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E-Book

Du rockst, ich roll

Mein Leben auf vier Rädern - BRIGITTE-Buch

AutorBettina Unger
VerlagDiana Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641073350
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Kranksein ist nichts für Feiglinge
Als Bettina Unger mit 23 Jahren erfährt, dass sie multiple Sklerose hat, taumelt sie zwischen Verzweiflung und Schockstarre. Doch irgendwann stellt sie sich der unheilbaren Krankheit, beendet ihr Studium, promoviert, lernt, mit dem Rollstuhl zu fahren, und verliebt sich. In ihrem Buch schreibt Bettina Unger voller Humor und messerscharf beobachtend über Höhen und Tiefen eines Lebens, dessen Herausforderung sie jeden Tag neu meistert.

Es beginnt mit einem Schleier auf dem linken Auge. Scheinbar harmlos. Doch die Sehnerventzündung ist nur ein Symptom und die Diagnose wird Bettina Ungers Leben von einem Tag auf den anderen aus den Angeln heben: multiple Sklerose, eine unheilbare Autoimmunerkrankung, Ursache bisher ungeklärt. Bettina ist zu jung, um aufzugeben, und doch bricht die Angst vor der Zukunft über sie herein. Bis sie versteht, dass nur ihr Lebenswille helfen kann. Natürlich hat sie immer wieder Einbrüche, der Rollstuhl, in dem sie mit dreißig sitzt, ist zunächst schrecklich. Aber plötzlich kann sie wieder überallhin fahren, und sie lernt Sandro kennen, den Mann aus Neapel, der sie liebt, egal, wohin sie rollt. Spannend und hoffnungsvoll schreibt die Autorin, wie sie ihr Schicksal annimmt und das Leben auch mit MS genießt.

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Leseprobe

Prolog

Berlin, April 2001

Es begann ganz klassisch.

Paula hat mich zu einem der Essen eingeladen, die sie in unregelmäßigen Abständen veranstaltet. Oft sage ich kurzfristig ab, weil es mir nicht gut geht, ich nicht das Gefühl habe, mich in einer größeren Runde von Menschen behaupten zu können. Aber an diesem Abend parke ich mein Auto direkt auf dem Gehsteig vor ihrem Haus. Früher hätte ich Hemmungen gehabt, dies zu tun, heute ist es für mich selbstverständlich geworden. Nachdem ich meine Gehhilfe vom Beifahrersitz in die Hand genommen und den Wagen verriegelt habe, gehe ich langsam und vorsichtig die wenigen Schritte bis zur Haustür. Ich drücke auf den Klingelknopf, der neben dem Nachnamen meiner Freundin angebracht ist.

»Hallo?«, fragt Paula über die Sprechanlage.

»Ich bin es, Bettina«, antworte ich und stütze mich auf meine Gehhilfe.

»Warte, ich bin gleich unten.«

Mit strahlenden Augen öffnet Paula wenig später die Tür.

»Warst du beim Friseur?«, fragt sie, während sie mich eingehend betrachtet. »Sieht toll aus, die Haare ein bisschen kürzer. Hätte ich nur so schöne Locken wie du … Aber was reden wir hier draußen über Frisuren. Jetzt komm rein, ich freue mich, dass du da bist.«

Paula hält mir nicht nur die Tür auf, sie hilft mir auch beim Hinaufsteigen der Eingangstreppe. Ganz selbstverständlich, das war seit unserer ersten Begegnung nicht anders. Während sie mich begrüßt, mir zwei Küsse auf meine Wangen gibt und mich unterhakt, denke ich weiter über unsere Haare nach. Früher hätte ich viel darum gegeben, so glattes dunkles Haar zu haben wie Paula, nicht meine Locken, die in alle Richtungen standen und oft auch jeden Tag anders. Glattes, fast schwarzes Haar, das war mir immer elegant und zugleich sexy vorgekommen. Überhaupt: Mit ihrer jungenhaften Figur erinnert Paula mich oft an die französische Schauspielerin und Sängerin Charlotte Gainsbourg, nur ihr Gesicht hat etwas von einer italienischen Renaissance-Madonna.

Die Eingangstreppe ist geschafft, Paula zieht mich in den Hausflur, ich stütze mich zugleich auf meiner Gehhilfe ab. »Das Auto kann auf dem Bürgersteig stehen bleiben«, sagt sie. »Das parkt Bernhard dann später an einem anderen Ort, wo es niemanden stört oder behindert.« Bernhard ist Paulas Mann.

