Es ist Donnerstagmittag, die Sonne scheint, ein lauer Herbsttag in der Stadt. Mein erstes Interview. Mit etwas mulmigem Gefühl stehe ich vor der Tür eines Mehrfamilienhauses in Augsburg. Der junge Mann, der mir aufmacht, heißt Jan12 und ist 25. Wir kennen uns über die Arbeit, zugegeben noch nicht wirklich lange, aber irgendwie hat es zwischen uns von Anfang an kollegial gefunkt. Jan ist auf erfrischende Weise von sich selbst überzeugt, er fühlt sich sichtlich wohl in seiner Haut, ist unkompliziert und hat hohen Unterhaltungswert. Ich für meinen Teil mag unkomplizierte Menschen und werde gerne von ihnen unterhalten. Nicht weniger gerne unterhalte ich mich mit unkomplizierten Menschen, manchmal sogar über gar nicht so unkomplizierte Dinge. So wie heute mit Jan im Wohnzimmer seiner Studenten-WG.
Mit einer Tasse Kaffee und unzähligen Fragen machen wir das Nicht-Thema Porno zum Schon-Thema – völlig schonungslos, unverblümt und geradeheraus. Es ist Jans erstes Mal – das erste Mal, dass er wirklich ernsthaft über Pornografie nachdenkt und offen mit einer Frau darüber spricht. Bislang war es immer eher ein »Randgespräch«13 unter seinen männlichen Freunden: Jeder weiß vom anderen, »dass konsumiert wird«, und lässt Pornoanspielungen »spaßhaft ins Gespräch« einfließen.
Das erste Mal Porno hatte Jan im Alter von 14 oder 15. »Das war so ein Gruppenphänomen. Irgendeiner erzählt, dass er irgendwoher irgendwas hat […], dann kommt man irgendwie da drauf, interessiert sich dafür und dann fängt das halt an.« In Jans Jugend spielen Pornos jedoch keine große Rolle. Regelmäßig für sich in Anspruch genommen hat er sie erst fünf Jahre später, als sie über das Internet leichter zugänglich wurden. Seither greift er immer dann zur Pornografie, wenn er gerade »Bock« hat: »Das kann sein, dass das in der Woche dreimal ist, aber auch, dass es in der Woche gar nicht ist.« Jans Pornokonsum lässt sich wohl am besten mit »unregelmäßiger Regelmäßigkeit« beschreiben: Wenn die Lust zu groß wird, dient Porno als Ventil, um den Druck loszuwerden. Für Jan sind Pornos wie Gummibärchen, ein schneller Snack, den er sich von Zeit zu Zeit gönnt, um seinen Heißhunger zu stillen, »ne witzige Ergänzung, für zehn Minuten woanders sein, sich was anderes vorleben lassen«.
Jan zieht sich vor allem deswegen Pornos rein, weil sie ihm das vor Augen führen, was er sonst nur in seinen Fantasien zu sehen bekommt, und weil sie »so ne spontane Lust« befriedigen. An Inspiration mangelt es nicht: Mit nur einem Klick landet er in der unerschöpflichen Welt der vorgespielten Lust, die ihn »mit einer sehr großen Bandbreite an Fantasien bedient«. Pornografie macht die handgemachte Befriedigung extrem einfach und »Mann tendiert dazu, es sich einfach zu machen«.Jan ist durch und durch Mann: Er macht es sich selbst gerne einfach und manchmal macht er es sich einfach gerne selbst. Pornos dienen quasi als schnelle Take-away-Variante für den hormonellen Heißhunger.
Fragt sich jedoch: Wenn ich meine Gedanken immer mal wieder mit Fast Food füttere, wie wirkt sich das auf mein Denken aus? Welche Spuren hinterlassen pornografische Bilder in meinen Vorstellungen von Sex? Inwieweit beeinflussen sie mich? Genau das wollte auch eine Handvoll Wissenschaftler herausfinden, und zwar zu einer Zeit, die tatsächlich noch so etwas wie Pornovideos kannte. Eine Zeit, in der man nicht einfach den PC anschalten konnte, wollte man sich der heimlichen Lust hingeben. Eine Zeit, in der man noch in Videotheken ging, um sich in der leicht separierten Ü18-Abteilung von eindeutigen Covern und vielversprechenden Titeln inspirieren zu lassen. Eine Zeit, in der der Pornografiekonsum wesentlich mehr an Geld und Überwindung kostete als das heute der Fall ist. In dieser Zeit also, den 80er- und 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts, fanden US-amerikanische Wissenschaftler in Experimenten heraus,
»dass sich bei Menschen, die Pornos gesehen hatten, die Einstellungen zu Frauen verschoben hat [sic!]. Vergewaltigungen schienen den Probanden eines Versuchs weniger schlimm. Sie hatten weniger Mitleid mit den Opfern. Meist wurde allerdings nur unmittelbar nach dem Konsum gemessen. Wie lange die geänderte Einstellung hielt, lässt sich damit nicht sagen. Auch nicht, inwieweit Probanden sich deswegen anders verhalten.«14
Schenkt man den Ergebnissen von damals Glauben, so haben pornografische Bilder in der Tat Einfluss – zumindest kurzfristig. Sie beeinflussen, wie wir Frauen wahrnehmen, welchen Wert wir ihnen beimessen. Sie färben auf unsere Grundüberzeugungen und Wertmaßstäbe ab, auf das, was wir im Grunde genommen als richtig und falsch erachten.
