Januar
WIR SOLLTEN RENNEN, hatte Lorenadia uns gesagt, rennen, so schnell wir konnten. „Il faut courir, courir“, drängte sie uns. Das war vor ein paar Monaten, und wir hatten gerade ein kleines Studio am Mont Boron in Aussicht, dem beliebtesten Viertel von Nizza, am Hügel über dem Hafen. Tatsächlich sind wir den Berg hinauf zur Wohnung geflitzt und standen verschwitzt vor der Tür mit dem großen goldenen Knauf. Als wir das Studio zum ersten Mal betraten, waren die Rollläden heruntergelassen, und ich sah wackelige Holzstühle und einen Tisch mit Wachsdecke. „Wartet’s nur ab“, raunte unsere Maklerin Sophie verheißungsvoll. Sie kurbelte langsam die Jalousien hoch. Die Sonne blendete uns. Ich taumelte auf den Balkon. Dort standen wir eine Viertelstunde, wir sprachen nicht viel, sondern guckten einfach nur auf das Meer hinaus. So eine Aussicht finden wir bestimmt nicht noch einmal, dachten wir. Der Balkon schien im Nichts hoch über dem Meer zu schweben, wir sahen den Hafen mit seinen Fischerbooten und Yachten, den Hügel über der Altstadt und am Horizont die Halbinseln vor Cannes und Antibes. Noch in der Wohnung unterschrieben wir den Mietvertrag. Über eine Einzimmerwohnung mit sperrmüllreifen Möbeln für 700 Euro im Monat. Klingt verrückt, aber der Ausblick vom Balkon über die kilometerlange Bucht von Nizza war so sagenhaft, darüber hatten wir den Rest ganz vergessen. Aber das fiel uns erst auf, als wir 1200 Kilometer weiter nördlich wieder zur Besinnung kamen.
Jetzt sind wir auf dem Weg zu dieser Wohnung. Mein Freund Hans und ich wollen nicht fliegen, sondern lieber einen halben Tag und eine ganze Nacht im Zug verbringen, um uns langsam der neuen Heimat zu nähern. Die Radtaschen beherbergen dünne Anziehsachen, einen Computer für meine Arbeit als Journalistin, ein Glas Currywurst-Sauce und einige Reiseführer. Auf allen Titeln prangen die Palmen an der Promenade von Nizza, die sich im Halbkreis zwischen Stadt und Meer schieben.
Ist zwischen den Palmen ein normales Leben möglich? Am Strand, inmitten von Millionären und ihren Yachten, bei 270 milden Sonnentagen im Jahr werde ich mich wie in einem Film fühlen, denke ich auf den letzten Zugkilometern vor Nizza. Gleich werden wir in der Metropole am Mittelmeer ankommen – und diesmal sind wir gekommen, um zu bleiben. Zwölf Monate Côte d’Azur erwarten uns, und ich finde es ein wenig irreal.
In den letzten Tagen hat sich die Vorfreude mit Unbehagen gemischt. Ich war nicht euphorisch, sondern ängstlich, ich sorgte mich um meine treuen Zeitungskunden in Deutschland und um Freundinnen und Familie, die ich nun viel seltener sehen würde. Als wir unsere Räder aus dem Keller in Bochum schoben, warf ich einen milden Blick auf die Heimat. Plötzlich erschienen die brüchigen Betontürme der Hochschule so vertraut, der Verkäufer des geliebten Milchkaffees am Bahnhof besonders gesprächig und die kleine Wohnung mit Korkboden heimelig. Und das Ruhrgebiet, seine dichte Industrie und seine Autotrassen glänzten an diesem kalten Januarmorgen leutselig ins Zugabteil. „Was machen wir hier eigentlich?“, fragte ich Hans, während er ein wenig angespannt hinausschaute. Menschen schätzen ja häufig das, was ihnen gerade entzogen wird, das gilt selbst für nie getragene Pullover kurz vor der Altkleidersammlung.
Meine Furcht vor dem Unbekannten vergoldete auch mir das Gewohnte. Wir streifen das schöne Heidelberg und erreichen Straßburg. Die Hauptstadt des Elsass ist eisig. „Kälteflur“ nennen die Franzosen die Region, weil sich dort im Winter frostige Luft staut und sich einfach nicht aufwärmen will. Zum Glück fahren wir in den Süden.
Die Reise im Nachtzug ist laut und ruckelig. Die französische Bahn mag die alten Waggons mit den sechs Liegen pro Abteil nicht mehr pflegen. Der staatliche Konzern promotet nur noch seine Schnellzüge TGV. Vor Avignon steht der Zug um vier Uhr morgens eine halbe Stunde lang still, um kreischenden Waggons mit Zement, Bananen und Flachbildschirmen den Vorrang zu lassen.
Um neun Uhr morgens erreichen wir Nizza. Es regnet in Strömen. In Bochum schien die Sonne, und nun wird mir richtig fröstelig. War es eine gute Idee, auszuwandern? Hans hat als Physiker ein Stipendium am Observatorium in Nizza bekommen, aber ich als Journalistin bin doch im Düsseldorfer Landtag besser aufgehoben. Vielleicht bin ich auch nicht abenteuerlustig genug. „Nun lass uns doch erst einmal ankommen, an dem Ruf der Côte d’Azur wird schon etwas dran sein“, sagt Hans.
Unsere schwer bepackten Rennräder müssen wir im Bahnhof die Treppen rauf und runter schleppen, es gibt keinen Aufzug. Wir fahren die Einkaufsstraße abwärts und direkt auf den Strand zu. Es schäumt und brodelt und zischt, die handtellergroßen Steine klackern mit der Brandung auf und ab. Das graue Mittelmeer gleicht eher der kalten Nordsee als dem spiegelglatten warmen Wasser, das im Sommer die Badenden anzieht. Aber seine Weite ist betörend. Es riecht frisch und fein salzig. Zur Feier der Ankunft setzen wir uns auf die blauen Bänke der Promenade und essen noch warme Schokocroissants. Der Regen pausiert, und wir gucken minutenlang aufs Wasser.
