1. Operativ-Vorgang »Revisionist« – ein Student geht eigene Wege
16. 05. 1968 Bericht Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Bezirksverwaltung (BV) Leipzig, Abt. XX/3, Ltn. Hampl
Am 14. 5. 68 wurde von 13.00–14.45 im Prorektorat für Studienangelegenheiten der KMU mit der Studentin Nölle, Annemarie (1. Stdj. Stabü/Deutsch) ein erstes Kontaktgespräch geführt. Ziel war einzuschätzen ob sich die Nölle für eine eventuelle Werbung eignet. Die Betreffende ist Mitglied unserer Partei. Sie stammt aus sehr fortschrittlichem Elternhaus. Bis vor einigen Wochen war sie FDJ-Sekretär des Seminars. Zu den Vorkommnissen (Kleben von Flugblättern) am 1. 4. 68 im Petersteinweg konnte sie überhaupt nichts sagen. Ihr sind keine Studenten bekannt, die sich offiziell als auch inoffiziell eine Veränderung der Lage bei uns nach dem Muster der CSSR wünschen o. die zu Demonstrationen aufgefordert hätten. Die Nölle ist aber gern bereit uns zu unterstützen, weil das auch für sie selbst nützlich wäre insofern sie dann besser einschätzen könnte was die Studenten, mit denen es immer Schwierigkeiten gibt, nun wirklich denken. Alles andere, so wurde mit ihr vereinbart, werden wir am 28. 5. 68 13.30 noch konkreter besprechen. Sie war damit sofort einverstanden. Ihr wurde eine Schweigeverpflichtung über das geführte Gespräch abgenommen. Zur Person ist noch folgendes zu ergänzen: Sie hat ein Verhältnis zu einem verheirateten Lehrer aus Wurzen. Es handelt sich um die Oberschule wo sie das Abitur ablegte. Vom Äußeren her ist sie recht ansprechend. Sie scheint sehr lebenslustig zu sein, ohne dabei in Unmoral auszuarten. Ihr polit. Wissen ist gut. Ihr fehlt es z.T. an Einschätzungsvermögen wobei in einigen Dingen gewisse mädchenhafte Naivität noch vorhanden ist. Die Nölle interessiert sich sehr für Theater, Literatur u. Sport. Bei dem Gespräch kam mehrmals zum Ausdruck, daß sie knapp bei »Kasse« ist u. sich gern mehr leisten würde.
27. 05. 1968 Vorschlag zur Anwerbung, Ltn. Hampl, Abt. XX/3, BV Leipzig
Es wird vorgeschlagen, die Nölle, Annemarie, geb. 5. 7. 48 als GM [geheimen Mitarbeiter] auf der Linie Karl-Marx-Universität (Studenten) anzuwerben. Die Kandidatin wurde im Zusammenhang mit der Bearbeitung des Operativ-Vorganges »Steinweg« bekannt. Zunächst bestand der Verdacht, daß die Betreffende mit in den Täterkreis einzuklassifizieren ist, weil die Tatschrift auf den selbst gefertigten Hetzflugblättern die gleichen Gruppenmerkmale, wie die in ihrem Personalunterlagen vorhandene Schrift, trug. Durch exakten Schriftvergleich, Ermittlungen bzw. einer ausführlichen Aussprache mit ihr konnte dieser anfängliche Verdacht vollkommen entkräftet werden. Im Ergebnis der Aussprachen u. der Ermittlungen ist einzuschätzen, daß sich die Nölle vor allem in Verbindung mit der schnellen u. umfassenden Bearbeitung des Vorganges »Steinweg« als IM eignet. Auf Grund ihrer unkomplizierten Art u. ihrer relativ leichten Lebensauffassung wäre es auch möglich, sie zur inoffiziellen Nutzung in anderen operativen Bereichen einzusetzen. Ihre persönlichen Interessen u. Neigungen haben vieles gemein mit den operat. Erfordernissen der Abwehrarbeit auf der Linie Studenten.
