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I. | Was Hochsensibilität bedeutet | |
Wenn Betroffene zum ersten Mal mit dem Thema in Berührung kommen, dann empfinden sie oft Erleichterung. Endlich wissen sie, was mit ihnen los ist, das Kind hat einen Namen, sie können nun – oft das erste Mal in ihrem Leben – ihr Verhalten einordnen und Gründe zum Beispiel dafür finden, wieso sie auf diese Art und Weise reagieren. (Falls Sie für sich klären möchten, ob Sie hochsensibel sind, finden Sie im Teil IV einen entsprechenden Fragebogen.) Aber gleich danach kommen die Fragen auf: »Und jetzt? Was soll ich damit anfangen? Wem sage ich es? Soll ich es überhaupt jemandem sagen, und wenn ja, wie? Und wie gehe ich zukünftig damit um?«
Erleichterung und Spannung liegen also sehr nah beieinander. Ich glaube sogar, dass dies eines der grundlegenden Spannungsfelder für Hochsensible ist: Auf der einen Seite endlich zu wissen, was mit einem los ist, und einen Namen für das Gefühl der Andersartigkeit zu haben, und andererseits nicht zu wissen, wie man damit umgehen soll. Nach einer Antwort stellen sich gleich hundert Fragen. Es ist typisch für hochsensible Menschen, dass die Fragen, die sie bewegen, sich zu einem wahren Gedankenkarussell aufschaukeln. Ist es einmal in Fahrt, erscheint der Ausstieg nur schwer möglich. Sollte es Ihnen genauso gehen (vielleicht auch gerade beim Lesen dieses Buches), dann möchte ich Sie dazu einladen, Ihre Aufmerksamkeit für ein paar Minuten auf Ihren Atem zu lenken, zu spüren, wie er in Sie hinein- und wieder hinausströmt, und diesem natürlichen Rhythmus zu folgen. Vielleicht gelingt es Ihnen dann sogar, die Gedanken einfach kommen und gehen zu lassen. In diesem Moment, den Sie jetzt und hier erleben, muss nichts weiter beantwortet werden. Sie sind auf dem Weg – und das genügt.
Es gibt viele hochsensible Menschen
Es wird Ihnen vielleicht an sich selbst oder an anderen Menschen schon aufgefallen sein, dass es Personen gibt, die sehr viel dünnhäutiger als andere zu sein scheinen. Menschen, die jedes Wort auf die Goldwaage legen, denen schnell alles zu viel wird, die auf Belastungen mit körperlichen Symptomen reagieren und die möglicherweise schnell verletzt sind. Vielleicht sind es aber auch gerade diese Menschen, die besonders gut zuhören, die äußerst differenziert beobachten und ihre Erfahrungen sehr subtil reflektieren können. Oft haben diese Menschen ein besonders hohes ethisches Verständnis, stellen hohe Ansprüche an sich und andere, brauchen viel Ruhe und sind zuverlässig in Freundschaft und Liebe.
Diese Eigenschaften sind typisch für hochsensible Menschen. Dass es sich bei der Hochsensibilität um eine Veranlagung handelt, ist von Elaine Aron, einer klinischen Psychologin aus San Francisco, erstmalig untersucht und Mitte der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts publiziert worden. Aufgrund ihrer Untersuchungen geht Aron davon aus, dass es sich um einen Anteil von 15 bis 20 Prozent hochsensibler Menschen an der Gesamtbevölkerung handelt. Das ist nicht wenig und bedeutet, dass es in jeder Schulklasse, jedem Verein, jedem Unternehmen, jeder Gemeinde und jedem Wohnquartier hochsensible Menschen gibt. Vielfach sind sie aber nicht so leicht zu erkennen, wie man meint. Hochsensibilität hat viele Gesichter und es ist denkbar, dass es viele hochsensible Menschen gibt, die ihre Veranlagung verbergen mussten und die sich möglicherweise eine besonders harte Schale zugelegt haben, um sich zu schützen. Denken wir nur an die herrschenden Erziehungsvorstellungen der vorigen Generationen, in denen Sensibilität kaum einen hohen Wert genossen haben dürfte, vor allem bei der Erziehung von Jungen. Oder denken wir an diejenigen, die vielleicht aufgrund hoher Wahrnehmungsfähigkeit krank geworden sind und durch die Maschen der Leistungsgesellschaft fallen. Neuere Studien1 stützen die Vermutung, dass die oft genannte Zahl von 15 bis 20 Prozent mit Vorsicht zu behandeln ist.
Es ist meines Erachtens aber nicht so wesentlich, ob jetzt 20 oder 30 Prozent der Gesamtbevölkerung hochsensible Menschen sind, wohl aber kann es wichtig für die Betroffenen sein, sich bewusst zu machen, dass sie keineswegs allein mit dieser Veranlagung sind. Wenn Sie als Normalsensibler oder Normalsensible mit einer oder einem hochsensiblen Partner gesegnet sind, dann können auch Sie sich bewusst machen, dass es viele Paare mit Ihrer Konstellation gibt. Wahrscheinlich ist es sogar so, dass es mehr Hochsensible in Ihrem privaten oder beruflichen Umfeld gibt, als Sie bis jetzt angenommen haben. Das Bewusstsein, nicht allein zu sein, kann Sie auch mutig werden lassen, über Ihre Empfindungen und Wahrnehmungen zu sprechen. Einsam macht oftmals nicht nur das Gefühl, die oder der Einzige zu sein, der oder die so kompliziert ist, sondern auch die Meinung, nicht darüber sprechen zu können oder zu dürfen.
