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Ede und Unku - die wahre Geschichte

Das Schicksal einer Sinti-Familie von der Weimarer Republik bis heute

AutorJanko Lauenberger, Juliane von Wedemeyer
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641221850
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
»... eine anrührende, aufrüttelnde und zartbittere Geschichte ...« (Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung)
Ede und Unku - mit über 5 Mio Exemplaren eines der meistverkauften Bücher in Deutschland. Die Erstausgabe erschien 1931, das Buch war viele Jahre Schullektüre und erzählt von der ungewöhnlichen Freundschaft zwischen dem Arbeiterjungen Ede und dem Sintimädchen Unku während der Weimarer Republik. Doch was kaum jemand weiß: Schon kurz nach der Machtergreifung Hitlers wurde das Buch verboten und das »Zigeunermädchen« Unku in einem Konzentrationslager umgebracht. Der Musiker Janko Lauenberger ist Unkus Ur-Cousin. Er erzählt in diesem Buch ihre wahre Geschichte und gleichzeitig seine eigene als Sintikind in der ehemaligen DDR und später im wiedervereinigten Deutschland.


  • Zeitgeschichte - persönlich und emotional
  • Ein Stück deutsch-deutscher Nachkriegsgeschichte
  • ZDF plant Dokumentarfilm
  • DDR-Kindheitserinnerungen werden wach


Janko Lauenberger, 1976, arbeitet als Musiker in Berlin und hat bereits mit Jazzgrößen wie Ferenc Snetberger gespielt. Ausgebildet hat ihn sein Vater, Gründer der DDR-Kultband 'Sinti Swing Berlin'. Seit seinem 16. Lebensjahr spielt Lauenberger in der Band mit, widmet sich aber auch eigenen musikalischen Projekten.

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Leseprobe

2. WIE UNKU IN EIN BUCH GERIET

(1929 BIS 1933)

Die meisten Sträucher und Bäume sind noch kahl. Aber wenn sie die Augen schließt und das Gesicht in die Sonne hält, spürt Unku schon die Kraft ihrer Strahlen. Auch wenn sie noch nicht ausreicht, um den Boden, über dem die nackten Füße des Mädchens baumeln, zu wärmen. Es spürt die Kälte an seinen Zehen. Unku sitzt im Türrahmen des Wohnwagens und atmet die klare Aprilluft ein, die sich mit dem Geruch frischer Farbe vermischt. Ihre Familie hat den Wohnwagen gerade erst grün gestrichen. Wie jeden Frühling. Im Sommer werden sie ihre Pferde davorspannen und Richtung Südosten ziehen. Bis zur Elbe und noch weiter. Erst im Herbst werden sie wieder nach Berlin zurückkehren.

Im Holzstall wiehert Schabati, das gefleckte Pony. Aus dem Brombeergestrüpp nebenan dringt geschäftiges Vogelgezwitscher. Es übertönt die Geräusche der Großstadt. Die bleiben oberhalb des sanft abfallenden Hangs, der die Wohnwagenbewohner an seinem Fuße vor dem Rest Berlins zu schützen scheint - vor der Hast der Menschen, dem Rauch der Fabrikschlote, den Autos und den Straßenbahnen, die bald die letzte Pferdedroschke verdrängen werden. Sogar ihr schrilles Klingeln, das die Fußgänger warnen soll, ist hier nur gedämpft zu hören, obwohl die nächste Haltestelle nicht weit entfernt ist. Auf einem Stück Wiese neben einer Schutthalde zupft eine Ziege das junge Gras. Unkus Blick bleibt an einer Frau hängen, die auf der Anhöhe steht.

Die Fremde sieht sie an, sie beobachtet sie. Für die Neunjährige ist das nichts Ungewöhnliches. Die Gadsche tun das oft, mal mit Neugierde, mal mit Furcht und manche auch mit Hass in den Augen. Und so kümmert sich Unku nicht weiter um die Fremde, sondern hangelt sich stattdessen vom Wagen und läuft hinüber zum Stall. Als sie noch einmal kurz zum Hang schaut, ist die Frau verschwunden.

