Vorwort
EIN UNBEHAGEN
oder von der Allgegenwart der Märkte und der Frage, was passiert, wenn (das) Leben selbst zur Ware wird
Er hat gegessen. Er hat getobt. Jetzt malt er, die Faust um einen grünen Filzstift geschlossen, konzentriert. Dann legt er den Stift weg und sagt in die Runde: »Es ist schön, dass ich auf der Welt bin.« Henri ist ein kleiner Junge, vier, vielleicht fünf Jahre alt. Manchmal brüllt er los, einfach so. Er schlägt auch gerne, aber er hat schon gelernt, es nur einmal zu tun und den unweigerlich folgenden Ermahnungen angemessen zerknirscht zu begegnen, den rosigen Mund großmütig verzogen. Henris Mutter hebt die Schultern und lässt sie langsam wieder sinken, während sie ausatmet und zum x-ten Mal hintereinander sagt: »Henri, nicht …« Und dann dieser Satz, Worte, die hell genug sind, an Saturn und Neptun vorbei ins Tannhäuser Tor zu leuchten, nimm das, du gleichgültiges Universum.
»Es ist schön, dass ich auf der Welt bin.« Sein eigenes Leben wahrhaftig zu leben heißt, immer wieder zu diesem Gefühl zurückzukommen. Dieses Gefühl ist der Anfang von allem und vielleicht auch der letzte Grund. Ein Grund, den man in sich selbst finden muss, weil es nicht genügen würde, wenn jemand zu einem sagte: »Du singst aber gut« oder »Du bist klug«. Henri beispielsweise ist ein vollkommen nutzloser kleiner Teufel. Er hat auf der Welt noch nichts hinterlassen als Gestank, Geschrei und kreischendes Gelächter. Er kann nicht Ordnung halten, er hört nur, wenn es ihm passt, und auch auf der Toilette geht es immer noch ziemlich oft daneben. Es gibt folgsamere, intelligentere und schönere Kinder, aber es gibt nur einen Henri. In der gefühlten Unendlichkeit zwischen Urknall und dem Verglühen oder Erkalten unseres Planeten wird es niemals einen zweiten Henri geben. Wenn man ihn eine Weile schreien gehört hat, könnte man meinen, das sei auch besser so. Andererseits ist genau diese Einmaligkeit das, was jedes einzelne Mitglied unserer Spezies zugleich mit den anderen verbindet und von ihnen trennt.
Dass es deshalb schön ist, dass ich oder du oder wir alle auf der Welt sind, ist einerseits wahr, andererseits ein sozusagen abhängiges Urteil, weil es im Kern besagt: Weil man dich nicht nochmal gießen kann, bist du kostbar. Henri weiß nichts von seiner Einmaligkeit, und nichts interessiert ihn weniger. Er weiß ziemlich viel über Haie und Tiger und Ketchup, und er kann seinen Namen schreiben in Buchstaben, die schon fast gleich groß sind. Es ist schön, dass es ihn gibt, weil es schön ist, dass es ihn gibt. Diese Freude braucht keinen Grund, wie die Liebe keinen Grund braucht und doch tausend aufzählen könnte, wenn sie es müsste. Henri saß einfach am Tisch und hat gemalt und es war alles auf eine unaufgeregte Weise okay, also Essen da und Mama da und andere Menschen da, und das zusammen hat irgendwie genügt, um einen Satz auszusprechen, der ausreicht, um darauf ein halbes Leben zu bauen. Und die andere Hälfte? Gleicher Satz, andere Richtung. »Es ist schön, dass du auf der Welt bist.«
Wie geht ein Mensch verloren und mit ihm das Gefühl, dass es nicht nur schön, sondern auch bedeutungsvoll ist, auf der Welt zu sein? Und wie geht zugleich die Welt verloren als ein Ort, an dem es Sinn und Liebe und Genießen gibt? Und was hat das eine mit dem anderen zu tun? Denn etwas stimmt nicht. Etwas stimmt ganz und gar nicht, und dieses Buch ist der Versuch, mein eigenes Unbehagen in Worte zu fassen. Denn es scheint, als würde sich die Welt nicht nur immer stärker beschleunigen, sondern dabei auch zunehmend aus dem Takt geraten. Als gäbe es mehr Angst und weniger Leichtigkeit als noch vor einigen Jahren. Woran liegt das? Sicher spielen die Folgen von Globalisierung und Digitalisierung eine Rolle. Aber wesentlicher scheint mir, dass wir in einer Zeit leben, in der Märkte und damit Marktstrukturen immer mehr Raum einnehmen. Mit ihnen wächst das Interesse an effizienten Abläufen, messbaren Ergebnissen und maximalen Erträgen. Über diese Ökonomisierung unserer Welt ist schon viel geschrieben worden. Diese Bücher sprechen vom Gespenst des Kapitals, von der Geschichte der Schulden, von dem, was man für Geld nicht kaufen kann. Einen kommenden Aufstand soll es geben, empören sollen wir uns und engagieren sollen wir uns auch. Und natürlich Widerstand leisten – gegen die Ausbeutung, gegen die geistige Verflachung, gegen das ganze falsche Leben.
