August
O du, mein Reihenhaus
Meine Sitznachbarin verrenkte sich, um einen Blick auf die Bucht zu erhaschen. Bis dahin hatten wir den Flug fast schweigend verbracht, sie in einen englischsprachigen Schmöker mit rosafarbenem Einband vertieft, ich in meine Gedanken. In der Woche davor war ich kaum zu mir gekommen: packen, die Wohnung auflösen, mich von Kollegen und Freunden verabschieden, meine Sachen zu meinen Eltern nach Nürnberg fahren. Gut bepackt machte ich mich auf den Weg. Am Flughafen ein paar Tränen vergossen, Küsse, Umarmungen und Segnungen aller Art ausgetauscht. Irgendwann saß ich wirklich im Flugzeug und war wie in Trance. Ob vor Glück oder vor Erschöpfung, keine Ahnung. Jedenfalls zogen die zwei Stunden, die die Maschine nach Dublin brauchte, an mir vorbei. Erst als die Stewardess die Landung ankündigte und ich aus dem Fenster sah, kam mein Kreislauf wieder in Gang. Unter uns lagen grüne Wiesen und Felder, die in der Sonne leuchteten. Dazwischen Baumreihen und kleine Siedlungen. Links in der Ferne lag Dublin. Das Wasser glitzerte in der Bucht. Ein paar Wolken und offenbar starker Wind sorgten für ein schnelles Schattenspiel.
„Great weather we’re having.“ Meine Sitznachbarin lächelte mich an und steckte ihr Buch ein. „Machen Sie Urlaub in Irland?“, fragte sie mit einem harten Akzent. Ich bejahte der Einfachheit halber. Was hätte ich ihr von meinem Leben in Dublin erzählen können? Ich wusste ja selbst noch nichts darüber. „Da haben Sie Glück“, meinte sie. Sie sei nur für ein paar Tage in Irland, weil ihr Bruder heiratete. „Ich arbeite seit zwei Jahren in Osnabrück.“
Neben dem Flughafengelände waren ein paar Kühe, Schafe und Pferde wie Spielzeug auf den Wiesen verteilt. Mir war ganz heiß vor Aufregung, als ich irischen Boden betrat. Auf den Rollbahnen standen ein paar grün-weiße Aer-Lingus-Maschinen mit dem dreiblättrigen Kleeblatt drauf. Gleich würde ich Alex wiedersehen und kurz darauf unser Haus betreten. Mein Herz klopfte, die Sonne schien weiter, und zum ersten Mal seit drei Wochen dachte ich, ohne dass Alex es mir ins Ohr flüsterte: „Es wird schon alles gut für uns laufen.“
Ein paar Tage zuvor klang Alex geradezu euphorisch. „Wir haben endlich ein Haus gefunden“, platzte er heraus. „Ein Reihenhaus in Artane, einem nordöstlichen Stadtteil. Die Gegend ist nicht besonders schön, aber mit dem Bus nur eine Viertelstunde vom Zentrum entfernt. Und vor dem Haus steht eine Palme!“ Das Haus war die einzige Unterkunft, die Alex passabel und bezahlbar fand. Und das, obwohl er seine Ansprüche jeden Tag weiter runtergeschraubt hatte. In der Firma hatten sie den Neuankömmlingen geraten, sich zusammenzutun und zu dritt oder viert ein Haus zu mieten. Eine freie Ein- oder Zweizimmerwohnung würden sie nicht so schnell finden, und teurer sei das im Verhältnis allemal. Ich hatte jahrelang in Wohngemeinschaften gelebt und kein Problem damit. Alex schon. Ihn entsetzte der Gedanke, mit Fremden unter einem Dach zu wohnen. Da das Bed & Breakfast, in dem er schlief, jedoch langsam unbezahlbar wurde, tat er sich schließlich mit seinem deutschen Kollegen Till zusammen und mietete das voll möblierte Prachtstück in Artane. Schon am nächsten Tag zogen sie ein. Einen Mietvertrag gab es nicht, nur einen warmen Händedruck vom Vermieter und eine Quittung für die Kaution.
Da stand ich nun an einem Samstagnachmittag vor eben diesem Haus. Im Vorgarten war sie, die Palme. Nicht die prächtigste Vertreterin ihrer Art, eher klein und hager, die untersten Blätter waren braun, aber sonst gab es in der Tat nicht viel, das man hätte positiv erwähnen können. Die ehemals weißen Reihenhäuser konnte man allenfalls an den Autos unterscheiden, die davor standen. Wie war das mit den bunten Türen in Irland? Hier war fast jede Tür braun oder aus braunem Holz, kombiniert mit Glas. Es gab auch keine Balkone oder Blumenkästen, die man hätte bepflanzen und so ein bisschen Farbe ins Spiel bringen können. Auch in den Vorgärten schien sich die Leidenschaft fürs gardening nicht durchgesetzt zu haben. Alles nicht sehr anheimelnd.
„Der Anblick haut dich um, was?“ Alex schaute besorgt. Ich riss mich zusammen. „Zum Glück ist unser Haus das letzte in der Straße, da finden wir es auch nachts.“ Ein Mann, der vor dem Nachbarhaus geparkt hatte, stieg aus und warf uns zusammen mit einem Lächeln ein „How’s it goin’?“ entgegen. Äh. „Fine thanks“, antwortete ich brav. Spätestens nach ein paar Tagen war mir klar, dass auf diese und ähnliche Fragen niemand durchdachte Ausführungen zu meinem Befinden erwartete. Dennoch dauerte es ewig, bis mir auf ein „How’re you?“ oder ein breiteres „Howaya?“ ein gedehntes „Grand!“ oder „Very well, thanks a million. An’ yourself?“ wie automatisch über die Lippen kam. Geht’s mal nicht so „brilliant“ und will man das auch wirklich kundtun (das will man in Irland viel seltener als in Deutschland), erwidert man: „Not too bad“ (mittelmäßig), „Not too good“ (nicht so gut) oder „Useless!“. Für Letzteres muss man aber schon mit einem Bein im Grab stehen.
