Wie alles beginnt
Mein Leben auf der Kinoleinwand
[1] Das Licht im Saal geht aus. Die Filmvorführung beginnt. Ein Streichholz entflammt ein kleines Licht im großen Dunkel. Eine fromme jüdische Familie zündet die Sabbatkerzen an. Was wird mich auf der Leinwand erwarten? Was werde ich zu sehen bekommen? Meine Geschichte, mein Leben? Wird es wirklich um das gehen, was ich als Kind erlebt habe? Wie unwirklich das ist. Steven Spielberg, der große Regisseur, hat meine Geschichte verfilmt. Überall auf der Welt werden die Menschen sehen, was damals in Krakau, im Ghetto, im Konzentrationslager in Plaszów passiert ist. Wer wird Amon Göth spielen? Wer Oskar Schindler? Wer den großen Itzhak Stern, den besten aller Schindler-Juden, der, den ich am meisten geliebt habe? Die wunderbaren Geigenklänge von Itzhak Perlman besänftigen meine angespannten Nerven, meine aufgewühlte Seele, aber die kreischenden Gespenster der Erinnerung sind lauter. Angst und Erinnerungen tragen mich davon. An den Ort, von dem Spielbergs Film erzählt, dahin, wovon ich Jahrzehnte lang geschwiegen habe, zu den Qualen meiner Kindheit.
17. Juni 2008
Heute hatte ich Aufnahmeprüfung an der Kölner Musikhochschule. Endlich! Jetzt ist es vorbei: ich habe es geschafft. Jetzt bin ich Studentin an der Musikhochschule. Zuerst war ich unglaublich nervös – aber als ich den Bach gespielt hatte, nicht mehr. Direkt als ich aus dem Vorspielsaal herausgekommen bin, sind wir von der Musikhochschule zum Radio gegangen. Wir waren mit Angela verabredet. Angela ist Radiojournalistin und hatte in ihrer Sendung gerade einen Holocaustüberlebenden zu Gast. Einer, der nur überlebt hat, weil er auf Schindlers Liste stand. Schon lange wollte ich jemanden kennen lernen, der das Schlimme von damals erlebt hat. Angela wusste das – deshalb hat sie den Mann gefragt, ob ich ihn kennen lernen darf. Mein Herz hat total geklopft, als wir vor dem Studio gewartet haben. Und dann kam er. Ganz finster hat er mich angeschaut. Oder misstrauisch? Ich weiß nicht. Angela hat uns erst mal vorgestellt. Und dann hat er mich gefragt: „Warum willst du das denn wissen? Du bist doch sehr jung dafür. Wie alt bist du? Elf, oder?“ Im ersten Moment wusste ich gar nichts zu antworten. Ich will doch nur wissen, was damals passiert ist. Von jemandem, der es erlebt hat. Dann habe ich mir ein Herz gefasst – und gesagt: „Ich hab schon viel über die Zeit gelesen. Aber ich will davon nicht nur lesen. Ich will mit jemandem sprechen, der selbst im KZ war. Ich habe so viele Fragen – und die will ich jemandem stellen, der das alles selbst erlebt hat.“ Es gab eine lange Pause. Ganz direkt hat Herr Emge mir in die Augen geschaut. Ich habe immer gedacht: das muss ich aushalten, das muss ich einfach aushalten, und habe ganz fest zurückgeguckt. Immer weiter. „Okay. Wir können das versuchen.“ Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen. Wir sind erstmal in ein Café in der Nähe gegangen. Unter einem Baum haben wir in der Sonne gesessen und erzählt. Immer noch war Herr Emge ganz verschlossen zu mir. Meine Eltern haben von der Aufnahmeprüfung erzählt. Herr Emge hat auch mal Geige gespielt! Er wollte alles wissen, welche Stücke ich für die Prüfung gespielt habe und so. Ich habe mich nicht getraut viel zu sagen, aber ich habe ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Immer habe ich gedacht: wie war er wohl als Kind? Und wie war das im Lager? Meine Mutter hat Herrn Emge gefragt, wann er mit der Geige angefangen hat. Und dann hat er gleich erzählt: als Kind. Genau wie ich. Sogar im Ghetto hatte er Unterricht. Aber wenn die Juden ins KZ kamen, mussten sie sich ja ganz ausziehen und durften nichts mitnehmen, nicht die eigenen Kleider und eine Geige sowieso nicht. Mama hat mir zur Feier des Tages einen Espresso erlaubt, weil ich den sooo gerne trinke. Die Bedienung hat ganz komisch geguckt und Mama noch mal gefragt, ob ich das wirklich schon darf. Da hat Herr Emge gelacht und gesagt: „Richtig so, du musst das Leben genießen.“ Wir haben uns verabredet: ich darf ihn wieder treffen! Dafür kann ich vorher alle meine Fragen aufschreiben! Als wir zur Musikhochschule zurückgegangen sind, habe ich unterwegs gedacht: wenn ich jetzt nicht aufgenommen bin, dann ist es auch nicht so schlimm. Schlimm, wirklich schlimm, sind ganz andere Dinge gewesen. Dabei konnte ich vorher an gar nichts anderes denken und es wäre das Allerallerallerschlimmste gewesen, was ich mir hatte vorstellen können. Trotzdem, schlimm ist echt was anderes. Als ich gehört habe, dass ich einstimmig angenommen worden bin, habe ich mich aber doch total gefreut.