07. 06. 1968 Anwerbungsbericht, Ltn. Hampl, Abt. XX/3, BV Leipzig
Am 5. 6. 68 in der Zeit von 10–12.30 wurde die Werbungskandadatin Nölle im Treffzimmer des Hotels »Stadt Leipzig« angeworben. Der Kandidatin wurde die Notwendigkeit einer systematischen, zielgerichteten Organisierung der Abwehr- und Aufklärungsarbeit des MfS erklärt. Dabei wurde besonders herausgearbeitet, daß es uns vor allem darauf ankommt zu wissen, was die Studenten tatsächlich bewegt, um auf der Grundlage exakter operativer Lageeinschätzungen von vornherein möglichst zu verhindern, daß es zu irgendwelchen Feindtätigkeiten kommt. Ihr wurde erläutert, daß das ein komplizierter Prozeß ist der auch ständige Differenzierung verlangt und wahrheitsgemäße bzw. konkrete Informierung seitens der inoffiziellen Quellen erfordert. Die Kandidatin wurde besonders zu den Grundregeln der Konspiration instruiert. Sie gab eine schriftliche Erklärung ab das MfS zu unterstützen, gegenüber jedermann Stillschweigen zu bewahren und wählte sich den Decknamen »Janette«. Die Nölle ist auch bereit, je nach Erfordernis der Situation, Verbindungen mit männlichen Personen herzustellen bzw. zu festigen. Ihrerseits gibt es einige Probleme betreffs des Verhältnisses zu dem verheirateten Lehrer aus Wurzen. Dabei bleibt jedoch die obengenannte Feststellung unberührt. Sie berichtete, daß sie einfach nicht die Kraft aufbringt, sich konsequent von ihm loszusagen. Er beteuert, daß er sie liebt. Auf der anderen Seite sei es so, daß seine Frau, obwohl das Verhältnis zu ihr bereits ca. 2 Jahre besteht u. sie sich angeblich nicht verstehen, jetzt von ihm das erste Kind erwartet. Nachdem auch an der Fakultät erste Anzeichen laut würden wegen des Verhältnisses, daß sie schon seit dem 12. Schuljahr an der Oberschule hat, will sie nun dennoch diese Sache abbrechen. Ihr wurde erklärt, daß sie mit diesen Dingen selbst fertig werden muß u. wir uns in solchen wie auch in anderen privaten Angelegenheiten nicht das Recht nehmen, einzumischen. Wir werden sie aber gern beraten um richtige Entscheidungen zu finden. Ihr wurde geraten das Verhältnis auch im Interesse der beruflichen Perspektive zu lösen.
22. 10. 1968 Treffbericht Geheimer Mitarbeiter (GM) »Janette«, 10.30–12.00 Uhr, Treffzimmer Hotel »Stadt Leipzig«, Ltn. Hampl
GM »Janette« berichtete beim Treff im Zusammenhang mit der Lage in der CSSR, daß es in ihrem Seminar (Stabü/Deutsch II/4) eine Studentin Radkowski, Karla gebe, die sehr negativ diskutiert. Das verwunderliche daran ist, daß sie Mitglied unserer Partei ist. GM »Janette« wird bis zum Treff einen ausführlichen Bericht über dieses Problem anfertigen.
22. 10. 1968 Quittung
Für operativen Auftrag habe ich von einem Vertreter des MfS 30.- M (dreißig) erhalten. Janette
29. 11. 1968 Treffbericht IM »Janette«, 05. 11. 1968, 16.30, KW »Burg«, Mitarbeiter: Müller
Entsprechend des letzten Auftrages brachte der IM [»Janette«] einen schriftlichen Bericht über eine negative Studentin Karla, R. aus der Seminargruppe des IM. Dabei war festzustellen, daß der IM ein gutes Einschätzungsvermögen hat. Sie wurde unter Legende beauftragt, (gemeinsames Interesse für Kafka) den Kontakt zur K. enger zu gestalten und ihr politisches Vertrauen zu gewinnen, vor allem um die Quellen und Ursachen ihrer revisionistischen Anschauungen zu erfahren.
02. 12. 1968 Treffbericht IM »Janette«, 26. 11. 1968, 9.00–10.30 Uhr, KW »Burg«, Mitarbeiter: Müller
Weiterhin teilte der IM [»Janette«] mit, daß er Verbindung zu dem Studenten Wilkau unterhält, der sie zu sich eingeladen hat. Dieser Student ist auch in Besitz von Westliteratur. Der IM erhielt den Auftrag, den Kontakt zu Wilkau zu festigen und diesen aufzuklären, insbesondere hinsichtlich seiner konkreten Westverbindungen sowie seiner politischen Einstellung. Dazu erhielt der IM eine Verhaltenslinie.
20. 12. 1968 [handschriftlicher] Bericht IM »Janette«
Auftragsgemäß nahm ich Kontakt zu Peter Wulkau (Student ML/WS [Marxismus Leninismus/Wissenschaftlicher Sozialismus] 2. Stdj.) am 19. 12. 68 auf. An diesem Tag besuchte er mich und in einer siebenstündigen Unterhaltung wurde mir folgendes bekannt: W. unterhält freundschaftliche Verbindungen zu Karla Radkowski und ihrem Mann Gregor Radkowski (geboren Kuhr). Durch W. habe ich erfahren, daß er mit Studenten aus den Fachrichtungen Landwirtschaft, Medizin, Philosophie Verbindung unterhält. Namen und Treffpkt. sind mir noch nicht bekannt; er will mich jedoch in diesen Kreis einführen. Diese Stud. diskutieren über unsere Politik sowie über revisionist. Anschauungen. Dazu benutzen sie Schriften wie: »Prager Volkszeitung«, »2000 Worte«. Nach Angabe des W., sind sie u.a. zu der Schlußfolgerung gekommen, daß die Entwicklung in der CSSR nicht so verlaufen ist, wie sie im ND geschildert worden ist. Zur Einschätzung des W.: Ich bin mit W. befreundet und [habe ein] enges Vertrauensverhältnis zu ihm. W. ist parteilos. Er brachte mir gegenüber zum Ausdruck, daß er für den Soz. ist, ihn...