I.
Das gebrochene Versprechen
Der Wille meines Vaters war eindeutig. An einem Donnerstag im August 2006 hat er sich, schon spürbar geschwächt, noch einmal aufgerafft, trat vor den Notar in der Tübinger Karlstraße und unterzeichnete eine »Vorsorgliche Verfügung für die medizinische Betreuung im Fall meiner Entscheidungsunfähigkeit«. In dieser Niederschrift seiner »Wünsche und Forderungen an Bevollmächtigte und Ärzte, an Familie und Freunde« untersagte er – wie er dachte unmissverständlich – alle lebensverlängernden Kunstgriffe, falls er, nicht mehr Herr seiner selbst, eines Tages nur noch hilflos vor sich hinvegetiere. »Wenn ich länger als sechs Wochen geistig so verwirrt bin, dass ich nicht mehr weiß, wer oder wo ich bin und Freunde und Familie nicht mehr erkenne, dann verlange ich, dass alle medizinischen Maßnahmen unterbleiben, die mich am Sterben hindern.«2
Die mit Dienstsiegel beglaubigte Willensbekundung eines damals 83jährigen Mannes, der das Ende seiner Tage nahen sah, stand rundum im Einklang mit dem Gesetz und war, darauf hatte er im Schlussabsatz noch einmal verwiesen, »der letzte und endgültige Ausdruck meines Willens«. Hinter seiner Signatur: ein Bindestrich. Das war es. So soll es sein. Causa finita! Meine Mutter unterzeichnete ein Dokument gleichen Wortlauts. Weit mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Hochzeit haben sich die beiden noch einmal ein großes Versprechen gegeben. Es besaß rechtsverbindlichen Charakter.
Allein: Meinem Vater hat seine finale Weisung, die Hinterlegung einer Patientenverfügung, in der Not keinen Deut geholfen. Er hatte eingefordert, »dass nichts gegen den Lauf der Natur getan wird«, aber er wurde partout am Leben gehalten. »Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Walter Jens, geb. 08.03.1923 in Hamburg«, als den ihn die Urkunde ausweist, durfte, so hoffnungslos sich sein Zustand auch ausnahm, einfach nicht sterben.
In seiner Vorauserklärung hatte er auch von der Angst gesprochen, durch eine dauerhafte Schädigung des Gehirns die Fähigkeit zur Kommunikation zu verlieren. Kein Jahr nach seinem Besuch beim Notar war er nicht mehr in der Lage, seinen Namen zu schreiben. Die Demenz hatte sein Gedächtnis, die kognitiven Fähigkeiten, weitgehend zerstört. Schon seit Anfang 2004 ging es rapide bergab. Mein Vater begann allmählich zu verlöschen.
Der Abstieg – ich habe mir das Trauma 2009 in einem Buch von der Seele geschrieben – war elend. Für ihn, aber auch für die Menschen, die seinen Verfall hautnah erlebten. Er hat unendlich gelitten, als ihm, dem einstigen Gedächtnis-Virtuosen, von Woche zu Woche immer mehr Namen entfielen und bald darauf auch die örtliche Orientierung entglitt. Er wolle nach Hause, hat er immer wieder gesagt, und wähnte sich abwechselnd im Schwarzwald, in Freiburg oder in seiner Vaterstadt Hamburg – an Orten, die ihm einmal wichtig waren – und saß doch, uns lang schon entschwunden, am heimischen Mittagstisch in unserem Haus auf dem Tübinger Apfelberg. Und wir sahen der gespenstischen Veränderung seiner Person ohnmächtig zu.
Immerhin, in den ersten Jahren konnte er auch Freude empfinden. Frau H., seine Pflegerin seit 2007, eine barocke, urschwäbische Bäuerin, hat ihn in ein Leben jenseits der Bücher, der Abenteuer am Schreibtisch geführt. Er, dem Essen sein Leben lang gleichgültig war, begann auf einmal, mit Wonne zu spachteln. Maultaschen und vor allem Berge von selbstgebackenem Kuchen. Das war ein Stück Lebensqualität. Er hatte – in all seiner Beschränkung – noch schöne Momente.
Der Ausflug im November 2008 auf den Hof von Familie H., wo er so viele Nachmittage verbrachte, wird mir immer in Erinnerung bleiben. Mein Vater, den vordem, weil er Asthmatiker war, jedes Tierhaar in Panik versetzte, saß vor einem Stall, hielt – mit sich und seinem Dasein im Reinen – ein paar Möhren in der Hand und fütterte Karnickel. So als sei das für ihn das Normalste der Welt. An sein früheres Leben als Denker und Deuter, als Rhetor und moralische Instanz erinnerte nichts mehr. Die Fallhöhe hätte grausiger kaum sein können. Und doch war ihm da noch viel von der eigenen Würde geblieben.
Sehr bewusst habe ich damals diese Szene bukolischen Friedens, die Geschichte von meinem kreatürlichen Vater, ans Ende meines Erinnerungsbuchs gestellt, heute denke ich, auch um mir selbst Trost zuzusprechen – und das Abschiednehmen ein klein wenig erträglicher zu machen: Schau, sogar in der Demenz, so unbarmherzig, so unumkehrbar sie das Hirn des Kranken auch zerstört, ist nicht alles einzig nur schrecklich.