Aber was genau haben die Märkte damit zu tun? Was sind überhaupt Märkte? Zunächst Orte, an denen Dinge verkauft und gekauft werden. Das heißt, dass alles, was dort gehandelt wird, beziffert wird, also einen Preis hat. Dieser Preis richtet sich nach Angebot und Nachfrage. Preise ergeben sich also durch Vergleiche. Deshalb ist der Marktwert, also der Preis einer Sache, immer relativ – während menschliche Werte als absolute Werte, also Werte an sich, definiert und gesetzt werden müssen. Warum sind Märkte interessant? Weil sich heutzutage nicht nur alles in einen Markt zu verwandeln scheint, sondern weil Marktnormen dabei andere Normen verdrängen. Oder besser gesagt: andere Normen korrumpieren. Wenn man zum Beispiel soziale Privilegien einfach kaufen kann, entstehen neue Formen der Ungerechtigkeit: Wenn Bildung beziehungsweise Hochschulzugänge für Geld zu haben sind, profitieren allein jene, die es sich leisten können. So wird soziale Mobilität verhindert. Von sozialer Gerechtigkeit ganz zu schweigen. Marktstrukturen neigen dazu, Machtverhältnisse zu verschärfen oder gar zu zementieren. Andererseits verlieren Dinge, die einen Preis zugewiesen bekommen, zugleich an Wert. Wenn Doktorarbeiten käuflich sind, wird die Akademie dadurch entwertet. Wenn man eine Festrede für die Hochzeit eines Freundes im Internet erwirbt, ist sie irgendwie schal. Schenkt man Geld statt eines ausgewählten Präsents, verschwinden die Liebe und Achtsamkeit des Gebens. Alles, was übrigbleibt, ist eine Summe, die dem anderen sagt, was er mir wert ist. Oder wie viel ich mir diese Freundschaft kosten lasse. Womit wir beim Stichwort wären. Es geht um Geld. Aber es geht nicht nur um Geld. Es geht um Profit. Es geht darum, den größtmöglichen Nutzen mit den geringstmöglichen Kosten zu verbinden. Es geht um Effizienz, Kontrolle und Berechenbarkeit. Es geht um Ausbeutung. Damit einher geht eine ganz bestimmte Art und Weise, die Welt zu sehen. Das ist ein kühler Blick, der abwägt, was nützlich und was überflüssig ist, wo man sparen kann und wo man investieren sollte. Und was der Mühe nicht mehr lohnt. So brauchbar diese Überlegungen vielleicht beim Schrotthandel sein mögen, so falsch erscheinen sie, wenn es um die Natur, uns Menschen oder unsere kulturellen und sozialen Institutionen geht. Doch immer noch wird, vor allem von den klassischen Wirtschaftswissenschaften, ein Menschenbild propagiert, das die zunehmende Allgegenwart von Märkten nicht nur legitimiert, sondern auch fördert. Der sogenannte »homo oeconomicus« ist rational. Er handelt nach einer blitzschnell kalkulierten Kosten-Nutzen-Rechnung, die ihn befähigt, aus jeder Situation das Beste für sich herauszuholen. Wenn diese Erklärung über das Wesen des Menschen gültig ist oder geglaubt wird, erscheinen Märkte sowohl vernünftig als auch gerecht. Doch zugleich scheinen Märkte diese Art des rationalen Verhaltens zu produzieren, weil Kalkül die beste Weise ist, innerhalb von Marktstrukturen zu agieren. Was macht es mit dem Menschen, wenn es sowohl vernünftig als auch gerecht erscheint, auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein? Er neigt dazu, sich dieser Erwartung anzupassen. Weil er alles richtig machen will. Und weil wir Menschen von Natur aus ziemlich egoistisch sind. Aber wenn Berechnung, Eigennutz und Konkurrenzdenken nichts mehr sind, wogegen man ankämpfen sollte, weil es verwerflich ist und widerwärtig, sondern etwas, das richtig scheint, gewinnbringend und sogar glücksverheißend, dann haben wir ein Problem. Warum soll ich denn alle anderen Menschen respektieren oder gar lieben, wenn für mich nichts dabei rausspringt, außer vielleicht ein paar gute Gefühle? Warum soll ich dem anderen was abgeben, wenn doch jeder an allem selber schuld ist? Und warum soll ich mich für irgendwas einsetzen, was ich alleine sowieso nicht ändern kann?
Was macht dieses Denken mit uns und unserer Welt? Es leuchtet ein, dass der einzelne Mensch Empathie, Komplexität und Herzenswärme zu verlieren droht – ob als eigennütziger Marktgewinnler oder als resignierter Marktverlierer. Aber auch unsere gemeinsam bewohnte Welt scheint sich dadurch in einen kälteren und gröberen Ort zu verwandeln. Doch der Mensch ist nicht nur Marktteilnehmer – er selbst ist zum Produkt geworden. Damit einher geht die Notwendigkeit unablässiger Selbstoptimierung. Ständige Selbstbeschau, -kontrolle und -ausbeutung sind das Wesen des Markt gewordenen Menschen. Dieser Vorgang ist so umfassend und folgenreich, dass dieses Buch nur gewisse Aspekte beleuchten kann, wie zum Beispiel unsere Beziehungen zu unserem Körper, zur Natur, zu uns selbst und zu unserem Gegenüber.
Optimierung scheint immer noch ein positiver Begriff zu sein, verbunden mit dem Projekt der Moderne und dem Glauben an den Fortschritt, soll doch alles schneller und besser werden, innovativ und nützlich zugleich. Doch dahinter stecken oft genug Selbst- und Fremdverwertung, Gleichmacherei und Überwachung und ein zugleich immer fühlbarer werdender Verlust von Sinn und Lebendigkeit. Im Zeitalter der Optimierung wird der menschliche Leib zum Produkt, die Natur zur Ressource und der andere Mensch zum Spielstein für die eigenen Absichten. Der Einzelne ist dazu angehalten, sich einerseits zu Markte zu tragen und sich andererseits als Unternehmer seiner selbst immer umfassender auszubeuten. Das ist auch...