Kapitel 1
Manche Leute haben Fernseher, ich habe mein Feuer draußen vor der Hütte. Keine amerikanische Krimiepisode, nur knisternde Flammen, in die ich stundenlang schauen kann. Meine Gedanken verlieren sich darin. Über mir spannt sich eine Kinoleinwand: der Nachthimmel voller Sterne. Wer braucht Pyrotechnik für sündhaft viel Geld, wenn es die Milchstraße umsonst gibt? Ihr Funkeln verschlägt mir den Atem. So auch die Landschaft ringsum. Jetzt, da es dunkel ist, kann ich sie nicht sehen, aber ich fühle sie, schmecke sie, spüre sie unter meinen Stiefeln. Das Outback. Es ist ein Teil von mir. Oder bin ich ein Teil von ihm? Wie dem auch sei, ich weiß, dass ich hierhin gehöre. Dieses Land, diese enorme Weite, die überwältigend wirken kann, hat mir geholfen, zu dem zu werden, der ich bin. Momentan starre ich in die Flammen und denke über mein Leben nach, über die Reise, die mich herführte, zu dieser Zufluchtsstätte, um die ich so sehr gekämpft habe. Ich bin keiner, der das Scheinwerferlicht sucht, finde mich aber trotzdem plötzlich in Wohnzimmern auf der ganzen Welt wieder. Der einzige Grund dafür ist die Ikone Australiens, das Känguru. Roger, Ella, Abi, Monty, mein kleiner Kumpel Ned Kelly, Molly Fleur, Nigel, die arme Daisy und Hunderte mehr.
Angefangen hat alles mit einem tapferen kleinen Joey, einem Kängurujungen. Den Tag, an dem ich es entdeckte, werde ich nie vergessen.
Es war irgendwann im Jahr 2005, vielleicht im August, jedenfalls an einem herrlichen, warmen Tag mit Temperaturen um die dreißig Grad. Ich fuhr einen Bus voller Rucksacktouristen aus aller Welt, ungefähr zwanzig Personen, alle in ihren Zwanzigern. Wir waren auf dem Weg zum Uluru, einem der bekanntesten Wahrzeichen Australiens, und wollten rechtzeitig zum Sonnenuntergang dort ankommen. Dann nämlich bietet sich ein Bild, an dem ich mich nicht sattsehen kann. Die Farbe des riesigen Felsens – ein heiliger Ort für die Ureinwohner – geht von einem prunkvollen Rot in Gelb- und Orangeschattierungen über, die mit den Blau-, Rosa- und Violetttönen des Himmels zu verschmelzen scheinen. Ein magischer Moment. Viele Touristen kommen nur deswegen ins Outback. Ich begleitete meine Gruppe als Reiseführer auf einem Zwei-Tage-Trip, und obwohl den Teilnehmern nicht zugesichert worden war, dass sie Fotos vom Sonnenuntergang machen können, beeilte ich mich, meinen Leuten eine solche Gelegenheit zu bieten.
Der Tag hatte schon hektisch begonnen. Wir waren früh in Alice Springs aufgebrochen und zum dreihundert Meilen entfernten Kings Canyon gefahren, wo wir eine Wanderung machten und zu Mittag aßen. Wieder im Bus, hatten wir noch zweihundert Meilen bis zum Uluru zurückzulegen.
Mit dem Anhänger voller Gepäck schafften wir nur knapp neunzig Stundenkilometer. Hätte ich aufs Gas gedrückt, wäre mir womöglich der Keilriemen oder sonst was um die Ohren geflogen. Am Ende aber war es kein mechanischer Defekt, der uns an diesem Tag aufhielt, sondern ein Roadkill, ein überfahrenes Tier auf der Straße. Ein in Australien häufiger Anblick.
Ich hielt an, um das Tier von der Straße zu schaffen, und eilte auf das Häufchen Elend zu. Es war ein weibliches Känguru, für das, wie ich sofort sehen konnte, jede Hilfe zu spät kam. Ich checkte auch seinen Beutel. Nichts. Schweren Herzens schleifte ich den Kadaver von der Straße, wischte mir die Hände an meinen Shorts ab und stieg zurück in den Bus.
»Wär doch schön, wenn wir irgendwann am Uluru ankämen«, rief jemand ruppig.
»Yeah, ich beeile mich. Aber das musste gemacht werden«, antwortete ich.
Ich erklärte allen, warum ich angehalten hatte. Lag eine tote Kängurumutter auf der Straße, steckte in ihrem Beutel möglicherweise noch ein lebendiges Baby, und wer wollte, dass es leiden musste? Auf der Fahrbahn stellte das tote Tier außerdem eine Gefahr für andere Tiere dar, zum Beispiel für Keilschwanzadler, die sich gelegentlich auch über Aas hermachten.
Wir fuhren weiter. Ich klappte die Sonnenblende herunter und versuchte, Zeit gutzumachen. Es sah alles danach aus, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit am Uluru ankommen würden. Wir hatten noch ungefähr eine Stunde bis dorthin.
Wir erreichten Curtin Springs, ein Rasthaus, an dem ich normalerweise haltmachte, damit meine Fahrgäste etwas einkaufen konnten. Diesmal fuhr ich vorbei und sah wenig später schon von weitem das nächste Verkehrsopfer auf der Straße liegen, ein Känguru, aufgedunsen und offenbar schon länger als einen Tag tot. Zwei Keilschwanzadler hockten auf dem Kadaver. Ich fragte mich, warum sie hier waren und nicht bei dem erst kürzlich getöteten Tier, das sie aus der Höhe, in der sie für gewöhnlich kreisten, hätten erspähen können. Keilschwanzadler bevorzugen frisches Fleisch. Warum faulige Reste fressen, wenn ganz in der Nähe ein Fünf-Sterne-Dinner wartete?
