März
MIT VORURTEILEN IST DAS SO EINE SACHE, besonders mit jenen, die uns mit einer gewissen Nachhaltigkeit eingeimpft wurden. Irgendwann beginnt man zu glauben, es könnte etwas Wahres dran sein. Diesen Satz zum Beispiel höre ich immer wieder: „Wer das alte Kuba noch erleben will, der sollte sich beeilen.“ Als ausgesprochene Westpflanze ohne jede Erfahrung mit dem real existierenden Sozialismus habe ich keine Ahnung, ob das wirklich so ist. Auch nicht, wie das „neue“ Kuba aussehen könnte. Es klingt für mich jedoch so, als ginge aufgrund der sich anbahnenden Annäherung zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten in nächster Zukunft eine Welt unter, eine Art Paradies verloren. Das muss ich mir anschauen, solange es noch existiert, denke ich mir – und buche kurzentschlossen die erste Busrundreise meines Lebens.
Um mich einzustimmen, fliege ich zunächst nach Varadero in die Provinz Matanzas, zu jener Halbinsel also, auf der Hotel an Hotel steht. Ich mag es, die Welten langsam zu wechseln. Und dann geht es vierzehn Tage einmal quer durch Kuba, von West nach Ost bis Baracoa. Mein Kopf ist vollgepfropft mit Informationen aus Reiseführern. Gut, es steht überall, dass die Kubaner offen sind, zuvorkommend, gastfreundlich, lebenslustig. Stimmt. Und die Insel ist tatsächlich wunderschön mit ihrer abwechslungsreichen Natur, den Tabakfeldern im Tal von Viñales und den unwegsamen Mogotes, den Kegelkarstbergen, bis hin zum Humboldt-Nationalpark und den Regenwaldgebieten im Osten. Trinidad, Santiago de Kuba, Cienfuegos, Holguín – ich genieße die Fahrten durch das Land, vorbei an den meist einstöckigen Häusern der campesinos, den oft liebevoll gepflegten Gärten davor, den bodegas am Wegesrand. Ja, stimmt alles.
Dennoch ist das nur ein Teil der Realität. Was ich noch nicht ahne: Es werden weitere Monate auf Kuba folgen. Monate, die mir mehr bieten und abfordern werden als jene „Wahrheit“, die ich bei meinem ersten organisierten Besuch auf der Insel erlebt habe. Denn bei dieser Busrundreise ist etwas Entscheidendes geschehen: Am Ende habe ich mich Hals über Kopf in die Insel und ihre Menschen verliebt. Ich will unbedingt wiederkommen, länger blieben, leben wie die Kubaner.
Schon während der gut zehn Stunden, die mein erster Flug von Frankfurt nach Varadero dauert, habe ich genügend Gelegenheit, mein Vorwissen über Kuba zu rekapitulieren. Zumal ich Holzklasse fliege, und das bedeutet: Ich kann wegen fehlender Beinfreiheit nicht schlafen. Andererseits hätte ich auch mit mehr Beinfreiheit nicht schlafen können. Ich kann unterwegs nie schlafen, sei es im Auto, im Zug oder im Flugzeug.
Bereits kurz nach dem Start werde ich mit einem Kuba-Vorurteil konfrontiert, das sich meiner Erfahrung nach in vielen westlichen Köpfen findet. So auch in dem meines Sitznachbarn Anton aus Bayern, der wie ich noch nie auf der Insel war. Er vertritt es beredt. „Auf Kuba herrscht Kommunismus“, erklärt er dröhnend, sodass es bis in die letzte Sitzreihe zu hören ist. Ich zucke kurz zusammen und vermute, Anton ist einer jener Menschen, die andere gerne belehren. Also bleibe ich erst einmal stumm. Zumal ich, wie bereits gesagt, weder mit dem Kommunismus noch dem Sozialismus persönliche Erfahrungen gesammelt habe. Und Anton fährt ungestört fort: „Der Kommunismus ist dem Kapitalismus unterlegen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Untergang der DDR sind der beste Beweis.“ Es ficht ihn auch nicht an, dass die beiden älteren Damen in der Reihe vor uns immer wieder versichern, auf Kuba sei es wunderbar. Eine erzählt, in vielen Häusern gebe es Läden mit beweglichen Lamellen ohne Glas statt der „normalen“ Fenster. Sie habe auf Kuba eine Freundin, und die stocke gerade ihr Haus auf, um eine Privatunterkunft anbieten zu können.
Wasser auf Antons Mühlen. Keine Fenster! Im Kommunismus funktioniere eben nichts, noch nicht einmal die Fensterproduktion.
Warum er denn dann nach Kuba fliege, frage ich Anton. Wegen der alten amerikanischen Straßenkreuzer. Außerdem solle ich mir keine Sorgen wegen des Kommunismus machen. Che Guevara sei schon tot. Und die beiden Castros würden auch bald von der Bildfläche verschwinden. Er schaut erwartungsvoll. Warum er mit seiner Reise denn dann nicht auf das „neue“ Kuba warte, hätte ich am liebsten gefragt. Doch wieder bleibe ich stumm, um eine Diskussion zu vermeiden, schließe die Augen, tue so, als würde ich schlafen, und höre erst damit auf, als ich neben mir das Schnarchen von Anton höre, aus dem ich schließe, dass ich jetzt vor seinen Belehrungen sicher bin.
