Einleitung:
Der Mensch und die Keime
»Ich habe keine Angst vor dem Sterben, ich möchte nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.«
Woody Allen (*1935)
Die gute Nachricht zuerst: Auch wenn es zum weltweiten Ausbruch eines sogenannten »Apokalypse-Keims« kommt (Näheres dazu ab Seite 79), wird die Menschheit nicht aussterben. Und nun die schlechte: Da vielleicht 50 Prozent der Menschheit sterben werden – möglicherweise auch 90 Prozent oder mehr – beträgt die Überlebenswahrscheinlichkeit für jeden Einzelnen entsprechend eins zu eins bis etwa eins zu zehn. Vielleicht zählen Sie ja zu jenen, die aufgrund ihrer zufälligen genetischen Ausstattung immun gegen den jeweiligen Keim sind. Oder Sie erkranken, besiegen den Keim aber. Möglicherweise werden Sie auch einfach deshalb weiterleben, weil Sie nicht mit dem Keim in Berührung kommen. Wir wollen hier zwei Beispiele betrachten, die diese Behauptung belegen, eines aus dem Tierreich, das andere betrifft uns Menschen.
Im Jahre 1859 führte der britische Siedler Thomas Austin 24 Kaninchen in Australien ein, um die Tiere in freier Wildbahn jagen zu können. Weil in Australien aber weder Füchse noch andere natürliche Feinde des Kaninchens heimisch waren, vermehrten sich die Tiere so rasant, dass sie schließlich zu einer richtigen Plage wurden, da sie massiv die Ernte schädigten. Um ihnen den Garaus zu machen, infizierte man einige der frei lebenden Kaninchen mit dem Myxomatosevirus. Das Virus verbreitete sich wie ein Lauffeuer und tötete binnen Kurzem 99,8 Prozent der Kaninchen. Man sollte annehmen, dass die Plage damit ein Ende hatte. Aber weit gefehlt: Es dauerte lediglich vier Jahre, da hatten sich die übrig gebliebenen Kaninchen wieder so stark vermehrt, dass sie erneut zur Plage wurden. Wohlgemerkt: Die gesamte »neue« Kaninchenpopulation trug das Virus in sich, war jedoch resistent gegen den Keim geworden. Hätte man anschließend erneut Kaninchen eingeführt, so wären diese wiederum dem Virus zum Opfer gefallen.
Das andere Beispiel führt uns ins 15. Jahrhundert, kurz nachdem Kolumbus 1492 in der Karibik gelandet war. Die spanischen Eroberer führten Krankheiten wie Pocken und Masern im Gepäck, die in der Neuen Welt unbekannt waren. Nur 100 Jahre später waren 90 Prozent der amerikanischen Ureinwohner tot, auch durch die grausamen Unterdrückungsmethoden, vor allem aber wegen der Krankheiten, gegen die zwar viele der Konquistadoren einen natürlichen Schutz besaßen, nicht aber die Ureinwohner. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts, also 600 Jahre später, hatten ihre Nachfahren wieder jene Zahl erreicht, die sie bei Kolumbus’ Landung aufwiesen.
Gute Keime, böse Keime
»Was, wenn man den Leuten irgendwann sagen würde, dass mehr Tiere auf dem Zahnfleisch der Menschen leben, als es Menschen im gesamten Königreich gibt? [...] Alle Leute in den Niederlanden zusammen sind geringer an Zahl als die Tiere, die ich an diesem einen Tag in meinem Mund herumtrage.« Diese Worte notierte der niederländische Tuchhändler Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) am 17. September des Jahres 1683 in seinem Notizbuch. Der Niederländer hatte bei seinen Experimenten mit selbst gebauten Mikroskopen nichts weniger als die Welt der Bakterien entdeckt – vor mehr als 300 Jahren.
Van Leeuwenhoek hatte mit seiner Schätzung durchaus recht: Allein in unserem Mundraum leben etwa 10 Milliarden Bakterien (1010) unterschiedlicher Arten, von denen gut 350 bereits identifiziert sind. Man geht aber davon aus, dass es mehr als 1000 im Mundraum befindliche Arten gibt.
Wir sind geneigt, Bakterien pauschal als Bösewichte zu betrachten, die uns Lungenentzündung, Durchfall und Magenkrebs bescheren. Doch diese Sicht ist sehr eingeschränkt, um nicht zu sagen grundlegend falsch. Denn ohne Bakterien wären wir weder am Leben noch das, was wir sind. Machen wir einen kurzen Ausflug in die Welt der Mikroben, zunächst in die der Bakterien.
Die allermeisten Bakterien sind uns wohlgesonnen. Während unser Körper aus rund 10 Billionen Zellen (1013) besteht, werden wir von insgesamt gut 100 Billionen (1014) Bakterien bevölkert, von denen etwa 99 Prozent in unserem Darm leben. Sogar in unseren Lungen – sie galten bis zum Jahre 2007 als keimfrei – treiben sich auch bei gesunden Menschen mindestens 128 verschiedene Arten Bakterien herum.