Ich hielt wieder an, griff zum Mikrofon und erklärte, was ich vorhatte. Mehrere Fahrgäste verdrehten die Augen, einer raufte sich die Haare und stöhnte frustriert auf. Es war deutlich, die meisten dachten: Lass das Känguru liegen! Du bist unser Guide. Mach deinen Job und bring uns rechtzeitig ans Ziel.
Aber ich konnte nicht weiterfahren. Was, wenn das nächste Auto mit hundert Sachen vorbeikam und die Keilschwänze über den Haufen fuhr? Das konnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Außerdem beschäftigte mich die Frage, warum die Vögel ausgerechnet hier herumhingen. Nur in äußerster Not oder wenn ein anderes totes Tier Hunderte von Kilometern entfernt wäre, würden sie sich mit derart altem Fleisch begnügen.
Als ich ausstieg, fluchte der Typ hinten im Bus.
Die Keilschwänze flogen auf und landeten in sicherer Entfernung. So ohne weiteres wollten sie ihr Abendessen nicht aufgeben. Es waren zwei ausgewachsene, große schwarze Vögel, vielleicht ein Brutpaar. Ich ging über die weiße Linie am Straßenrand, warf einen Blick auf die Sonne und musste einsehen, dass es heute keine Fotos vom Sonnenuntergang am roten Fels mehr geben würde.
Ein ekelhafter Gestank schlug mir entgegen. Doch davon ließ ich mich nicht aufhalten. Ich trat näher an den Kadaver und bemerkte, dass aus dem Beutel ein kleines Bein und eine Schwanzspitze herausragten, beide schrecklich zugerichtet. Auch die Brust des Babys war von den Adlern verletzt worden, wie ich feststellen musste. Der Anblick erschütterte mich so sehr, dass ich am liebsten kehrtgemacht hätte, doch ich zwang mich zu bleiben.
Mir war klar, dass ich die Leute im Bus gegen mich aufbrachte, aber ich konnte das arme kleine Ding nicht so zurücklassen. Ich ärgerte mich über mich selbst. Ich hätte meine Reisegäste besser darüber aufklären sollen, wie wichtig es ist, dass man sich um überfahrene Tiere kümmert. Vor ein oder zwei Tagen hätte das Baby noch gerettet werden können. Dafür war es jetzt offenbar zu spät. Ich würde es nur noch aus dem Beutel ziehen und unter einen Busch am Straßenrand legen können. Als ich nach dem Beinchen griff, stockte mir der Atem. Es zog sich ruckartig in den Beutel zurück!
Ich sprang auf und eilte zum Bus.
»Da ist noch ein Joey im Beutel des Kängurus«, rief ich. »Sieht alles andere als niedlich aus. Aber deshalb halte ich immer wieder an. Wie wär’s, wenn mir jemand helfen würde?«
Wenn jemand, fügte ich hinzu, ein Bild vom Sonnenuntergang über dem Uluru haben wolle, könne er sich auch eine Postkarte kaufen. Man muss mir angemerkt haben, wie bestürzt ich war. Bevor ich ausfallend wurde, meldete sich eine junge Frau und sagte, sie sei Krankenschwester. Ich erklärte ihr und allen, die daran interessiert waren, dass man normalerweise nur mit der Hand in den Beutel greifen müsse; die Haut des überfahrenen Kängurus habe sich aber im Tod so fest über den Bauch gespannt, dass man nicht mehr hineinlangen könne.
Als ich mit der jungen Frau den Unfallort erreichte, stiegen auch noch andere aus dem Bus und zückten ihre Kameras. Manche wurden von dem Verwesungsgestank überrascht. Ein großer, athletischer Kerl sprang in die Büsche und übergab sich.
Wir bargen ein noch unbehaartes kleines Pinkie, ungefähr vier Monate alt und mit schon geöffneten Augen. Es war von einer trockenen Blutkruste überzogen. Ich hielt es in beiden Händen und untersuchte seine Verletzungen. Alle schwiegen. Ich ließ meine Gruppe wissen, dass wir einen neuen Passagier mit an Bord nehmen würden. Die Sonne ging unter, die goldene Stunde war angebrochen. Anstatt Fotos vom Uluru zu schießen, parkten wir am Straßenrand und machten auf dem Gaskocher Wasser warm, das wir mit einem Tropfen Spülmittel in eine Plastikschale schütteten, um das Kängurubaby zu waschen. Inzwischen beklagte sich niemand mehr über den verpassten Sonnenuntergang. Die Krankenschwester packte mit an, während andere zum Bus zurückliefen, um den Erste-Hilfe-Koffer zu holen. Wir legten dem Jungen Gazeverbände an, trockneten es und wickelten es in ein Handtuch. Es schrie nun nach seiner Mutter und stieß einen Laut aus, der so klang, als hustete jemand das Wort hair.
»Hair, hair, hair …«
Wir nannten es Anna, nach einer Mitreisenden aus Deutschland, die sich bereit erklärte, sich um das Kleine zu kümmern. Alle waren wieder an Bord, und mir fiel sofort auf, wie sehr sich die Stimmung verändert hatte. Nach dem Murren herrschte jetzt Heiterkeit.
In Yulara, der letzten Station vor dem Uluru, machte ich einen Mitarbeiter der Regierungsbehörde Parks and Wildlife ausfindig, bei dem ich Anna übernachten lassen konnte. Danach widmete ich mich wieder meinen Pflichten als Reiseleiter und kochte über dem offenen Feuer ein Abendessen für meine Gruppe....