Kleine Portionen von Vitalität halten sich lang. Wenn meinem Vater etwas gegen den Strich ging, wusste er sich zu wehren und hantierte zur Not mit den Fäusten. Er war noch in der Lage, sich auf den dünn gewordenen Beinen zu halten und – wenn auch recht unbeholfen – ein paar Schritte zu gehen. Vor allem – und das war elementar, gerade für ihn: Er konnte sprechen. Ein wenig zumindest. Der Sinn seiner Worte blieb uns – und vermutlich auch ihm – meist dunkel, aber teilgenommen am Alltag hat er auf seine Weise eben doch.
Nur, dieser Zustand gelegentlicher Behaglichkeit war nicht von Dauer. Rund drei Jahre vor seinem viel zu lange herausgezögerten Tod, am 9. Juni 2013, schienen die Kräfte aufgebraucht. In den Stunden, in denen er wach war, saß er, zunehmend apathisch, in seinem vom Sanitätshaus geliehenen Rollstuhl, die Wangen wurden schmäler und schmäler, seine Augen waren glasig und schauten ins Leere. Ein lebloses, fahles Gesicht. Ein müder, wunder Körper. Ein großes, bald rund um die Uhr zu wickelndes Kind. Den Gutteil des Tages hat er – halb dösend, halb schlafend – in seinem Bett verbracht. Mitunter schien er gegen sein Schicksal aufzubegehren. Dann konnte er richtig derbe werden; meist aber hat er einzig ein paar Wortfetzen herausgebracht. Und nicht selten schwieg er über Stunden. Für ihn, denke ich, war’s eine stille Form des Protests.
Nein, seine letzten Leidensjahre lassen sich nicht mit munteren Anekdoten verklären. Er war sterbenskrank. Er hatte oft Fieber und – nach allem, was wir wissen – auch erhebliche Schmerzen. Am Schluss quälten ihn offene Wunden. Die Pilz-Infektionen, Folgen eines erbarmungslosen Einsatzes von Antibiotika, ließen sich medikamentös nicht mehr stoppen. Er hat, wie seine Pflegerin in einem Interview nach seinem Tod kundtat, »am Po hinten richtige Löcher« gehabt. Sein Freund und Mitstreiter Hans Küng, der ihn – anders als so viele Gefährten aus besseren Zeiten – bis zuletzt regelmäßig besuchte und mit Schweizer Schokolade versorgte, wünschte ihm am Ende nur noch eines: dass er endlich sterben dürfe. »Er war in einem erbärmlichen Zustand.«
Schon 2007 ist er – meine Mutter war nach einer komplizierten Hüft-OP in der Kur – nachts die Treppen hinuntergestürzt und hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Auf Alarmruf seiner Pflegerin bringen ihn Sanitäter in die Neurologie. Die Patientenverfügung gilt. Aber Papier ist geduldig.
In der Klinik wird er ans Bett fixiert. Er hat gestrampelt und geschrien. Er reißt sich die Kabel, Schläuche und Sonden vom Leib. Er scheint zu spüren, dass er, dem das Recht auf Selbstbestimmung einst so wichtig wie das Atmen war, der Apparatemedizin nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Sein damaliger Hausarzt, der ins Krankenhaus eilt, sagt mir: »So wollte Ihr Vater niemals leben. Und so wollte er niemals sterben.« Nach 30 Stunden haben ihn sein Arzt und sein von mir alarmierter Anwalt wieder freibekommen. Er wurde entfesselt. Aber vielleicht hätte er schon damals sterben dürfen, wenn man es ihm nur gestattet hätte. Ich gebe zu: Das war ein Grenzfall. Da schien es kaum möglich, sich in seinem Sinne zu entscheiden. Er lag blutend auf den steinernen Stufen. Was zählt mehr in diesem konkreten Augenblick: die akute Unfallversorgung oder der schriftlich hinterlegte Wille eines unheilbar Erkrankten?
Von den Folgen des Sturzes hat er sich nie wieder wirklich erholt. Der nächtliche Unfall freilich war keineswegs die einzige Chance, die sich meinem Vater bot, um seinem elenden Dasein zu entkommen. Ich erinnere mich konkret an vier Lungenentzündungen in seinen letzten Jahren. Und zweimal erkrankte er an einer schweren Bronchitis. Jede dieser freundlichen Anfragen des Todes wurde mit einem Antibiotikum niedergekämpft, dessen Verabreichung ja in der vorliegenden Verfügung nicht explizit untersagt war.
Meiner Mutter ist die Entscheidung, ihn – letztlich gegen seinen einst erklärten Willen, gegen den Geist seiner Verfügung – am Leben zu halten, nicht leicht gefallen. Ihr ist kein Vorwurf zu machen. Man stelle sich die Situation in ihrer konkreten Grausamkeit vor: Der Mann bekommt plötzlich hohes Fieber, die Ärztin – die ihn seit einiger Zeit betreut – diagnostiziert eine beginnende Pneumonie. Und meine Mutter – qua Betreuungs- und Vorsorgevollmacht die einzig Entscheidungsbefugte – muss nun binnen Stunden darüber befinden, ob ein über 60 Jahre gemeinsam geführtes Leben, über Nacht zu Ende gehen soll? Gebe ich ihm jetzt die Drops, dann kommt er vermutlich durch. Sonst aber wird er sterben, am Ende gar ersticken. Eben dieser Gedanke hat ihn, den schweren Asthmatiker von Kindheit an, ein Leben lang in Panik versetzt.
Ein Kernproblem des Patientenverfügungsgesetzes, § 1901a BGB, verabschiedet im Juli 2009, liegt in seiner letztlich vagen Formulierung. Am entscheidenden Punkt scheint eine Fußfessel angebracht, die den Verfasser der Erklärung, wenn er...