Diese Vielzahl an bakteriellen Mitbewohnern lässt uns nicht nur (meist) in Ruhe, sondern ist sogar von zentraler Bedeutung für unsere Gesundheit. Fehlen Bakterien beispielsweise im Darm oder ist ihre Artenzusammensetzung durcheinandergeraten, so werden wir unweigerlich krank. Viele kennen das: Nach der Einnahme eines Antibiotikums kommt es oft zu Durchfall und anderen Darmproblemen, einfach weil die Bakterienflora des Darms durch das Antibiotikum verändert wurde. Normalerweise regeneriert sich die Bakterienflora binnen weniger Tage oder Wochen nach dem Absetzen des Antibiotikums. Welch extreme Auswirkungen das aber auch haben kann, illustriert ein Fall aus dem Jahre 2008: Eine Patientin des US-amerikanischen Gastroenterologen Dr. Alexander Khoruts litt nach einer Antibiotikatherapie unter einer schweren Durchfallerkrankung. Innerhalb von acht Monaten nahm die Frau 27 Kilo ab und wäre nach Einschätzung ihres Arztes bald verstorben. Verantwortlich war ein Bakterium namens Clostridium difficile, das 3 bis 15 Prozent der Erwachsenen in ihrem Darm tragen, das sich aber im Normalfall nicht bemerkbar macht, da es den Darm nur in geringer Zahl besiedelt. Die Antibiotikabehandlung aber hatte die Zusammensetzung der Darmbakterien der Frau komplett verändert, sodass sich Clostridium difficile extrem vermehren konnte. Oft hilft in solchen Fällen die Behandlung mit einem anderen Antibiotikum. Nicht so bei Dr. Khoruts Patientin. Der Clostridiumstamm in ihrem Darm war resistent gegen die Antibiotika, ließ sich von ihnen also nichts anhaben. Der Mediziner musste einen anderen Weg wählen, um seine Patientin zu retten. Er vermischte eine kleine Menge des Stuhls ihres Ehemannes mit einer Salzlösung und brachte diese in den Dickdarm seiner Patientin ein. Innerhalb nur eines Tages verschwand der Durchfall. Auch die auslösenden Clostridien waren in ihrem Darm nach der »Transplantation« nicht mehr nachweisbar. Die kleine Menge Stuhl mit einer normalen Bakterienfauna hatte offenbar das Gleichgewicht im Darm wiederhergestellt und die Frau vor dem sicheren Tod bewahrt.
Doch Bakterien sind für uns noch in anderer Weise lebensnotwendig. Man schätzt, dass etwa 5 Quintillionen (5 x 1030, eine 5 mit 30 Nullen!) Bakterien die Erde bevölkern und zusätzlich rund eine Trillion (1018) gebunden an Staubpartikel in der Atmosphäre herumschwirren. Ohne sie wäre Leben, wie wir es kennen, gar nicht möglich. Denn über vielfältige Recyclingprozesse versorgen Bakterien uns mit den überlebenswichtigen Elementen Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor, Schwefel, Kohlenstoff und 25 weiteren Substanzen.
Wie sehr unser Leben mit der Existenz der Bakterien verwoben ist, beweisen auch die Ergebnisse des Human Microbiome Projects, das 2007 von den US-amerikanischen National Institutes of Health ins Leben gerufen wurde. Ziel dieses Projektes ist es, alle Bakterien zu erforschen, die auf und im Menschen leben – das sogenannte Mikrobiom –, ihre genetische Ausstattung und die Wechselwirkungen, in denen sie zu uns Menschen als Wirt stehen. Welche Herausforderung das darstellt, lässt sich bereits daran erkennen, dass dieses Mikrobiom mindestens 100-mal mehr Gene enthält als der Mensch selbst.
Schon länger bekannt ist, dass Bakterien auf der Haut unsere äußere Hülle vor Infektionen schützen und Bakterien in unserem Darm Vitamin K produzieren, das unter anderem wichtig ist für die Blutgerinnung. Erst im Verlauf der letzten Jahre aber hat sich herauskristallisiert, wie eng die Symbiose zwischen uns und »unseren« Bakterien tatsächlich ist. Die Bakterien in unserem Darm sorgen beispielsweise dafür, dass unser Immunsystem ausreifen kann und dass Beschädigungen an der Darmwand ausheilen können. Sie stellen Antibiotika her, die uns vor gefährlichen Keimen schützen, und haben Einfluss darauf, wie unser Körper Fett speichert. Ist das Darm-Mikrobiom nicht im Gleichgewicht, können verschiedene Arten von Krebs, entzündliche Darmerkrankungen, Fettleber und möglicherweise sogar Nervenkrankheiten wie Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS), Tourette-Syndrom und Autismus die Folge sein.
Aufgrund der Tatsache, dass sich der Mensch und sein Mikrobiom im Laufe von vielen Hunderttausenden von Jahren gemeinsam entwickelt haben und heute eine meist sehr gut funktionierende Symbiose bilden, bezeichnen die Mikrobiom-Forscher den Menschen und sein Mikrobiom gern auch als »Super-Organismus«. Diese Sichtweise macht durchaus Sinn, eröffnet sie doch aus medizinischer Sicht einige neue Optionen. So lassen sich über gezielte Veränderungen der Darmflora – etwa über sogenannte Prä- oder Probiotika – schon heute Krankheiten positiv beeinflussen. In der Zukunft, so hoffen die Forscher, werden sich aus einer genaueren Kenntnis des Mikrobioms auch Krankheiten oder Prädispositionen für diverse Leiden frühzeitig erkennen und heilen lassen. Und, um nochmals auf den Anfang dieses Abschnitts zurückzukommen: Die allermeisten Bakterien der heute insgesamt rund 6000 bekannten Bakterienarten sind uns wohlgesonnen oder schaden uns zumindest nicht. Nur rund 100 Arten sind es, die uns etwas anhaben können, manche allerdings in ganz beträchtlichem Ausmaß.
Das Virus in uns
Im Herbst 1990 wurde das internationale Humangenomprojekt (engl. Human Genome Project, HGP) gegründet. Dessen Ziel sollte sein,...