August
TENERIFFA. IM LANDEANFLUG LEUCHTET DER TEIDE im Mondschein über einer dichten Wolkenschicht. Im Norden der Insel stauen sich die Wolken, der Süden ist klar, die Straßenbeleuchtung verschwenderisch. Jetzt, tatsächlich, erfasst mich dieses ergreifende Gefühl: Ja, ich ziehe um. Ich bin hier. Und gekommen, um zu bleiben. Das Geplapper der Mädels neben mir, an dem ich mich bis eben beteiligt hatte, rauscht nur noch an mir vorbei. Ich starre aus dem Fenster, jedes Licht aus der Kabine schirme ich mit meinen Händen ab. Ich will alles in mich aufsaugen und für immer speichern. Will vollkommen im Hier und Jetzt sein. Wir drehen in den Endanflug. Meine Augen wandern die Küste entlang, ich erkenne die ersten Palmen, Hotels und beleuchteten Swimmingpools, dann wieder hoch zum Teide.
Das Schönste ist: Ich werde abgeholt. Noch warte ich am Gepäckband auf meinen Koffer. Und jedes Mal, wenn sich die Schiebetür zur Ankunftshalle öffnet, versuche ich, meinen Vater zu entdecken, doch immer ist die Zeit zu kurz. Ich habe ihn und meine Geschwister seit einem Jahr nicht mehr gesehen und bin dankbar, meine ersten Wochen auf Teneriffa mit ihnen verbringen zu dürfen.
Nach einer Stunde Fahrt erreichen wir Los Realejos, von wo aus wir uns über schmale Gassen hinaufschlängeln zu einem Ort, der mir wie das Paradies erscheint: die dunkle Silhouette der Berge hinter uns, die laue Nachtluft, das Rascheln der Palmen im Wind. Ich betrete das Haus und bin überwältigt. Der Duft von reifen Mangos und Bananen liegt in der Luft; Berge davon sind auf vier Schalen gestapelt. Von dem großen offenen Raum führen vier Türen auf die Terrasse. Von dort aus blicke ich – umrahmt von üppigem Grün – auf das unter uns liegende offene Meer. Ich brauche eine Weile, um zu begreifen, dass ich die nächsten zwei Wochen wirklich hier verbringen darf.
Warum die Kanaren? Genau weiß ich es nicht. Ich habe eine Vorliebe für Inseln, das schon. Vor allem, weil ich das Meer liebe und es mag, wenn an einem Ort zwar alles vorhanden ist – Infrastruktur, Geschäfte, Ärzte, Möglichkeiten zur anregenden Freizeitgestaltung –, aber nicht von allem krankhaft viel. Ich brauche keine tausend Wurst- und Joghurtsorten im Regal. Auch fünf hundert verschiedene Shampoos verwirren mich eher. Stattdessen kenne ich lieber meine Nachbarn und die schönsten Spots meiner Insel. Genau genommen mag ich vor allem das Kennenlernen. Diese Glücksmomente, wenn ich einem Menschen begegne, von dem ich schon ahne, dass er ein Freund werden könnte, oder eine Bucht entdecke, von der ich sofort weiß, dass ich in Zukunft häufiger dort sein werde.
Doch dafür hätte ich auch auf die Liparischen Inseln oder die Salomonen gehen können. Oder zu einer beliebigen anderen Gruppe der halben Milliarde Insulaner weltweit. Oder einfach auf Malta bleiben. Die Entscheidung für die Kanaren fiel eher pragmatisch. Sicher war es keine seit meiner Kindheit gehegte Vorstellung, dass mein Glück allein hier zu finden sei. Ich kannte die Kanarischen Inseln noch nicht, keine davon. Das war ein Plus, weil spannender. Es gibt sieben Hauptinseln zur Auswahl, mindestens eine davon wird mir schon gefallen.