Kaum auf dem Flughafen Varadero angekommen, lege ich so schnell wie möglich großen Abstand zwischen Anton und mich. Musik, lachende Menschen (okay, nicht alle sahen aus wie Kubaner), ein klimatisierter Flughafen, freundliche ZöllnerInnen. Nur das Formular mit der Frage nach möglichen Schmuggelgütern, Waffen, Pornografie und was weiß ich noch alles (ich habe das Kreuzchen selbstredend immer beim Nein gemacht), das ich bereits im Flugzeug hatte ausfüllen müssen, sowie die Kamera, vor die ich beim offiziellen Grenzübertritt mein Gesicht halten muss, stören meine trotz Schlafmangel gute Stimmung. Waffen! Pornografie! Drogen! Wofür halten die mich? Ich wage es ja noch nicht einmal, falsch zu parken oder schwarz in der U-Bahn zu fahren. Während mein Gesicht fotografiert wird, fallen mir die biometrischen Zollkontrollen ein, die es im Kapitalismusland ja ebenfalls gibt, und ich bin besänftigt.
Mein Optimismus gewinnt wieder die Oberhand und steigert sich noch, als ich ein gewisses Örtchen aufsuche. Für eine Türkei- und Griechenland-erfahrene Deutsche eröffnen sich paradiesische Aussichten. Nichts mit Plumpsklo oder Abtritt, sondern Schüssel und Spülung. Gut riechend. Ziemlich sauber.
Auch die Organisation scheint zu klappen. Eine Luke spuckt Koffer aus, viele in einem ähnlichen Grau wie meiner, zwei Transportbänder liefern sie an die Reisenden. Und das ziemlich schnell nach der Landung. Gut, der Flughafen Varadero ist eher klein, in etwa so provinziell wie der Flughafen Basel. Ich persönlich würde diese Größe unter gemütlich subsumieren. Erwartungsvoll harre ich also dem Auftauchen meines Rollkoffers entgegen, neu erstanden für den Flug auf die Insel. Ich starre und starre und bekomme jede Menge Zeit, zu bedauern, dass ich nicht eine rote Schleife drangebunden hatte. Ich habe mir meine Neuerwerbung beim Packen nicht so genau angeschaut, wie ich dies hätte tun sollen, oder besser: nach dem Packen und Zuklappen, denn es geht ja ums Außen.
Stattdessen ziehen immer mehr Koffer ihre Schleifen, werden vom Band gehoben. Meiner ist nicht darunter. Sollte ich doch ans andere Band? Ich harre aus. Schließlich wurde mir gleich nach der Landung erklärt, dass ich meinen Koffer an diesem finde. Neidvoll blicke ich einigen Mitreisenden nach, die samt Gepäck in Richtung Zoll marschieren. Ich warte, entschlossen, die Unrast und Nervosität, die Europäern gemeinhin nachgesagt wird, insbesondere den Deutschen, nicht durchscheinen zu lassen. Denn bin ich nicht auf Kuba, der Insel der lauen Sommernächte, des Salsa, der wunderbaren Longdrinks (dies war das einzige Vorurteil, und das betrifft auch die positiven, das sich komplett bewahrheiten sollte)? Also gebe ich mich cool. Carpe diem.
Anton aus Bayern hat sich neben mir postiert und macht mich schließlich auf eine Legion Koffer aufmerksam, die sorgsam arrangiert in Reih und Glied neben dem anderen Band stehen. Neben den Koffern wiederum entdecke ich mehrere junge Männer. Ich schöpfe Hoffnung und gehe auf sie zu. Auf die Koffer natürlich. Einer der jungen Männer, das Sinnbild des rassigen Kubaners, schlank, schmale Hüften, breite Schultern, lächelt mir so nett entgegen, dass ich mir schon ganz willkommen vorkomme, und sagt anschließend etwas auf Spanisch. Ich verstehe, dass er annimmt, ich suche mein Gepäck und nicke. Er führt mich das letzte Stück zu den Koffern. Und, o Wunder, da ist meiner. „Ein CUC“, sagt der freundliche junge Mann. In diesem Moment wird mir klar, dass auf Kuba vieles sehr wohl gut organisiert ist.
Und weil wir schon beim Thema Organisation sind, ist es vielleicht ratsam, an dieser Stelle etwas über die kubanischen Toilettengepflogenheiten zu erzählen. Die gute Nachricht: Es gibt nach europäischen Maßstäben einigermaßen annehmbare Toiletten, also solche, bei denen die Toilettenspülung funktioniert und die Türen abschließar sind. Meist dort, wo Touristen verkehren. Also in den großen Hotels, alle staatlich, die zumeist zusammen mit spanischen Gesellschaften hochgezogen worden sind. Und in denen meiner Erfahrung nach das Meiste klappt. Wirklich. Soweit das auf Kuba eben möglich ist. Denn damit, dass mal Wasser und Strom ausfallen, muss man rechnen. Das steht in jedem Reiseführer. Sie sollten das glauben.
Die schlechte Nachricht: Es gibt viele gewisse Örtchen, die zwischen gewöhnungsbedürftig und anrüchig rangieren, um es mal vornehm auszudrücken. Aber egal, welche Art von Toilette, bitte niemals, NIEMALS das Toilettenpapier in die Toilette werfen. Dafür stehen eigene Abfalleimer bereit. Ich habe übrigens schnell gelernt, entweder Toilettenpapier oder Kleingeld dabei zu haben, um selbiges zu kaufen, am besten CUP, kubanische Pesos, die Währung, in der den Einheimischen der Lohn ausgezahlt wird. Dieses Toilettenpapier besteht dann meist nicht mehr als aus drei Blatt, sorgsam zusammengefaltet.
Sagte ich schon, dass auf Kuba der Tourismus nach dem Medizinsektor zur wichtigsten Einnahmequelle avanciert ist? Ich meine nach dem Zusammenbruch der...