Wir umrunden die Hafenspitze und kraxeln im Regen mit Rad und Gepäck die Straße hinauf in unser Viertel, dem Mont Boron. „Lass uns diesmal die Abkürzung, eine Straße vorher links rein, nehmen“, schlage ich vor, den Stadtplan vor Augen. Wir schieben unsere Räder, der Weg ist ungemein steil. Je höher wir kommen, desto fantastischer die Häuser. Zehn Meter vor unserer „Villa Angustina“ stehen wir vor einem verschlossenen Tor. Ich rüttele daran, nichts zu machen? … „So etwas Blödes“, fluche ich, „müssen die hier alles verrammeln?“ Angestrengt fahren wir den Weg wieder hinunter und nehmen eine längere Straße zur Villa Angustina, bis wir schließlich auf der anderen Seite des Gitters stehen. Unsere Maklerin Sophie wartet mit ihrem Scooter schon vor der Haustür. „Bonjour“, sagt sie freundlich. „Ihr wisst ja sicherlich noch, dass die Wohnung etwas altmodisch möbliert war, oder?“ Ja. Sophie scheint sich zu erinnern, dass wir den Vertrag unterschrieben hatten, ohne auch nur einmal in die Schränke geguckt zu haben. Zurück in Deutschland hatten wir uns gefragt, wie das passieren konnte. „Es war die Sonne“, sagte Hans. „Und der Blick auf das Meer“, sagte ich.
Ausgerechnet einem Deutschen gehört unsere Wohnung. Dr. Grün verbringt hier seine Sommerurlaube und vermietet sein Studio von September bis Juni. Ein übliches Geschäftsmodell in Südfrankreich mit seinen unzähligen Zweitwohnungen. Jede fünfte Immobilie in Nizza gehört Personen, die in Paris, Rouen, Moskau oder London leben und sich nur zur Sommerhitze her begeben. Den Rest der Zeit vermieten sie an Studenten oder Kurz-Auswanderer wie uns.
Dr. Grüns Mobiliar ist marode, aber er hat jedes Stück handschriftlich in einer fünfseitigen Inventarliste festgehalten. Eine „grüne Tasse mit Sprung“, eine „blaue Tasse ohne Henkel“, „sechs Messer“, „fünf Gabeln“ und „zwei Tischsets mit Brandfleck“, steht da etwa. Selbst ein Schneidebrett ist erwähnt, dessen Ränder anfangen zu faulen. Der Mann muss ein akribischer Pedant ohne Geld sein oder ein pedantischer Geizkragen oder einfach nur irre. Seine Briefe unterschreibt er mit „Professor Dr. Grün“, ich kann ihn aber trotz gründlicher Netzrecherche an keiner Universität finden. Vielleicht ist er auch noch ein Hochstapler, wer weiß.
Aber von Ausblicken versteht er etwas. Inmitten unserer unausgepackten Taschen stehen wir am Fenster und sehen eine blau-gelbe Fähre von Korsika in den Hafen einlaufen. Ich bin müde von der nächtlichen Fahrt, aber dieser endlos weite Blick und das Tuten des Schiff horns überwältigen mich erneut.
Sobald ich mich aber vom Meer abwende, sehe ich eine ärmliche Wohnung. Wir schieben einen kleinen Hocker unter die durchgelegene Ausziehcouch, um nachts nicht auf den Boden durchzuhängen, und kaufen ein neues Schneidebrett, Bettwäsche und ein scharfes Messer und schrubben einmal durch. Das Badezimmer mit seinen goldenen Kränen, dem rosafarbenen Waschbecken und dem Bidet erinnert an „Hart aber herzlich“, diese Achtzigerjahre-Fernsehserie mit Föhnfrisuren und eben kitschigen Bädern. Das Studio muss früher ein luxuriöser Ort gewesen sein.
Noch am ersten Abend klingele ich bei der Nachbarin, um uns bekannt zu machen. Sie öffnet ihre Tür einen Spalt breit bei eingehängter Sicherheitskette, sagt Bonjour, und wir gucken uns ein wenig ratlos an. „Bonjour, wir sind die neuen Nachbarn, wir kommen aus Deutschland“, sage ich etwas unbeholfen. Die runde Italienerin ist irritiert. „Bonjour“, sagt auch sie. Das Gespräch ist nach drei Sätzen zu Ende. „Das habe ich befürchtet“, sage ich zu Hans. „In diesem schicken Viertel werden wir keine herzlichen Kontakte haben. Hier sind nicht einmal die Nachbarn normal. Die hat mich angeguckt, als wollte ich sie ausrauben.“ Lieber hätte ich in der Altstadt gewohnt, dort, wo es nach provenzalischer Seife riecht, die Gassen eng sind und das Meer noch näher liegt. Vor unserer vergeblichen Wohnungssuche im „vieux Nice“ hatte ich mir ausgemalt, morgens meinen Kaffee in einem der vielen Cafés zu trinken, die Libération zu lesen und mich ganz französisch zu fühlen. Nach einigen Wochen würde mich der Patron oder die Patronin mit „Bonjour, Annika“ begrüßen und mir als Stammgast die Zeitung reichen, so der Plan. Aber Unterkünfte sind in der Altstadt kaum zu haben, sie werden entweder wochenweise für einige hundert Euro an Touristen vermietet, oder sie sind schrammelig und in den meist nur zwei Meter breiten Gassen so dunkel wie eine Kellerwohnung.
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