Jeder Besitz kann altern, kaputtgehen oder gestohlen werden – aber Erinnerungen, die bleiben für immer. Und die guten machen stets reicher, nie ärmer. Noch dazu steigt ihr Wert mit der Zeit. Auch Herausforderungen, denen ich mich erfolgreich stelle, gehen als Guthaben auf mein Lebenskonto ein. Was suche ich also auf den Kanaren? Die Herausforderung, allein an einem fremden Ort wieder neu zu beginnen, und viele Glücksmomente für mein Lebenskonto.
Es ist dunkel und still. Meinen ersten Tag auf den Kanaren verbringen wir unter der Erde.
„Genauso tief, wie Särge verbuddelt werden“, bemerkt ein Teenager, als wir erfahren, dass wir mit unserer geschätzten Tiefe von zwanzig Metern um ganze achtzehn Meter falsch lagen. Auch ich hätte vermutet, dass wir uns deutlich tiefer unter der Erde befinden. Es ist kühl; ganzjährig etwa elf Grad. Und noch immer stockfinster.
„Für die meisten Besucher ist es das erste Mal im Leben, dass sie absolute Dunkelheit und Stille erleben“, sagt unser Guide Alfredo, und ich glaube ihm. „Habt ihr Lust auf ein Experiment?“
Klar.
„Also gut, dann gehen wir im Dunkeln weiter bis zum Höhlenausgang, rechte Hand an die Wand und los!“
Das würde ich ihm gern ebenfalls glauben, aber mit acht Kindern in der Gruppe kann er das unmöglich ernst gemeint haben. Ich erinnere mich an die zehn Regeln auf der Hinweistafel am Eingang der Höhle. Die erste: „Folgen Sie stets den Anweisungen des Führers.“ Eine unglückliche Formulierung in der deutschen Übersetzung, und ich hoffe, dass offensichtlich unsinnige Anweisungen von dieser Regel ausgenommen sind.
Alfredo unterbricht das nachdenkliche Schweigen mit seinem Lachen: „Das machen wir natürlich nicht. Stirnlampen wieder an!“ Ein Lichtkegel nach dem andern taucht auf. Jetzt sehe ich auch die anderen wieder: meine drei Geschwister, fünf weitere Kinder und sieben Erwachsene lehnen an der Höhlenwand, jeder mit Helm und Stirnlampe auf dem Kopf.
Die Cueva del Viento bei Icod de los Vinos ist der längste Komplex aus Vulkanröhren in ganz Europa. Längere Höhlensysteme gibt es nur auf Hawaii. Doch hat die Regierung lediglich 180 Meter der „Höhle des Windes“ zur Besichtigung freigegeben, um das fragile Ökosystem und den Lebensraum der rund 120 hier lebenden Spezies zu schützen. Bisher kannte ich nur Tropfsteinhöhlen, aber diese ist anders: ein siebzehn Kilometer langes Labyrinth aus Röhren, verteilt auf drei Ebenen, entstanden an nur einem einzigen Tag, als vor 27 000 Jahren ein Nebenvulkan des Teide ausbrach.
„Wenn die Oberfläche der fließenden Lava mit der kalten Luft in Kontakt kommt, versteinert sie; die heiße Lava darunter fließt weiter“, erklärt Alfredo die Entstehung der Hohlräume im Basaltgestein.
Die Röhren erinnern mich an die Gänge in einem Bergwerk, doch die Wände sind glatter, und der Boden sieht aus wie fließende Lava, nur erstarrt. Viele der Röhren haben einen solchen Durchmesser, dass wir bequem aufrecht gehen können; in einige schmalere Arme schickt Alfredo die Kinder zu einer „Spezial-Expedition“.
