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Dyskalkulie - Rechenschwierigkeiten

Diagnose und Förderung rechenschwacher Kinder an Grund- und Sonderschulen

AutorBirgit Werner
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl290 Seiten
ISBN9783170229112
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Dyskalkulie sowie Rechenschwierigkeiten werden meist als Störung oder Entwicklungssverzögerung des mathematischen Denkens von Kindern und Jugendlichen definiert, die zu beständigen Minderleistungen im Mathematikunterrricht führen. Dieser defizitorientierten Sichtweise entsprechen dann spezielle Trainingsprogramme, mit denen diese Störungen behoben werden sollen. Das Buch will demgegenüber ganz neue Wege gehen. Nicht die Defizite der Kinder sind hier Ausgangspunkt. Vielmehr wird nach den Bedingungen und Merkmalen erfolgreichen Mathematiklernens insgesamt gefragt. Berücksichtigt werden hier die individuellen Lern- und Leistungsvoraussetzungen der Schüler ebenso wie die Kompetenzen der Lehrkräfte, die Fragen der Mathematikdidaktik gleichermaßen wie Aspekte der Unterrichtsinhalte und der Mathematik selbst. Deutlich wird dabei, dass für lern- und rechenschwache Kinder keine anderen Vorgehensweisen, Verfahren und Methoden notwendig sind als für Kinder ohne Rechenschwierigkeiten.

Prof. Dr. Birgit Werner lehrt an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg am Institut für Sonderpädagogik.

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Leseprobe

1 Vom Wesen der Mathematik


„Mathematik ist eine von Menschen gedanklich konstruierte Wirklichkeit, die … keinen willkürlichen Charakter hat, sondern von Notwendigkeiten geprägt ist und Entdeckungen zulässt. Es gibt eine Übereinstimmung zwischen unserem mathematischen Denken und unseren Erfahrungen mit der Außenwelt (Natur).“ (Wittenberg 1963, 16)

„Das Buch der Natur ist mit mathematischen Symbolen geschrieben.“ (G. Galilei)

„Mathematik kann man nur mit dem Auge des Geistes ‚sehen‘.“ (Devlin 2002, 7)

„Der Mathematiker ist ein Erfinder, kein Entdecker.“ (Wittgenstein 1984, 99)

„Sie (die Mathematik) ist die abstrakteste Wissenschaft von allen. Sie spricht beispielsweise von Räumen, nennt deren Elemente ‚Punkte‘ und kann davon abstrahieren, ob es sich dabei um Zahlen, Kurven, Flächen, Funktionen oder sonstwas handelt. Verrückt nur, dass einige ihrer reinsten Gedankenkonstruktionen den weltzugewandten Verstand überhaupt erst möglich machen – von der Raumfahrt über Klimaforschung und Kommunikationstechnik bis zur Medizin und Demografie.“ (Die Zeit 2008, online)

Mathematik

All diese Zitate dienen als Einleitung, als Anregung darüber nachzudenken, was Mathematik eigentlich ist. Was charakterisiert das Wesen von Mathematik? Ist Mathematik eine Natur- oder Geisteswissenschaft? Gäbe es die Mathematik, wenn es die Menschen nicht gäbe?

Dieses Kapitel soll zunächst über einen Rückgriff auf die Geschichte der Mathematik verdeutlichen, dass die Entstehung und die Entwicklung von Mathematik eng an die kulturellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten einer Gesellschaft gebunden waren und sind. Selbst eine Geschichte der Mathematik lässt sich nicht ohne Bezug zur Geschichte der Menschheit schreiben.

Mathematik ist ein mehr als eintausend Jahre altes Kulturgut. Schon aus den ältesten Kulturen sind zusammen mit den Schriftzeichen auch Dokumente mathematischer Berechnungen überliefert.

