Januar
Das Bidet oder die Suche nach dem Örtchen
„Rosa Unterhosen?“ Ich musste lachen, als Anna mich beim Frühstück schräg anguckte und mich verwundert nach der Farbe der Unterwäsche fragte. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass auf einer argentinischen Silvesterparty rosa Unterhosen für die weiblichen Teilnehmer nicht fehlen durften, schließlich bringen sie Glück für das kommende Jahr, besagt die Tradition.
Anfangs hatte ich meine Befürchtungen. Womöglich könnte Silvester ein Babylon werden, eine große Sprachverwirrung. Aber als ich das Zehnländer-Buffet entlang der Wand des weiträumigen Wohnzimmers entdeckte, wusste ich sofort, dass sich die Gäste aus den verschiedensten Winkeln der Welt prächtig verstehen würden. Jeder hatte eine Spezialität seines Landes vorbereitet, sodass von indischem Dal bis hin zu griechischem Salat alles zum Verkosten einlud. Bis zum Morgengrauen wurde wild getanzt und gelacht. Freundschaften wurden geschlossen, euphorische Reden geschwungen und Lebensgeschichten offenbart, während der warme Sommerwind des Río de la Plata das Großstadtflair durch die weit geöffneten Balkontüren hereinwehte und uns alle verzauberte. Jeder von uns spürte die Gunst des Abends, denn zu jener Stunde in Buenos Aires ein neues Jahr zu beginnen, mit Menschen so unterschiedlicher Vita und Herkunft, das war etwas ganz Besonderes.
Das neue Jahr konnte nur gut werden, so überschwänglich, wie es begonnen hatte, ging es mir durch den Kopf, als ich um sieben Uhr in der Früh glücklich ins Bett fiel.
Am späten Nachmittag des ersten Januar wurde es im alten Haus langsam geschäftig. Auch ich kam aus meiner Travellerklause gekrochen, machte mir zum Frühstück ein Stück Pizza warm und setzte mich zu Andrew an die Rezeption. Der lebhafte Engländer mit den schwarzen Strubbellocken und den kleinen blauen Augen, der meistens an der Rezeption arbeitete, war immer zu einem Gespräch über Buenos Aires aufgelegt. An diesem ersten Morgen des neuen Jahres wollte ich mehr über den Wohnungsmarkt der Stadt erfahren. Dafür war Andrew der richtige Ansprechpartner.
„Oh man, bis du hier ’ne Wohnung findest, das dauert mindestens vier bis fünf Monate. Und vergiss bloß die Idee, dass Buenos Aires billig ist“, erzählte er mir, während seine Hände heftig durch die Luft wirbelten. Vier bis fünf Monate! Will der mich auf den Arm nehmen? Es ist zwar toll, in einem Hostel zu leben, wo man Leute aus aller Welt kennenlernen kann. Trotzdem war das Casa Jardín für mich von Anfang an Teil einer Einlebphase und sollte nicht zu einem Dauerzustand werden. Schüchtern keimte inzwischen der Wunsch, mein argentinisches Leben zu beginnen und alles Touristische hinter mir zu lassen.
An Andrews Bemerkung, dass die Stadt nicht billig sei, sollte ich mich bald wieder erinnern.
Als ich etwas nervös an der Glastür des Maklerbüros, das mir Andrew empfohlen hatte, auf der Straße Thames klingelte, machte mir eine freundlich lächelnde Frau mittleren Alters auf und bat mich herein. „Hallo, ich bin Silvia, womit kann ich dir behilflich sein?“, fragte sie sanft lächelnd, sodass sie langsam mein Vertrauen gewann. Während sie sich eine Zigarette anzündete, erzählte ich, ich hätte vor, ein Jahr zu bleiben, und suchte deswegen eine kleine Wohnung in Palermo zur Miete. „¡Perfecto!“, rief Silvia entzückt und machte mir ein Kompliment für mein Spanisch, auf das ich mir nicht viel einbildete. Zugegeben, es ist nicht schlecht, aber ich wusste auch, dass Porteños mit Komplimenten nicht geizen. „Querida, Liebste, wenn du willst, können wir uns direkt ein Apartment in der Nähe angucken.“
Kurz darauf standen wir im Aufzug in einem der hohen Apartmenthäuser von Palermo. Im achten Stock angekommen, entriegelte Silvia mehrere Schlösser an einer Holztür. Wir traten in eine eintönig braune Einzimmerwohnung, die sehr dunkel war und muffig roch. Der in besseren Zeiten vermutlich blaue Teppich hatte sich dem vorherrschenden Braun der Wohnung über die Jahre auf wundersame Weise angepasst. Als ich aus dem einzigen Fenster schaute, erschrak ich. Der Blick reichte bis zu einer einen Meter entfernten grauen Betonwand.
„Wie du siehst, ist diese Wohnung nach hinten gelegen. Deshalb kostet sie nur 600 Dollar pro Monat“, erklärte mir Silvia. Ihr konnte mein entsetzter Gesichtsausdruck nicht entgangen sein. Unwillkürlich musste ich an Andrew denken. Überstürzt verabschiedete ich mich von Silvia und dankte ihr für ihr Bemühen. Unter einer Wohnung in Buenos Aires hatte ich mir eine andere Art von Behausung vorgestellt als solch eine miefige Bude.
