EHRLICHKEIT – DIE ZEITGEMÄSSE TUGEND
Politiker, die mit Plagiaten die Karriereleiter nach oben geklettert sind. Moralapostel, die Steuern hinterzogen haben. Unternehmer, die Bilanzen oder Umfragen fälschen: Liest man Zeitung oder guckt man Fernsehen, ist man wahlweise geschockt, entsetzt oder fühlt sich bestätigt. Es ist, als ob überall Abschied genommen würde, in Zugabteilen, Wirtshäusern oder Zeitungskolumnen. Ob nun Alice Schwarzer bei den Steuern gepfuscht hat oder der ADAC Statistiken manipuliert hat, jede Medienmeldung scheint ein neuer Abgesang, jede Schlagzeile ein noch flammenderer Nachruf. Abgesang und Nachruf auf eine Tugend, die anscheinend nichts mehr zählt und in ihren letzten Zügen liegt: die Ehrlichkeit.
Das klingt dramatisch und liest sich selbst wie einer jener unzählig-unsäglichen Nachrufe. Aber irgendwie ist es doch wahr. Es scheint in letzter Zeit wirklich nicht besonders gut bestellt zu sein um die Ehrlichkeit. Wir werden doch jeden Tag zugeschüttet mit Berichten über Lug und Trug, über Lügner und Betrüger. Vielleicht macht es tatsächlich keinen Sinn mehr, über Ehrlichkeit zu reden, wenn nicht in der Form von Nachrufen oder Reminiszenzen an eine Zeit, in der alles ehrlicher und damit alles besser war. So oder so ähnlich könnte man denken und argumentieren. Allerdings müsste man dafür die Tatsache ignorieren, dass die Ehrlichkeit für einen Toten ungewöhnlich lebendig ist. Denn obwohl sie schon längst verabschiedet ist, taucht sie wieder und wieder in unserem Leben auf. Als habe sie nicht nur sieben, sondern sogar unendlich viele Leben oder sei gar unsterblich. Auf jeden Fall ist sie immer da und begegnet uns jeden Tag und jede Stunde, in den unterschiedlichsten Formen und Situationen. Ein kleines Beispiel aus unserem Alltag: »Ehrlich?«, lautet eine der häufigsten Füllfragen in unseren Unterhaltungen. Wir gebrauchen das Wörtchen ziemlich oft, egal ob es sich um negative oder positive Dinge handelt, ob wir auf diese Weise Schock oder Begeisterung ausdrücken wollen. Dieses kleine »Ehrlich?« ist eine Ein-Wort-Frage, die trotz ihrer Kürze viel impliziert. Explizit versichert sie sich, ob unser Gesprächspartner gerade nicht gescherzt hat und ob er das, was er gesagt hat, auch wirklich ernst meint. Das bedeutet jedoch noch nicht, dass wir unserem Gegenüber und seinen Ausführungen misstrauen. Das wäre erstens zutiefst unhöflich und zweitens ziemlich anstrengend. Sehr oft wird das Wörtchen unbewusst und reflexhaft benutzt oder um Aufmerksamkeit und Interesse zu signalisieren. Doch selbst dann ist dieses unscheinbare »Ehrlich?« ein Indiz dafür, was Ehrlichkeit für unsere Kommunikation bedeutet. Denn implizit verweist die Frage auf die Grundvoraussetzung jeder Unterhaltung, eben Ehrlichkeit.
Auch der Sprecher selbst kann das Wort »ehrlich« verwenden, diesmal ohne Fragezeichen und dafür mit Doppelpunkt. Wenn er das tut und seine Sätze mit einem »Jetzt mal ganz ehrlich« und einem imaginären Doppelpunkt einleitet, so will er in der Regel für zusätzliche Aufmerksamkeit sorgen und seiner folgenden Aussage zusätzliches Gewicht verleihen. Dieses »Ehrlich« ist im Prinzip etwas merkwürdig. Schließlich sollte unser Gesprächspartner doch grundsätzlich davon ausgehen dürfen, dass auch das, was nicht hinter einem »Jetzt mal ganz ehrlich« folgt, stimmt und nicht gelogen ist. Ansonsten wäre es tatsächlich schlecht bestellt um die Ehrlichkeit und wirklich Zeit für einen Nachruf.