Juli
Neben dem Bücherregal im Wohnzimmer liegt immer noch die DVD von „Schindlers Liste“. Ich darf sie nicht gucken. Obwohl ich ganz unbedingt will! Ich kenn’ die Geschichte doch schon. So hat ja überhaupt erst alles angefangen. Bei YouTube habe ich nach Itzhak Perlman gegoogelt. Itzhak Perlman ist mein allerliebster Lieblingsgeiger. Den finde ich soo toll! Ich weiß noch genau, wie ich ihn das erste Mal gehört habe: ich war gerade in die Schule gekommen, da hat Papa eine CD aufgelegt. Itzhak Perlman hat die Geige gespielt – und ich hatte noch nie jemanden so geigen gehört. Noch nie habe ich so deutlich gefühlt, was jemand spielt. Es war so, als spiele er nur für mich, die Musik hat mich ganz in sich aufgesogen. Am meisten beeindruckt hat mich, wie sein Ton klingt: ganz warm. Das, genau das, will ich auch lernen, so soll es klingen, wenn ich Geige spiele! Seitdem ist Itzhak Perlman mein ganz, ganz großes Geigenvorbild. Einmal habe ich ihm geschrieben. Alle, vor allem meine Geigenlehrerin, haben mich gewarnt: „Judith, mach das, wenn du unbedingt willst, aber mach dir um Gottes Willen keine Hoffnung, dass du eine Antwort bekommst.“ Itzhak Perlman sei bekannt dafür, dass er nie antworte. Aber das stimmt nicht, jedenfalls nicht bei mir. Er hat mir geantwortet. Eines Tages kam ich nach der Schule nach Hause und Mama schaute mich so schelmisch an. Sie hatte einen Brief in den Händen – sofort habe ich gesehen, dass ein blauer „airmail“-Aufkleber darauf klebte. Itzie (so nenne ich Itzhak Perlman heimlich immer) hatte mir geantwortet. Mir! Mir! Mir …. Ich bin vor Freude einmal um den Esstisch getanzt und habe Mama stürmisch umarmt. Die hat sich mit mir gefreut. Dann haben wir uns hingesetzt, ganz feierlich, ich habe ein Messer aus der Buffetschublade hinter mir genommen und ganz, ganz vorsichtig das Kuvert geöffnet. Tatsächlich: Itzhak Perlman hat mir geschrieben. Eine Autogrammkarte war in dem Brief. Mit einem neuen Bild von ihm. Als nachmittags ein Schüler von Mama kam, der viel mit internationalen Musikagenturen zu tun hat, hat er gestaunt: „Judith – diese Karte ist ganz selten, auf die musst du gut aufpassen.“ Was für ein Quatsch, als wenn mir irgendjemand so was sagen müsste, natürlich passe ich super gut darauf auf – Erwachsene! Wenn es mal brennt, hole ich das Bild (jetzt hängt es gerahmt über meinem Schreibtisch) direkt nach der Geige aus dem Zimmer! Itzhak Perlman hat sogar etwas auf den Rand geschrieben. „Dear Judith! Practice slowly! Best wishes, Itzhak Perlman“ hat er geantwortet. So sehr ich mich über die Autogrammkarte gefreut habe – dass ich langsam üben soll, finde ich schwierig. Mama zitiert es auch noch immer, sie sagt immer: „Practice slowly!“, wenn ich ein neues Stück spielen will, das meine Lehrerin noch gar nicht erlaubt … Immer soll ich warten, warten, warten. Aber nach dem Brief wollte ich erst recht alles spielen, was er auch gespielt hat. Als ich zehn war, habe ich mal mit Papa zusammen bei YouTube Videos mit Itzhak Perlman gesucht. Gleich das erste war „Schindlers Liste“. Was das war, wusste ich damals noch nicht. Aber die Musik war so wunderschön! Trotzdem habe ich mich gewundert: warum waren alle im Publikum so gerührt? Einige haben geweint – einige haben ganz glücklich ausgesehen. Das fand ich seltsam und ungewöhnlich. Was hat die Menschen so sehr bewegt? Mein Vater wollte mir erst nicht richtig antworten. Erst als ich nicht lockergelassen habe, hat er doch erzählt. Von Hitler und dem Zweiten Weltkrieg hatte ich natürlich schon gehört. Dass die Juden verfolgt und Millionen von ihnen ermordet wurden, auch. Aber die Geschichte von Oskar Schindler, der versucht hat, die Juden, die in seiner Fabrik angestellt waren, zu retten, die kannte ich nicht. Ich wusste auch nicht, dass es einen Film über diese Rettung gibt und dass die Filmmusik für Itzhak Perlman geschrieben worden ist. Direkt neben dem Video stand noch eines mit dem Titel Schindlers Liste. Das war der Trailer zu dem Film. Ich habe zu Papa gesagt: „Komm, lass uns mal schauen.“ Das haben wir dann auch gemacht, aber nur ganz kurz. Papa hat fast sofort wieder ausgemacht: „Ich will nicht, dass du das schon siehst.“ Das kurze Stück vom Trailer war auch gruselig. Aber ich wollte die Musik spielen! „Wie soll ich denn die Musik spielen, wenn ich nicht weiß, was passiert ist?“ habe ich geschimpft. „Lass mich doch den Film gucken!“ Mama ist hart geblieben, bis heute: „Der Film ist ab zwölf. Vorher siehst du ihn auf gar keinen Fall. Und ob du ihn dann siehst, das schauen wir mal. Bilder sind einfach etwas ganz anderes. Diese Bilder kommen zu früh!“
Später haben wir in einem Café nach der Schule noch mal darüber geredet, als wir auf meine Geigenstunde gewartet haben. „Als mich das Thema interessierte, war ich etwas älter, als du heute bist. Sechzehn oder siebzehn oder so. Damals habe ich das „Tagebuch der Anne Frank“ gelesen. Wenn du willst, dann gebe ich dir mein Exemplar.“ – „Oh, darf ich?“ Natürlich wollte ich. Zu Hause haben wir das Buch gleich aus Mamas Mädchenbüchern rausgesucht. Und sobald ich Zeit hatte,...