Die Mathematik (griech.: mathema) ist die „ursprünglich aus den Aufgaben des Rechnens und Messens erwachsene Wissenschaft, der praktische Fragestellungen zu Grunde liegen und zu deren Behandlung Zahlen und geometrische Figuren herangezogen wurden“ (dtv-Lexikon; Bd. 11 1997, 312). Zwar gibt es in den Entstehungs- und Entwicklungsgeschichten aller Kulturen enge Zusammenhänge zwischen der Etablierung schriftsprachlicher und mathematischer Symbole, dennoch „ist das Vorliegen einer Schrift noch keine hinreichende Voraussetzung für die Existenz eigener Zahlsymbole“ (Stern 2005, 293). Mathematik und Schriftsprache sind kulturelle Erscheinungen. Sie spiegeln das Ergebnis kultureller Entwicklungen wider. Deren Entwicklungen verliefen zwar zeitlich parallel, aber in deutlich unterschiedlicher Qualität (Ifrah 1998). Während in der Schriftsprache interkulturelle Unterschiede sich immer deutlich abzeichnen (werden), ist Mathematik in ihrer heutigen Form eine globale Erscheinung.

Rechnen

Eng verbunden mit Mathematik ist in unserem heutigen Sprachgebrauch der Begriff des Rechnens. Mit Rechnen (Berechnungen) will der Mensch die Vorgänge in seiner Umwelt quantitativ und mit der Sprache (d.h. mit einem konventionellen Zeichensystem) qualitativ beschreiben.

Der Begriff „Rechnen“ (althochdeutsch für „Ordnen“) bezeichnet die „Verknüpfung von Zahlen durch Addition und Multiplikation und deren Umkehrung Subtraktion und Division, mit allen Folgerungen, unter Befolgung der Rechengesetze und -regeln“ (Grube 2006, 1). Die Größe einer Menge, z.B. einer Viehherde, kann durch Zählen bestimmt werden. Rechenprozesse sind demnach Ordnungsprozesse. Mathematik gilt als das Regelwerk des Rechnens. Insofern ist die Bezeichnung „Rechner“ für einen Computer nicht abwertend, sondern trifft den Kern der Funktionalität dieses Gerätes. Ein Computer löst auf der Basis binärarithmetischer Rechnungen Aufgaben in sehr hohen Größenordnungen (Grube 2006, 1).

In unserem heutigen Sprachgebrauch schreiben wir dem Begriff des Rechnens zwei Bedeutungen zu. Zum einen meint „rechnen“, dass wir Zahlen logisch, d.h. nach bestimmten Regeln und Bildungsvorschriften miteinander verbinden, Mathematik anwenden, z. B. Peter rechnet gerade Additionsaufgaben im Zahlenraum bis 1000. Zum anderen meinen wir mit „rechnen“ etwas stark vermuten, dass etwas geschehen wird, etwas voraussehen, z.B. heute Nacht wird mit starken Regenschauern gerechnet. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir rechnen fest mit Ihnen.

Geschichte der Mathematik

Mathematik ist eine der ältesten Wissenschaften. Ihre über Jahrhunderte kontinuierliche Entwicklung machte sie zu einer der am besten begründeten Wissenschaften. Sie nimmt heute eine zentrale Stellung im System der Wissenschaften ein und bildet die Basis für andere Wissenschaftsbereiche wie Physik, Biologie, Mikroelektronik, Natur- und Sozialwissenschaften.

Ihren Ursprung fand die Mathematik in der Beschäftigung der Menschen mit Mengen, mit Messen, mit Konstruieren – jeweils aus dem Bedürfnis bzw. der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Naturphänomenen wie Zeitpunkte, Mengen der Aussaat, Berechnung von Hochwasser u.ä. heraus. So forderte der Ackerbau der alten Kulturen an Euphrat und Tigris, am Nil die genaue Kenntnis der jeweiligen Hochwasserzeiten der Flüsse, um die Termine für die Aussaat bestimmen zu können. Kanäle zur Bewässerung und Dämme zum Schutz vor Hochwasser mussten vermessen und berechnet werden. Die Bauern mussten einen Termin für die Aussaat bzw. den Zeitpunkt der Überschwemmung bestimmen. Vorformen eines Kalenders wurden entwickelt und erste trigonometrische Rechnungen aufgestellt.

Einige ausgewählte Daten zur Geschichte der Mathematik sollen diese enge Wechselwirkung zwischen Mathematik und menschlicher kultureller Entwicklung verdeutlichen. Die nachfolgende chronologische Darstellung ausgewählter historischer Daten zur Mathematikgeschichte berücksichtigen neben der Entwicklung der Zahlzeichen und des Zahlsystems vor allem die Einflüsse der griechischen, babylonischen und ägyptischen Mathematik.