Dieses kurze Beispiel aus dem Alltag verdeutlicht, wie tief die Ehrlichkeit in unserem Sprachgebrauch verankert ist, ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind. Doch ist nicht gerade das ein Beleg dafür, dass zu viel gelogen wird? Ansonsten müsste man weder »ehrlich?« fragen noch »ehrlich!« sagen. Genau darum wird es in diesem Buch gehen. Darum, zu zeigen, dass dieser Eindruck trügt. Zum Beispiel, weil die Ehrlichkeit so tief verankert und selbstverständlich ist, dass wir sie gar nicht mehr bemerken. Es gibt mehr Ehrliche, als man uns glauben machen will. Sie sind die »Heinzelmännchen« unserer Gesellschaft und ihr Wirken bemerken wir meistens erst dann, wenn sie nicht mehr wirken. Einen Grund, weshalb uns zwar Ehrlichkeit Tausende Mal in unserem Leben begegnet und dennoch nur vereinzelt im Gedächtnis bleibt, zeigen gerade jene Abgesänge und Nachrufe. Abertausende Seiten sind über die Wahrheit geschrieben worden und nicht viel weniger über die Lüge. Was wahr ist und was nicht, das mag zwar bis heute zwischen Philosophen, Theologen oder Anthropologen höchst umstritten sein. Doch zumindest gibt es klare Definitionen, die man ablehnen, annehmen oder ignorieren kann. Eine exakte Definition von dem, was ehrlich ist und was nicht, gibt es dagegen nicht. Allenfalls Implikationen, die die Ehrlichkeit im Bereich der Wahrheit ansiedeln oder sie ausschließlich im Kontrast zur Lüge darstellen und ihr auf beide Weisen nicht gerecht werden. Dafür, dass sie so allgegenwärtig in unserem Leben ist, ist die Ehrlichkeit erstaunlich wenig präsent in der Literatur oder Philosophie.
Noch am häufigsten liest man, die Ehrlichkeit sei eine Tugend. Diese Kurzdefinition ist als Ausgangspunkt für weiterführende Fragen absolut brauchbar. Und um es vorwegzunehmen: Die Ehrlichkeit ist nicht nur irgendeine Tugend, sondern eine der wichtigsten und grundlegendsten Tugenden überhaupt. Wer nach der Ehrlichkeit fragt, erhält Antworten über das, was unsere Beziehungen und sogar unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält oder zusammenhalten könnte. Wenn wir dem nachgehen, was den Ehrlichen auszeichnet, so stoßen wir zu den Kernkompetenzen des Menschen als »zoon politikon« vor. Ja, wir dürfen sogar konstatieren: Wer nach der Ehrlichkeit in seinem Leben sucht, stößt auf das, was dieses Leben lebenswert macht. Wenn wir also versuchen zu definieren, was genau die Tugend Ehrlichkeit sei und was sie kennzeichnet, so werden wir auch darüber sprechen müssen, was den Menschen seinem Wesen nach ausmacht. Die Frage nach der Ehrlichkeit ist damit immer eine Frage nach der Identität des Menschen.