Wir haben das Treppenhaus erreicht. Meine Freundin klemmt sich die Gehhilfe unter die Achseln, nimmt mich fester am Arm, und wir gehen gemeinsam hinauf zu ihr in den zweiten Stock. Ich halte mich am hölzernen Handlauf des Geländers fest. Stufe für Stufe bewältige ich, spüre, wie Paula sich sofort meinem Rhythmus anpasst. Der Aufstieg ist mühsam, dauert mehrere Minuten, bis es endlich geschafft ist.

Ehrlich gesagt, mir war auch an diesem Abend nicht nach Gesellschaft. Ich hatte mich mit meinen Eltern gestritten und konnte die Gedanken daran nicht wegschieben. Es war nicht das erste Mal, dass wir uns in den Haaren hatten, und die Auseinandersetzung beschäftigte mich mehr, als mir guttat. Stets ging es um meine Zukunft – sie hatten andere Vorstellungen als ich. Die Diskussionen waren jedes Mal zermürbend und die Tage nach den Streits mehr als deprimierend. Nur mit Mühe konnte ich die vierundzwanzig Stunden bewältigen, und stets hatte ich das Gefühl, zu nicht mehr als genau diesem fähig zu sein: den Tag einfach zu überstehen. Meine Freundinnen, die nicht viel älter oder genauso alt waren wie ich, also Anfang dreißig, hatten nicht diese Probleme mit ihren Eltern. Sie vertraten ihre Meinungen selbstbewusst, aber sie waren auch nicht auf Gehhilfen, Rollstühle und andere Menschen angewiesen.

Die letzten Differenzen mit meiner Mutter und meinem Vater hatten mir besonders zugesetzt. In der vergangenen Woche hatte ich mich vollkommen eingeigelt und die Wohnung nicht mehr verlassen, nicht einmal für einen kurzen Besuch in einem Café oder zum Einkaufen. Als Paula dann anrief, um mich daran zu erinnern, dass an diesem Abend ja ein paar Freunde von ihr kämen und ich doch wohl nicht die Einladung vergessen hätte, dachte ich an die letzten einsam verbrachten Tage. Ich hatte keinen großen Appetit gehabt, und so aß ich mittags und abends lustlos Käsebrote (die Marmeladenbrote zum Frühstück waren geradezu eine Abwechslung). »Hallo, Bettina, bist du noch dran?«, fragte Paula. Schließlich gab ich mir einen Ruck und sagte, natürlich hätte ich die Einladung nicht vergessen, sie könne mit mir rechnen. Meine Stimmung würde, so überlegte ich, dadurch bestimmt nicht besser, aber wenigstens käme ich unter Leute – und die Aussicht auf ein gutes Essen erschien mir auch nicht ganz nebensächlich.

Paula öffnet die angelehnte Haustür, führt mich in den Flur. Vorher hatte sie mir meine Gehhilfe zurückgegeben. An der Garderobe hängen bereits einige Jacken, die Gästen gehören müssen. Sie sind mir fremd. Ich lehne die Stütze in eine Ecke des Flurs und überlasse der Freundin meinen schwarzen Trenchcoat, den sie zu den anderen Sachen hängt. Danach betritt sie mit mir das Wohnzimmer. An dem großen ovalen Tisch sitzen einige Leute. Auf der weißen Tischdecke registriere ich Weinflaschen, Gläser, Besteck und Servietten, eine Karaffe Wasser und Schälchen mit Nüssen. »Bedient euch«, sagt Paula und deutet auf die Sachen. Dann blickt sie mich an und fügt hinzu: »Das ist übrigens meine Freundin Bettina.« Unbekannte Gesichter sehen mich an. Paula hatte mir schon bei unserem Telefonat vor einigen Stunden erklärt, dass ich die meisten ihrer Gäste nicht kennen würde. Wissen sie etwas von meinen Problemen? Von meiner Krankheit? Noch während ich das überlege, verwerfe ich diese Gedanken. Paula hatte bestimmt nichts davon erzählt. Über andere Menschen derart zu reden, das passt nicht zu ihr. Sie ist der Ansicht, dass sich jeder sein eigenes Urteil über einen anderen bilden solle, ohne vorgefasste Charakterisierungen.