Lange bevor die Schrift entwickelt wurde, beschäftigte sich der Mensch vermutlich mit Zahlzeichen und geometrischen Strukturen. Geometrische Verzierungen finden sich auf 40 000 Jahre alten Keramikgefäßen. Bereits in der Altsteinzeit, also vor etwa 20 000 bis 30 000 Jahren, entwickelten sich erste Formen elementaren Rechnens.

Die ältesten Hinweise auf den Umgang mit Zahlen wurden auf den Zeitraum 30 000 Jahre v. Chr. datiert. Aus dieser Zeit finden sich (meist auf Knochen) Kerbzeichen, die den Gebrauch natürlicher Zahlen sowohl als Ordnungs- als auch als Kardinalzahlen darstellen. Sie gelten als die ältesten Mengen- bzw. Zahldarstellungen (Ifrah 1998, 545). Diese Knochen mit Kerbmarken waren teilweise in Fünfergruppen zusammenfasst und gelten als Vorformen von Bündelungen, d.h. einer effektiven Art, größere Mengen zu erfassen.

In Ägypten wurden rund 2900 Jahre alte Handschriften gefunden, die einfache Mathematikaufgaben, etwa zur Berechnung der Fläche von Rechtecken, Trapezen und Dreiecken enthalten.

Umfangreicher als die Quellen zur ägyptischen Mathematik sind die schriftlichen Zeugnisse der Babylonier. Diese hielten ihre Erkenntnisse auf Tontafeln fest, die im Gegensatz zu Papier (wie bei den Ägyptern) eine deutlich längere Lebensdauer hatten. Die Menschen dieser Zeit mussten Dinge ihres Alltags wie ihr Vieh oder auch ihren Lohn zählen und notieren. Wie alle Stromlandkulturen beschäftigten sich auch die Babylonier überwiegend mit der Geometrie. Die babylonischen Formeln, z.B. für die Berechnung von Flächeninhalten, entstanden beim Vermessen von Ackerland.

Auf den Zeitraum 3000 Jahre v. Chr. werden die ersten Ziffernsymbole in Form von Hieroglyphen bei den Sumerern datiert. Für die Darstellung ihrer Zahlzeichen nutzen sie ihre Keilschrift (Ifrah 1998, 546).

Etwa um 2900 v. Chr. entwickelten die Ägypter ebenfalls zur Planung von Bauwerken, z.B. für den Bau der Pyramiden, viele Formeln.

Um 2500 v. Chr. wurden in Mesopotamien (heutiger Irak) Keilzahlzeichen aus der sumerischen Keilschrift an ein dezimales Zahlensystem angepasst. Um 1800 v. Chr. entwickelten die Babylonier das älteste derzeit bekannte Positionssystem auf der Basis von 60.

Um 600 v. Chr. begann die Blütezeit der Mathematik bei den Griechen. Sie begründeten und bewiesen nicht nur die von ihnen erstellte, sondern auch die der bereits aus Babylon und Ägypten kommenden Formeln. Eine der wichtigsten Quellen der griechischen Mathematik sind die von Euklid v. Alexandria (365–300 v. Chr.) verfassten 13 Bände mit dem Titel „Die Elemente“. Sie stellen eine systematische Erfassung aller bekannten Sätze über die räumliche und ebene Geometrie dar und unterscheiden erstmalig Grundsätze/Axiome und Definitionen sowie Sätze.

Großen Einfluss auf die Entwicklung der Mathematik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin hat die (griechische) Pythagoreische Schule (500 v. Chr.). Mathematik wurde hier primär als Geometrie im Sinne der Erd(ver)messung verstanden. Pythagoras von Samoas (570–510 v. Chr.) entwickelte den Flächensatz im rechtwinkligen Dreieck: a2 + b2 = c2.

Um 250 v. Chr. verwendeten die Babylonier erstmals ein eigenes Schriftzeichen für die Null als Leerstelle bei den Zahlen.

200 v. Chr. beschäftigte sich Archimedes...

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