Nicht weniger unerheblich ist die Tatsache, dass sie eine grundlegende menschliche Kompetenz beeinträchtigen: unsere Fähigkeit, empathisch und mitfühlend zu sein. Häufiger Pornografiekonsum, so das allgemeine Fazit, verzerrt unsere Vorstellungen von Sexualität und zieht eine Art Gewöhnungseffekt nach sich.15
Nach dem Porno geht der Porno weiter!
Auch Jan und ich reden über die potenziellen Folgeerscheinungen von Pornografie. Das Wort, das dabei auf den Tisch kommt, ist Abstumpfung – für uns ein Begriff, der etwas weniger euphemistisch auf den Punkt bringt, was Gewöhnungseffekt eigentlich bedeutet. Bei sich selbst hat Jan tatsächlich schon festgestellt, dass es im Zeitalter von HD und 3-D nicht immer so leicht ist, die Realität für das zu schätzen, was sie ist: real. Wie viel intensiver, farbenfroher und spektakulärer erscheint einem die durchproduzierte Welt von Filmen wie Avatar und wie wenig kann da die triste, graue und langweilige Welt menschlicher Normalität mithalten? Jan kann sich gut vorstellen, dass pornografisch durchgestylte Filme eine ähnliche Wirkung haben: dass sie Vorstellungen und Erwartungen in uns hervorrufen, mit denen unsere Realität nicht mithalten kann; dass sie Sehnsüchte in uns wecken, die unseren sexuellen Alltag trist, eintönig und grau erscheinen lassen; dass sie uns letztlich vielleicht sogar unempfänglich machen für das, was uns Real-Life-Sex und Beziehungsleben zu bieten haben.
Darüber hab ich mich auch schon mal mit meinen Jungs unterhalten und wir kamen im Endeffekt auf den Punkt, dass wir alle so ein bisschen Angst haben, dass es den Blick für den eigentlichen Sex mit der Freundin so ein bisschen verzerrt. Also, dass man Erwartungen in die Frau setzt, gerade wenn man sie kennenlernt und das erste Mal miteinander Sex hat […]. Dass es vielleicht sogar dazu führt, dass, wenn du mit deiner Freundin rummachst und du merkst, es könnte Richtung Sex gehen, dass du dann denkst: Ich krieg das jetzt eh nicht so wie ich es mir vorstelle und irgendwie stimuliert es mich jetzt nicht mehr in dem Maße, wie es mich beim Pornoschauen stimulieren würde. Also diese Angst oder Befürchtung ist auf jeden Fall da, dass es tatsächlich solche Auswirkungen haben könnte.
Auch wenn sie selten darüber sprechen, so leben Jan und seine Jungs insgeheim doch mit einem letzten Rest Ungewissheit: Was, wenn ihr Pornokonsum vielleicht mehr Einfluss auf ihre Sexualität hat, als ihnen lieb ist? Was, wenn sie abstumpfen und den Sex mit der Freundin nicht mehr völlig unvoreingenommen genießen können? Was, wenn ihr pornografisches Gedächtnis doch mehr mit ihnen macht, als sie letztlich ahnen? Was bleibt, ist ein etwas mulmiges Gefühl, eine unterschwellige Befürchtung, ein ehrlicher Zweifel daran, ob Sex mit dem Porno nicht doch irgendwann irgendwie stimulierender wird als Sex mit der Freundin; dass er irgendwann vielleicht sogar den echten Sex verdrängt. Einfach deswegen, weil er einfacher, unkomplizierter, abwechslungsreicher ist.
Dass das pornografische Gedächtnis sich nicht mit dem Herunterfahren des PCs abschaltet, bestätigen auch andere Studien. So kamen die Psychologen Bruce J. Ellis und Donald Symons zu dem Schluss, dass sexuelle Fantasien sowohl von Männern als auch von Frauen abgerufen werden, mitunter auch während sie gerade Sex mit der Partnerin oder dem Partner haben. Einziger Unterschied zwischen Mann und Frau sind Häufigkeit und Inhalt des erotischen Kopfkinos: Doppelt so viele Männer wie Frauen lassen sich beim Sex gedanklich inspirieren; 57 Prozent der Frauen träumen von Sex mit einem oder mehreren Fremden, das Gleiche trifft auf 88 Prozent der männlichen Befragten zu; für 57 Prozent der Frauen spielen dabei fantasierte Gefühle eine entscheidende Rolle, wobei 81 Prozent der Männer vor allem Bilder von glatter nackter Haut und weiblichen Körperteilen abrufen. Interessant auch, dass die Hauptdarstellerinnen des männlichen Kopfkinos stets willige Frauen sind, die beinahe zombieartig jederzeit und ohne Umwege zum Sex bereit sind.16 Warum nur erinnern mich diese Fantasien an das Bildmaterial, mit dem uns die Pornoindustrie so großzügig versorgt?
Nach dem Porno geht der Porno weiter!
Doch zurück zu Jan. Auch mit ihm rede ich darüber, was Mann und Frau Lust macht, darüber, wie unterschiedlich wir sexuelle Lust erleben. Für ihn ist klar, dass es krasse Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt:
Ich glaub, der Mann ist sehr viel mehr triebgesteuert. Ich glaub, beim Mann läuft sehr viel über das Visuelle: erregte Frau, Geruch … Das gehört alles dazu, es ist ein Zusammenspiel, der Penis funktioniert auch nur, wenn das Drumherum passt. […] Männer sind eher fokussiert auf ihren Penis. Das Lustzentrum hängt zwischen den Beinen. Wenn eine Frau weiß, damit umzugehen, […] ist schon viel gewonnen. […]...