beziehungsbereitschaft. Deren Kennzeichen sind:
• emotionale Präsenz,
• ein differenziertes entwicklungspsychologisches Fachwissen, das die Wahrnehmung phasenspezifischer Beziehungsbedürfnisse erlaubt,
• die Fähigkeit zu Wertschätzung, Empathie, Echtheit und reflexiver Distanz.
• Arbeiten mehrere Personen zusammen, so sollten sie dieses Konzept alle gemeinsam vertreten.
Die zwischenmenschliche Beziehung bildet den inhaltlichen Mittelpunkt dieses Buches. Sie wird als Grundlage der Lebensqualität der behinderten Menschen erachtet, zumal in ihr die Chance zur psychischen Nachreifung und emotionalen Ausdifferenzierung liegt. Diese Chance und ihre Bedingungen sichtbar zu machen und Wege aufzuzeigen, sie in ein heilpädagogisches Konzept zu integrieren, ist das Anliegen dieses Buches. In ihm wird die Art der Beziehung zum Maßstab für die Bewertung der pädagogischen Leistung erhoben. Insofern verstehe ich das Konzept durchaus als einen Beitrag zur Diskussion über die Qualität in der sozialen Arbeit. Allerdings wende ich mich gegen einen Begriff von Qualität, der sich ausschließlich an sicht- und meßbaren Leistungen in Form materieller Werte oder quantitativ zu erfassender Betreuungsaufgaben und -zeiten orientiert. Vielmehr fühle ich mich den nicht meßbaren, aber in ihren Wirkungen deutlich wahrnehmbaren und beschreibbaren Merkmalen der Beziehungsarbeit verpflichtet.
In Zeiten, in denen sich wandelnde Professionalitätsvorstellungen und Rationalisierungsmaßnahmen die Gefahr mit sich bringen, daß Zuwendung auf eine in Minuten zu leistende, schriftlich ausgewiesene und entsprechend abgerechnete Tätigkeit reduziert wird, ist es mir wichtig, das Augenmerk darauf zu lenken, daß die Qualität einer Beziehung und ihr therapeutischer Effekt sich diesem Rationalitätsschema entziehen. Hingegen kommt es auf die Ich-Du-Beziehung im Sinne Bubers an, in der das «wirkliche...