Unku wird ihr wieder begegnen: Wenige Tage später steht sie mit ihrer Cousine Kaula beim Bäcker an der Ecke, als eine junge Frau den Laden betritt. Unku erkennt sie. Es ist die Fremde vom Hang. Sie bleibt vor den Kindern stehen: »Euch habe ich doch schon einmal gesehen. Wie heißt ihr denn?« »Unku«, antwortet Unku. Die Fremde fragt Kaula: »Und du?« »Kaula.« Die Frau lächelt. »Schöne Namen habt ihr!«, sagt sie und deutet mit ihrer Hand Richtung Stadtrand, wo die Papierstraße in die Laubenpieperkolonie mündet. »Ihr wohnt dahinten in den Wohnwagen, oder?« Die Mädchen nicken. Sie sind verlegen. Was will die Fremde von ihnen? Nicht, dass sie ihnen nicht gefällt – im Gegenteil, ihr gleichmäßiges Gesicht wird von schwarzen Haarwellen umrahmt, die ihre hellen Augen noch heller wirken lassen. Als würden sie unter den fein gezupften Brauen leuchten. Schön ist sie, fast wie ein Filmstar. Grete heißt die Frau.

Aufgewachsen ist sie als Margarete Bernheim in Salzburg. Als der Krieg 1918 endet, bringt der Frieden ihrer Familie kaum Erleichterung. Aus Osteuropa sind jüdische Flüchtlinge in der Stadt gestrandet, die nun verarmt in Barackensiedlungen wohnen. Die Salzburger sehen auf sie herab und bald auch auf die alteingesessenen Juden wie die Bernheims. Die Atmosphäre ist bedrückend, auch daheim: Gretes Vater, ein Verkäufer, ist jahrelang arbeitslos. Sie will nur noch weg. Mit 17 geht sie nach Innsbruck, wo sie in einem Warenhaus ihr erstes Geld verdient. Mit dem kann sie sich schließlich ein kleines Zimmer zur Untermiete leisten, in der Wohnung einer Eisenbahnerfamilie. In dieser Zeit beginnt sie zu schreiben – kurze Texte, nur für sich.

Drei Jahre später folgt sie ihrer älteren Schwester Gertrud nach Berlin. Bevor Grete sich hier ganz dem Schreiben widmet, arbeitet sie als Angestellte im Verlag ihres Schwagers, dem Malik-Verlag, und als Sekretärin in der Sowjetischen Handelsvertretung. Fast alle Menschen um sie herum sind Kommunisten – zumindest jene, die ihr wichtig sind. Grete will ebenso revolutionär wie ihre Freunde sein, sie will für eine gerechtere Welt einstehen. Und so tritt auch sie in die Kommunistische Partei ein. Gewissenhaft besucht sie regelmäßig deren Sitzungen. Mittwochabends ist sie aber meistens im Café »Metro«, wo sich Autoren und Künstler treffen – unter anderem Egon Erwin Kisch und Ernst Bloch, aber auch ihr Schwager Wieland Herzfelde und ein gewisser Franz Carl Weiskopf, ein Feuilletonist, den sie bereits von der Arbeit im Verlag kennt. Er ist fünf Jahre älter als Grete und berät Herzfelde bei der Auswahl seiner Autoren. Sie verliebt sich in ihn, und nach der Hochzeit ziehen die beiden nach Berlin-Reinickendorf, wo Grete eben die Heldin ihres ersten Romans kennengelernt hat.

Die 24-Jährige gewinnt die Herzen der Kinder in wenigen Minuten. Vor allem, weil in ihrer Tasche drei Streuselschnecken liegen, die unwiderstehlich duften. »Möchtet ihr auch eine?« Das ist die Frage, auf die die Mädchen gehofft haben. Sie nicken. Natürlich möchten sie. »Na, dann kommt doch kurz mit, ich wohne ganz nah!« Sie begleiten ihre Bekanntschaft nach Hause, folgen ihr die vielen Stufen hinauf bis unters Dach, wo die Wohnung der Weiskopfs liegt. Unku stößt ihre Cousine mit dem Ellenbogen an und raunt: »Richtige Treppen!« In eine so hohe Etage sind sie noch nie vorgedrungen. An jedem Treppenhausfenster bleiben sie stehen und schauen in den Hof. Die beiden kichern. Oben zeigt Grete ihnen das Bad und sagt: »Da könnt ihr eure Hände waschen, ich setze schnell Kaffeewasser auf.« Grete hört den Wasserhahn laufen, und die Mädchen juchzen. Sie reden in einer fremden Sprache miteinander und lachen. Überhaupt lachen sie viel. Grete steckt ihren Kopf durch die Badezimmertür: »Alles gut bei euch?« »Jaaa!«, antworten sie wie aus einem Mund.

»Da fließt warmes Wasser aus dem Hahn«, erzählt Unku, als sie wieder im Wohnwagen bei ihrer Familie sitzt: »Und es gibt eine richtige Wanne mit Stöpsel! Und ein Wasserklosett wie in der Schule!« Von nun an klingeln die Kinder fast täglich bei ihrer neuen Freundin. Immer duftet es dort nach frischem Kaffee, meist gibt es Kuchen, und manchmal dürfen sie sogar baden. Nach jedem Bad schrubben sie den ganzen Raum inklusive Wanne. »Ihr habt ja eine richtige Reinlichkeitswut!«, sagt Grete dann.