Sie verlässt das Zimmer und kommt nach einer Weile mit einem Teller Oliven, eingelegten Tomaten und Brot zurück. Es klingelt erneut. »Wenn ihr etwas anderes trinken wollt, gebt Bescheid«, sagt sie im Hinausgehen.

Verhalten bedienen sich die Gäste. Die Gespräche gehen kaum über ein »Gibst du mir bitte die Oliven?« hinaus. Ich schaue mich in der großen Wohnung um. Hohe Decken, gedämpftes Licht, über der Couch unter den beiden Fenstern ein weißer Überwurf, daneben, auf dem Boden, ein alter Tonteller mit Zitronen. Paula und Bernhard haben einen guten Geschmack. Mir gegenüber sitzt ein Pärchen und schweigt. Die Frau heißt Imma, so stellt sie sich mir gegenüber vor. Von Imma habe ich zuvor gehört, sie sei eine alte Freundin von Paula.

»Und was machst du so?«, fragt Imma. Ich habe das Gefühl, dass sie dies nicht aus wirklicher Neugierde wissen will, sondern um nicht länger schweigen zu müssen.

»Ich will meine Doktorarbeit beginnen«, erwidere ich.

»Genau wie Paula.« Etwas mehr Interesse ist der Stimme zu entnehmen.

»Ja, genau wie Paula.«

Ich stoße diese Worte regelrecht aus, will sie am liebsten gar nicht gesagt haben, weil ich keineswegs weiter darauf eingehen will. Möglicherweise werde ich noch gefragt, über welches Thema ich promovieren will. Aber genau darüber möchte ich nicht sprechen. Die Promotion war nämlich einer der Streitpunkte mit meinen Eltern gewesen. Sie konnten nicht verstehen, warum ich mir bei meinem »gesundheitlichen Zustand so etwas antun« wolle. Ich solle doch lieber etwas »Behindertengerechtes« machen. Aber eine Promotion war angesichts meines »Zustands« genau das Passende.

Wäre mir heute danach, Small Talk zu betreiben, hätte ich Imma leicht zu einer Plauderei über dieses oder jenes einladen können, hätte ich gekonnt von der Dissertation ablenken können. Beispielsweise hätte ich erzählen können, wie ich Paula kennengelernt hatte, und dann hätte ich fragen können, bei welcher Gelegenheit sie, also Imma und Paula, sich getroffen hätten. Ja, das hätte ich tun können. Aber ich mache es nicht. Es ist mir zu anstrengend. Jedes einzelne Wort bereitet Mühen. Ich fühle mich von den Meinungsverschiedenheiten mit meinen Eltern immer noch erschöpft und wie betäubt.

Ich seufze leise und sehe mich zerstreut in der Runde um – ein höfliches Verhalten ist etwas anderes. Imma hat es sofort wahrgenommen und schaut sich ebenfalls um.

Inzwischen sind weitere Gäste eingetroffen. Zwei Paare nehmen am anderen Tischende Platz. Die jeweiligen Frauen nickten Imma und ihrem Freund zu, ohne mich zu beachten oder sich vorzustellen. Paula verschwindet mit zwei Freunden, die vor meiner Ankunft schon da gewesen waren, lachend und gestikulierend in der Küche.

Mit fragendem Blick hält mir Immas Freund die geöffnete Weinflasche hin. Ich nicke nur, ohne weiter mit ihm in Kontakt zu treten. Du hättest ruhig nach seinem Namen fragen können, rüge ich mich selbst. Doch den richtigen Moment habe ich verpasst. Er schenkt ein, und ich ergreife das Glas, trinke einen Schluck und blicke mich weiter um. Links neben dem Sofa hängt ein Gemälde. Auf grauem, flächigem Untergrund sind Teile eines Getriebes zu sehen – Motor, Schrauben, Muttern, Verbindungselemente. Links davon ist ein rotes Huhn platziert. Es kommt mir vor, als könnte mich jeder an diesem ovalen Tisch so mustern: in Einzelteile zerlegt. Ich fühle mich bloßgestellt.

Aus den Augenwinkeln beobachte ich jetzt Imma. Sie ist sehr schlank, streicht sich wieder und wieder die Bluse glatt und die Tweedhose, fast zwanghaft. Unablässig sieht sie zu ihrem Partner, wenn auch nur kurz, aber noch immer sprechen sie nicht miteinander. Anschließend beugt sie sich zu einem der Männer,...

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