Erinnern Sie sich noch daran, wie einst Friedrich Nietzsche den Narr umherlaufen und ihn den Tod Gottes verkünden und beklagen ließ? Mit dem Tod der Ehrlichkeit verhält es sich nun ähnlich. Wer sie beerdigen will, kann aus zwei Särgen auswählen. Auf dem einen steht »Der Ehrliche ist der Dumme« und auf dem anderen steht gar nichts. Auf dem einen Sarg steht nichts, weil manche so tun, als habe es die Ehrlichkeit überhaupt nie gegeben. Als sei sie eine romantische Einbildung oder gar eine ideologische oder, noch schlimmer, religiöse Erfindung, um den Menschen in ein Verhaltensmuster zu zwängen, das überhaupt nicht seiner Natur entspricht. Was für Nietzsche die Genealogie der Moral lieferte, soll diese Erklärung den Ehrlichkeits-Feinden liefern: einen Beleg dafür, dass es so etwas wie den ehrlichen Menschen gar nicht gibt oder ihn zumindest nicht geben sollte. Für sie ist Ehrlichkeit etwas wortwörtlich Widernatürliches und nicht viel besser als Opium für das Volk.
Dieser Sarg ist inzwischen ein wenig aus der Mode gekommen. Er passt nicht mehr in den Zeitgeschmack, der sich weniger um die Natur des Menschen, als vielmehr seinen Nutzen kümmert. Die zweite Gruppe der Ehrlichkeits-Totengräber hat sich deshalb eine etwas andere Argumentation zurechtgelegt. Für sie ist die Ehrlichkeit schön und nicht gut. Zumindest nicht gut für Karriere oder Geldbeutel. Ihr Slogan gehorcht dem Prinzip des Kapitalismus. Demnach ist der Ehrliche der Dumme und weil keiner dumm sein will oder sein darf, sollte er schnell die Finger lassen von der Ehrlichkeit. Sie stört nur und bremst und deshalb kommt der, der ehrlich ist, zu spät. Und wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben.
Aus unserer Sicht passt keiner der Särge und ist weder die eine noch die andere Argumentation wahr oder gar ehrlich. Natürlich gibt es Uli Hoeneß und den ADAC und selbstverständlich kennen wir reiche Betrüger und angesehene Lügner. Doch genauso gibt es Guido Orefice und Dietrich Bonhoeffer und ohne Frage kennen wir ehrbare Kaufmänner und erfolgreiche Ehrliche. Wenn wir nur etwas über sie nachdenken, so werden wir schnell erkennen, dass die Abgesänge auf die Ehrlichkeit zwar zahlreich sind, doch wenig im Vergleich zu den unzähligen Beispielen von gelebter und vor allem erlebter Ehrlichkeit.
Gesetzt den Fall, wir hätten damit recht, so bleibt die Frage offen nach dem Grund dafür, dass so viele Menschen das bedrückende Gefühl haben, in einer zunehmend unehrlicheren Welt zu leben. Für das Erste sei folgende Antwort vorausgeschickt: Grund ist, dass die Wulffs und der ADAC auffallen und die Bonhoeffers und Orefices nicht. Während Wahrheit und Ehrlichkeit meistens unscheinbar sind, sind Lüge und Betrug ein Spektakel, wenn sie denn aufgedeckt werden. Das gilt für die Medien, das gilt aber auch für unser persönliches Leben. Während Sie sich im Moment des Lügens sehr klar darüber sind, dass Sie lügen, so werden Sie der Tatsache, dass Sie soeben eine wahre Geschichte erzählt haben, wenig Bedeutung beimessen. Sie tun es einfach, weil das tief in Ihnen steckt. Die Lüge dagegen ist etwas, wozu wir uns entschließen müssen, etwas, das nicht von uns selbst kommt, sondern das wir uns zu Diensten machen. Das christlich-jüdische Abendland hat für dieses Phänomen eine Erklärung in der Bibel gefunden. Dort wird beschrieben, wie die Lüge in die Welt kommt, und dieses Ereignis mit dem Beginn der Menschheit gleichgesetzt. Es scheint also, dass bereits für die Menschen vor Tausenden von Jahren ihre Geschichte eng verbunden mit der Wahrheit, aber auch der Lüge war.
Für uns bedeutet das, dass die Suche nach der Ehrlichkeit unweigerlich durch das Gebiet der Lüge führen...