Am Abend suchte ich Ablenkung, und so kostete es Anna, dem kleinen Belgier Simon und Paula aus Köln nicht viel an Überredungskunst, mich zur Plaza Cortázar, auch genannt Plaza Serrano, im Herzen von Palermo Soho mitzuschleppen. Euphorisch erzählte mir Simon, dass später noch eine Privatparty bei einem Argentinier stattfinden würde. Paula war erst vorgestern aus dem kleinen brasilianischen Strandort Pipa angekommen, wo sie drei Monate verbracht hatte. Ein Job bei einer holländischen TV-Produktionsfirma hatte sie nach Buenos Aires verschlagen. Paula und ich verstanden uns sofort blendend. Ihr Humor und ihr fröhliches Gemüt brachten mich ständig zum Lachen. Auch half die Tatsache, dass wir beide über zwanzig Jahre in Köln gelebt hatten.
An Palermo gehe kein Weg vorbei, wolle man Buenos Aires bei Nacht kennenlernen, erklärte mir Simon, als wir auf die Plaza traten, wo es nur so von Menschen wimmelte. Halb Buenos Aires schien sich hier in der Wärme der sternklaren Nacht versammelt zu haben. Rund um den Platz waren bunte Bars aufgereiht. Stühle und Tische standen weitläufig auf den Gehwegen. Livemusik und lautes Lachen stiegen aus allen Ecken in die warme Luft. Jeder war aus der Enge der vier Wände geflohen, um der Sommerhitze zu entkommen. Kinder spielten bis weit nach Mitternacht noch auf dem Spielplatz in der Mitte des Rondells, während Taxifahrer in Schlangen von schwarz-gelben Autos neue Menschen vor den Bars ablieferten. Auf der Straße, die um die Platzmitte führte, spazierte ein Clown auf Stelzen und verteilte Flyer für nahe gelegene Clubs, die später aufmachen würden. Ich war begeistert. Augenblicklich hatte ich meine Sorgen um die Wohnungssuche vergessen und erinnerte mich an die altbekannte Sehnsucht nach Abenteuer und an meine Vorliebe für das Unbekannte.
Wie wir mehrere Runden um die Plaza drehten, um einen Sitzplatz zu ergattern, hörte ich von überall her Männerstimmen, die Paula, Anna und mich abwechselnd laut mit Komplimenten lockten. „¡Muñeca! Puppe!“, „¡Rubia! Blonde!“ oder „¡Que bombón! Was für eine Praline!“
Später sollte mich Martha, eine Friseurin aus Recoleta, darüber aufklären, dass diese Macho-Art, Frauen öffentlich zu würdigen, piropo genannt wird. Auch erklärte sie mir mit ernster Miene, dass wir Frauen diese Gesten der Männer würdigen müssten und, falls die piropos ausblieben, vor Enttäuschung zu weinen hätten. Aber mal ehrlich, Puppe, Blondy oder Praline, lauteten so etwa Begriffe, die angemessen waren, um sie Frauen auf der Straße lauthals nachzurufen? Verhielte sich ein US-amerikanischer Mann wie ein Porteño, würde ihm fristlos gekündigt. Grund des Rausschmisses: sexuelle Belästigung.
Kein Wunder, dass Porteñas bei so viel Aufmerksamkeit und Bestätigung seitens des männlichen Geschlechts nur so vor Selbstbewusstsein strotzen. Ich war beeindruckt. Allerdings sollte ich schnell lernen, dass schmeichelnde Worte in Buenos Aires leichter in den Mund genommen werden als ein frischer Kaugummi.
„Kommt schnell, da hinten ist ein Tisch frei geworden!“, rief Paula, die braun gebrannt und in einem lindgrünen Sommerkleid super aussah. Wir setzten uns an den frei gewordenen Tisch und Simon bestellte eine Literflasche Quilmes-Bier. Ruckzuck kamen wir mit den Argentiniern am Nebentisch ins Gespräch und wurden von ihnen später am Abend zu einer Privatparty in der Nähe eingeladen. Wir vergaßen die andere Party, zu der Simon eigentlich eingeladen war, und ließen uns von der neuen Bekanntschaft mitnehmen. Intuitiv hatten wir uns bereits den Gepflogenheiten der Stadt angepasst, ging doch kein Porteño aus dem Haus, ohne nicht mindestens drei Verabredungen am Abend abgemacht zu haben. Denn er wusste ganz genau, dass mindestens zwei davon nicht zustande kamen oder verschoben wurden.
Auf der Party traf ich Mariela. Eine kleine, aber vom Auftreten her sehr bestimmte Person. Sie fragte mich, woher ich käme und warum ich hier sei, während sie ab und zu an einem dunklen Getränk nippte. Im Hintergrund lief Reggae. Durch die Tür nach nebenan sah ich Anna mit einem Argentinier schäkern, dessen schwarze Lockenpracht toll zu ihrem Blondschopf passte. Paula und Simon tanzten durch den Raum an mir vorbei, während ich mit Mariela plauderte. Durch den schweren Dunst – neben erlaubten Zigaretten qualmten die Leute auch verbotene Joints – betrachtete ich sie genauer. Ihre Stupsnase, der Kurzhaarschnitt und das knallbunte T-Shirt verliehen ihr etwas Kindliches, was ihrem Selbstbewusstsein in keiner Weise zu schaden schien. Die schmal geschnittenen, asiatisch anmutenden Augen und ihre dunkle Hautfarbe deuteten auf indigene Vorfahren hin. Wahrscheinlich stammte ihre Familie ursprünglich aus Jujuy im Norden von Argentinien.
„Was trinkst du da?“, fragte ich sie, worauf hin Mariela mir aufmunternd ihr Glas hinhielt. Ich probierte ein wenig und vor lauter Bitterkeit schüttelte es mich. „Was ist das denn für ein Getränk?“ „Fernet-Coca“, antwortete sie so selbstverständlich, als redete sie über ihr grünes T-Shirt mit den gelben Herzen drauf. Die...