Zurück an der Oberfläche nehmen wir zwar die Helme ab, behalten aber die pinkfarbenen, gelben und blauen Hygienemützchen darunter an. Der Grund dafür erschließt sich mir nicht, das Ergebnis aber ist, dass sich die Kinder vor Lachen kaum beruhigen können. Sie stimmen Otto Waalkes’ „Hey Zwerge, hey Zwerge, hey Zwerge ho“ an, und auch mir ist der Vergleich in den Sinn gekommen. Unser Rückweg führt uns im Nebel durch einen Pinienwald entlang einem von den Ureinwohnern der Kanaren, den Guanchen, angelegten Königsweg. „Hey Zwerge, hey Zwerge, go go go.“
Noch auf eine andere Art fühle ich mich wie ein Zwerg: Weihnachtssterne, Salbei und Baumheide – die aussieht wie das kniehohe Heidekraut in deutschen Wäldern – wachsen hier meterhoch, und das, obwohl dieses Waldstück erst 2007 niederbrannte. Die Brandschäden sieht man heute nur noch auf den zweiten Blick: Die Rinden der Kiefern sind schwarz verkrustet, aber die Bäume leben.
„Schon nach einem Jahr konnte man die ersten Kiefern wieder austreiben sehen“, erklärt Alfredo. „Und ihre Feuerresistenz ist nur eine der bemerkenswerten Eigenschaften der Kanarischen Kiefer.“ Auf den Kanaren endemisch und weit verbreitet, ist sie besonders für den Wasserhaushalt der Inseln wichtig. Sie wächst vor allem in Höhenlagen, in denen sich die feuchten Passatwinde in einer nebelartigen Wolkenschicht stauen. Alfredo spricht vom „horizontalen Regen“, wenn die feinen Wassertropfen vom Wind befördert werden. An ihren bis zu dreißig Zentimeter langen Nadeln kondensiert die Feuchtigkeit und tropft auf den Boden. Der Baum selbst benötigt aber nur etwa ein Drittel des dabei gewonnenen Wassers, der Rest wird ans Grundwasser abgegeben.
Wir gehen vorbei an einem runden Getreidedreschplatz, auf dem laut Alfredo schon die Guanchen Gerste droschen. „Sie rösteten das gemahlene Korn und nannten es Gofio.“
Einige aus der Gruppe rufen „Ahh!“, als hätten sie soeben etwas verstanden, über das sie sich zuvor gewundert hatten. Ich nicht.
„Noch heute ist Gofio eine wichtige Grundkomponente der kanarischen Küche und besteht mittlerweile oft auch aus Weizen, Mais oder sogar Kichererbsen. Weil es schon geröstet ist, muss es weder gekocht noch gebacken werden. Es schmeckt pur oder mit anderen Zutaten. Im Infozentrum könnt ihr es gleich probieren.“ Damit beendet Alfredo seinen Vortrag.
In den nächsten Tagen erfinden wir täglich weitere Gofio-Rezepte. Die Lieblingsvariante meiner Geschwister ist eine große Portion Nutella mit ein wenig Gofio-Pulver. Ich mag es als festen Brei mit reifen zerdrückten Bananen und Schlagsahne obendrauf. Später verfeinere ich diese Kreation, indem ich mehr Gofio und weniger Bananen verwende, bis der Teig fest genug ist, dass ich ihn zu Kugeln formen kann, die ich dann in Kokosraspeln rolle. Gofio-Pralinen nennen wir das.
Weil mein jüngster Bruder weiß, wie gern ich Gleitschirm fliege und dass ich mich jedes Mal freue, wenn ich einen anderen Piloten am Himmel sehe, hat er sich angewöhnt, mich auf jeden Schirm hinzuweisen, den er sieht. Normalerweise passierte das ein paar Mal am Tag, doch heute ruft er allein auf der kurzen Autofahrt zu unserem Hausstrand Playa del Socorro bestimmt fünfzehn Mal: „Schirm!“
Am Strand angekommen verstehe ich, warum: ein Gleitschirmfestival. Infostände und Sonnenzelte sind aufgebaut. Partymusik beschallt aus mehreren Boxen den Strand, auf dem mit weißen Bändern das Landefeld abgesteckt...