Bald kommt Unku nicht mehr nur mit Kaula, sondern bringt auch ihre Mutter Turant mit und Nutza, ihre Großmutter, die ihre Pfeife im Mund und ihren Jüngsten, Unkus zweijährigen Onkel Heinrich, an der Hand hat. Die Erwachsenen sitzen rauchend in der Küche und tauschen die neuesten Kiezgeschichten aus.

Hin und wieder ist auch Gretes Mann dabei und der ein oder andere Kollege. Und immer öfter Unkus Schulfreund, der Arbeiterjunge Ede Sperling, der ebenfalls in der Nachbarschaft wohnt. Die Runde wird immer größer. Die einen berlinern, die anderen sprechen hochdeutsch, und immer wieder fallen Sätze in Romanes. Und wenn einer der Männer aus Unkus Familie mit seiner Gitarre mitgekommen ist, zum Beispiel Onkel Nucki, machen sie Musik. Begeistert bringen Kaula und Unku Grete das Lied über das genähte Täschchen bei: »Ziehdi, ziehdi ranzla«. Grete ist eine fleißige Schülerin, sie lernt schnell. Die Kinder klatschen und nicken ihr aufmunternd zu. Dass es sich bei dem genähten Täschchen um eine Anspielung auf ein mannstolles Weib handelt und der Liedtext eindeutig zweideutig ist, weiß Grete nicht. Weder Kaula noch Unku klären sie darüber auf.

Grete liebt diese Treffen, vor allem wenn Unku und Turant tanzen. Wie die Sintezas trägt sie jetzt häufig lange, weite Röcke. Und als sie sich eines Tages Zigaretten holen geht, fragt die Inhaberin des Tabakgeschäfts: »Sie sind wohl ’ne Zigeunersche?«, antwortet Grete prompt. »Ja, das bin ich!«

Manchmal geht Grete auch mit den Kindern über den Kiez oder auf den Rummel, einmal macht sie sogar Fotos von ihnen. Und sie besucht Unkus Familie auf dem Hof in der Papierstraße. Petsche und Metz spielen dann Geige und Gitarre, die Frauen singen. Nutza hat eine wunderbare Stimme. Zwischendurch rauchen sie. »Sie mögen Unku sehr, ja?«, fragt Turant Grete eines Tages. Ihre Augen mit dem leichten Silberblick fixieren sie. »Ja. Ich wünschte, ich hätte eine Tochter wie sie. Ich würde sie glatt adoptieren.« Aber das wollen Unkus Eltern nicht. Nie würden sie ihr Kind hergeben. Nie würde Unku freiwillig ihre Familie verlassen.

Grete bleiben die Besuche. Unku erzählt ihr ihre großen und kleinen Abenteuer. In den meisten spielt ihr Freund Ede eine tragende Rolle. Und Grete, die mittlerweile wie ihr Mann für die Zeitung »Berlin am Morgen« arbeitet, schreibt sie auf, neben Sätzen in Romanes, Zitaten der Kinder, kleinen Beobachtungen, einer Beschreibung des Wohnwagens, einer Liste der Namen von Unkus vielen Cousinen und Tanten und dem Liedtext über das genähte Täschchen. Die eng beschriebenen Zettel legt sie in einen Kasten, der irgendwann zu klein wird.

Die Papierschnipsel verdecken jetzt vollkommen die Arbeitsfläche ihres Schreibtischs und später auch den Fußboden. Sie klebt sie auf A4-Bögen und lässt so Stück für Stück »Ede und Unku« entstehen. Sie will für Kinder schreiben, ihnen Vorbilder schenken – Vorbilder, die auf der richtigen Seite stehen. Solche wie die Kinder Ede und Unku, die beherzt einem Kommunisten helfen. Der Anspruch, den sie an ihr erstes Buch stellt, ist gewaltig: Sie will die Wahrheit und nichts als die Wahrheit schreiben. Dem kann sie nicht genügen, aber tatsächlich ist wohl vieles, was drinsteht, wirklich geschehen. 1931 erscheint der Roman im Verlag ihres Schwagers – unter ihrem Pseudonym. Alex Wedding nennt sie sich – nach den gleichnamigen Berliner Arbeiterbezirken.

Unkus Familie erfährt erst nach dem Krieg von dem Buch. Irgendwann haben Unku,...

Blick ins Buch

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