Till guckte einen Actionfilm, als wir reinkamen. Sein Auto mit Hannoveraner Kennzeichen hatte er, wie viele unserer Nachbarn, im Vorgarten, direkt vor der Fensterfront des Wohnzimmers geparkt. Alex hatte mir erzählt, wie froh er war, dass Till ein Auto besaß. Die Wohnungsbesichtigungen nach der Arbeit und am Wochenende seien auch mit Auto anstrengend genug gewesen. Ich sah mich um. Till saß aufrecht auf einer riesigen Couch, das eine Bein übers andere geschlagen. Das Wohnzimmer war nicht übel. Klar, in Deutschland hätte ich mich geweigert, mit solch pseudorustikalen Möbeln zu leben, aber immerhin waren die Farben nicht völlig abartig, und es gab einen echten Kamin! Davor stand eine Kiste mit Feuerholz. Die Küche war relativ groß und, von einer Einbauküche abgesehen, leer. Hinter Esszimmer und Küche lag der Garten. Zwei Stufen runter, und ich stand auf einem Rasen, der wie der im Vorgarten schon etwas verwildert war. Einen Rasenmäher an der Hauswand und eine Reihe von Fuchsien hinten an der grauen Mauer, die den Garten rundum abschirmte, gab es auch noch. Hinter der Mauer raschelten Baumkronen im Wind.
Oben waren vier Zimmer, den vierten Mieter mussten wir erst noch finden. Das Bad war mit seinem hellblausonnengelben Komplettanstrich der freundlichste Raum im Haus. Alex und ich teilten uns einen single room und einen double room. Ersteres war eine 8-Quadratmeter-Kammer mit einem Bett, einem kleinen Schreibtisch und einem Kleiderschrank. Im double room befand sich dasselbe, nur größer, und zusätzlich ein Regal. Die Miete lag um ein Drittel höher als im deutschen Durchschnitt.
Ein paar Tage später stand unser Vermieter vor mir. Mr. Donoghue (gesprochen Donohuh) kam einmal im Monat von der kleinen Stadt Wicklow „up to Dublin“. Unser landlord, ein Mann um die sechzig, meinte sofort, er habe es eilig. Er steckte unser Geld ungezählt in die Hosentasche, ließ sich dann doch im Wohnzimmer nieder und versuchte, uns über die Mieter seiner anderen Häuser in der Straße auszufragen. Die Nachbarn hätten sich beschwert: Die Jungs aus Nummer 17 würden ständig Partys feiern. Pech nur, dass auch Alex und Till „die Jungs“ aus dem übernächsten Haus praktisch nicht kannten. Zwei waren Franzosen, ein Engländer und ein Holländer waren dabei – alle schon mindestens ein Jahr in Dublin. Sie schienen kein Interesse an uns Neuankömmlingen zu haben. Aber das wollte Mr. Donoghue nicht glauben. In den nächsten Monaten fragte er Till und mich immer wieder nach ihnen. Einmal wollte er wissen, wie sich die Franzosen und der Engländer denn verständigten. „Jeder weiß doch, dass Franzosen sich weigern, Englisch zu sprechen. Wenn ich drüben bin, sagen sie kein Wort“, beschwerte er sich. Dass Alex auch Franzose war, hatte er wohl vergessen. Oder er ignorierte es, wie er Alex aus einem mir unerfindlichen Grund meist ignorierte.
Mr. Donoghue ließ uns wissen, mit den Deutschen hätten die Iren ja nie Probleme gehabt. Die Deutschen seien ordentlich, zerstörten nichts mutwillig und ihre Miete würden sie immer pünktlich zahlen. Deutsche Mieter habe er noch lieber – ach was: viel lieber als Iren. Kürzlich habe er erst wieder einer Gruppe „young Irish fellas“ kündigen müssen. „Ihr hättet sehen sollen, was diese Mistkerle aus der Wohnung gemacht haben. ’Twas bloody hell!“ Was so höllisch war, konnte ich mir einige Monate später vorstellen, als ich die Wohngemeinschaft meines Arbeitskollegen Johnny und seiner Kumpel sah. Mr. Donoghue wollte an diesem Tag nicht weiter drauf eingehen. Er hievte sich von unserem wild gemusterten und schon reichlich durchgesessenen Sofa hoch und meinte: „Also, Leute, ich bin dann weg. See yese next month.“
Einen Monat zuvor hatte ich meine Englischkenntnisse noch für einigermaßen solide gehalten. Was ich nun um mich herum hörte, war mir jedoch ziemlich fremd. Im irischen Englisch gibt es oft schnalzende Laute, das R wird hart gerollt, und die Aussprache erinnert auch sonst eher an das kaugummiartig gedehnte Amerikanisch – allerdings rauer, behäbiger und weniger draufgängerisch – als an ein schmallippiges Englisch. Hinzu kommen die Unterschiede je nach Gesellschaftsschicht. Nach und nach erschlossen sich mir ein paar Gesetzmäßigkeiten, ich verstand die ersten speziell irischen Redewendungen und konnte irgendwann selbst ein paar der fantasievollen Kreationen der Dubliner Alltagssprache anwenden. In den ersten Monaten war ich jedoch nicht selten damit beschäftigt, das, was in meinen Ohren wie Genuschel, Lautdehnungen und Lautverschiebungen klang, zu enträtseln.
Das fing schon am...