Hochsensibilität – ein aktuelles Thema
Seit Elaine Arons ersten Büchern zum Thema Hochsensibilität sind nun nahezu zwanzig Jahre vergangen, und seitdem sind viele Bücher zum Thema erschienen.2 Wer aufmerksam die Medienlandschaft beobachtet, dem wird aufgefallen sein, dass es in den letzten Jahren immer mehr Interviews, Publikationen, Artikel, Radiosendungen und Berichte zum Thema Hochsensibilität gegeben hat. Meines Erachtens ist es kein Zufall, dass Hochsensibilität gerade in dieser Zeit immer mehr Beachtung erfährt. Es ist, als ob ein Scheinwerfer sein Licht auf dieses Thema geworfen hätte. Ich bin wie Gerald Hüther, ein namhafter deutscher Neuro-wissenschaftler, der Ansicht, dass diejenigen Eigenschaften in einer Gesellschaft dann sichtbar werden, wenn diese Eigenschaften auch benötigt werden.3 So gesehen hat unsere Gesellschaft hochsensible Fähigkeiten mehr denn je nötig. Eine ermutigende Erkenntnis, wie ich finde, da es sich häufig schwierig anfühlt, hochsensibel zu sein.
Das Gefühl der Andersartigkeit
Wenn Sie hochsensibel sind, dann haben Sie vielleicht schon immer das Gefühl gehabt, anders zu sein: Mehr zu fühlen, sich offensichtlich mehr Gedanken zu machen als andere, mitunter sogar schwerer am Leben zu tragen, ein vielschichtiges und reichhaltiges Innenleben zu haben und doch der Umwelt wenig bis gar nichts davon zeigen zu können – diese Erfahrungen und noch viel mehr gehört zu dem Erlebensspektrum der meisten hochsensiblen Menschen. Für sie sieht es oft so aus, als ob es Normalsensible einfacher hätten: Diese scheinen mit den äußeren Gegebenheiten der Welt besser klarzukommen, sie scheinen manchmal gern mit anderen um die Wette zu schwimmen und sogar Spaß dabei zu haben. Scheinbar leiden sie weniger unter Disharmonien, werden weniger aus der Bahn geworfen, können sich sichtbar besser abgrenzen und Ungelöstes auch mal stehen lassen.
Wenn wir davon ausgehen, dass es sich um zwei verschiedene Menschentypen handelt, dann handelt es sich auch um zwei verschiedene Arten, wie Menschen in der Welt und im Leben stehen. Auch wenn es sehr verständlich ist, erscheint es aber wohl nicht besonders konstruktiv, den anderen in die eigene Welt hinüberziehen zu wollen. Es ist eine tiefe Wahrheit und zugleich ein großer Schmerz, dass man immer nur die jeweils andere Welt besuchen kann, ohne je wirklich dazuzugehören.
In meiner psychologischen Praxis erzählen mir manchmal meine Klienten und Klientinnen von dem Wunsch, eine hochsensible Welt vorzufinden. Da scheint die Vorstellung verlockend, dass der Großteil der Menschheit sensibel und einfühlsam wäre, es genügend Zeit und Raum für Nachdenklichkeit und zum Verarbeiten gäbe und in der Welt weniger Konflikte und Kriege wären. Dieses sehr verständliche Bedürfnis danach, mehr Raum zum Entfalten der hochsensiblen Veranlagung zu haben, lässt aber auch oftmals übersehen, dass es zum Gelingen einer Gesellschaft auch anderes braucht. Rasch Entscheidungen zu treffen, die Fähigkeit, Projekte zu initiieren, Gelder aufzutreiben, sich nicht unnötig durch die eigenen Gedanken einschüchtern zu lassen sind nur einige der Eigenschaften, welche die Welt ebenso nötig hat.
Meiner Ansicht nach ist es nicht von Vorteil, ein Gesellschaftssystem durch das andere abzulösen. Es geht vielmehr darum, beide Arten, wie Menschen im Leben stehen, zu verstehen und immer wieder nach verbindenden Elementen zu suchen. Das gilt auch für Partnerschaften. Die Kunst einer gelingenden, modernen Partnerschaft besteht darin, sich gegenseitig wertzuschätzen, das Positive an der jeweils anderen Art annehmen zu lernen und die Herausforderungen, die sich aus der Andersartigkeit ergeben, zu meistern.
Unterschiedliche Begriffe – ein Phänomen
An dieser Stelle halte ich eine Begriffsklärung für nötig. Es kursieren im deutschen Sprachraum verschiedene Ausdrücke für dasselbe Phänomen. Da wird viel von Hochsensibilität gesprochen, oft liest man auch von Hochsensitivität, Hypersensibilität oder Überempfindlichkeit. Zu Ihrer Orientierung: Sensibel sein, im Sinne von stark wahrnehmen kann man mit allen Sinnen, das heißt auch mit dem Tastsinn (Berührungsempfindlichkeit), Geruchs- oder Geräuschsinn (es gibt zahlreiche Hochsensible, die sehr lärmempfindlich sind), oder man kann auch einen ausgeprägten Geschmackssinn haben. Von daher ist der Begriff Hochsensitivität im Grunde genommen die umfassendere und korrektere Bezeichnung. Immer mehr Autoren legen Wert darauf, von Hochsensitivität zu sprechen.
Im deutschen Sprachgebrauch wird der Ausdruck Hochsensibilität dagegen eher mit...