Oktober
Ein Russe legt in seinem Wohnzimmer Feuer, ich mache einen kulinarischen Ausflug in die Sowjetunion und erlebe die Liebe auf den ersten Löffel
Eines wurde mir in meiner russischen Wahlheimat sehr schnell bewusst: Um den Alltag in Moskau gut zu überstehen, brauchte ich viel Geduld und noch mehr Humor. Die Stadt hielt nahezu täglich Überraschungen für mich bereit. Das ging schon am Morgen los – mit einer kopflosen Verkäuferin.
Auf dem Weg zur Redaktion, die im fünften Stock des Deutsch-Russischen Hauses angesiedelt war, hielt ich an der nach einem sowjetischen Heerführer benannten Metrostation Frunsenskaja an einem wohnwagenähnlichen Gefährt. Darin gab es neben allerhand Milchprodukten wie Kefir und Käse besagte kopflose Verkäuferin.
Fast jeden Morgen erstand ich bei ihr einen Joghurtdrink. Ihr Gesicht sah ich nie. Womöglich war sie furchtbar entstellt oder hatte einen Schnurrbart. Ich hörte immer nur ihre Stimme, die „sluschaju“ sagte, „ich höre“. Das traf es genau, denn sehen konnte auch sie mich nicht. Das einzige Sichtfenster, durch das ich meine zwanzig Rubel reichte, befand sich auf der Höhe meiner Brust.
Allmorgendlich zog die Frau den Joghurtdrink mit geübtem Griff aus einem hinter ihr stehenden Pappkarton. Wie das Kaninchen aus dem Hut, dachte ich. Eine Zirkusnummer. Dem Milchwagen fehlte nur noch der Marktschreier: „Meine Damen und Herren, treten Sie näher und staunen Sie. Hier bedient nicht die Dame ohne Unterleib, nein, hier bedient die Dame ohne Kopf.“
Diese Episode war kein Einzelfall. Es gab in dieser Stadt unzählige Methoden, die Kommunikation zwischen Kunde und Verkäufer zu unterbinden. Die Variante „Ich sehe nicht, ich höre nur“ wurde nur noch gesteigert durch „Ich sehe, aber höre nicht“ im Trolleybus.
Ich wollte vom Fahrer wissen, ob er bis zu meiner Station Bagrationowskaja fuhr. Der Mann saß in einer orangefarbenen Signaljacke am Steuer, wie sie in Deutschland Straßenarbeiter und Müllmänner tragen. In seiner Fahrerkabine bewegte er die Lippen lautlos wie ein Goldfisch im Glas. Die einzige Öffnung, durch die Rubel, Fahrscheine und Schallwellen passieren konnten, befand sich, und das übertraf noch den Milchwagen, auf der Höhe meines Bauches.
Ich beugte mich also nach unten und sprach meine Frage dort hinein. Dazu musste ich eine Pose einnehmen, die aussah wie Aerobic für Anfänger. Der Busfahrer sah mich verständnislos an. Als er mir schließlich antwortete, klang seine Stimme so dumpf, als spräche er zu mir aus einem anderen Universum. „Njet“, das verstand ich. Die restlichen Worte blieben an der Scheibe hängen. Ein Schild, wie ich es aus Deutschland kannte – „Bitte sprechen Sie nicht mit dem Fahrer“ –, hätte man hier um den Zusatz erweitern können: „Er hört Sie sowieso nicht.“
Noch leichter missglückte die Kommunikation am Telefon. Wenn ich etwa in unserer WG den Hörer abnahm, dann rauschte und knackte und tutete es gelegentlich, als würde gerade Kontakt zu einer fernen Galaxie hergestellt – dabei ging es doch nur um Germanija. Besonders aufregend war so ein Gespräch, wenn ich unfreiwillig zum Spion wurde. Mehr als einmal saß mir das Leben der anderen in der Ohrmuschel. Dazu hörte ich starkes Rauschen, tiefe Stimmen und Kurzwellen-Gedudel.
Die Russen aber schienen das Telefon zu lieben – das war mir schon bei meinem ersten Besuch in Moskau aufgefallen. Im Hause meiner Gasteltern war der Fernsprecher so etwas wie ein Familienmitglied, das schon vor dem Frühstück und noch lange nach Mitternacht Zuwendung und insbesondere Zusprache erfuhr. Es hing direkt über dem Esstisch in der Küche, und sein schriller Ton konnte Tote, aber nicht den schlafenden Vater auf der Couch wecken.
Die Mitglieder meiner Gastfamilie waren die liebsten Menschen auf der Welt, aber am Telefon hatten sie den Charme von Henkern. Offensichtlich gehörte ein schroffer Stil am Telefon in Russland zum guten Ton. Erst nachdem der Hörer wieder auf der Gabel saß, verwandelte sich die Mutter zurück in die fürsorgliche Gastgeberin und tischte mit freundlichem Lächeln den Tee auf.
Ein bisschen Mut erforderte es deshalb schon vom neu zugezogenen Ausländer, sein Anliegen – auf Russisch! – zu formulieren, wenn die Person am anderen Ende der Leitung sich nicht vorstellte, sondern nur ein kühles „Aallo!“ in die Muschel bellte. Auch ich gewöhnte es mir schnell ab, am Telefon meinen Namen zu nennen. Es musste ja nicht jeder gleich beim ersten Wort wissen, dass ich Ausländerin war. Außerdem galt der schöne Satz „When in Rome, do as the Romans do“ auch für Moskau.
Alles in meiner neuen Stadt schien mindestens zwei Nummern zu groß. Die endlosen Boulevards, die man nur unterirdisch gefahrlos überqueren konnte. Der Betondschungel, der elf Millionen Moskauer fast verschwinden ließ. Wie Mäuse in ihren Schächten bewegten sich die Menschen durch die labyrinthischen Gänge der Metro. Mich erschlug aber nicht nur die Größe der Stadt. Auch ihr Tempo. Ihre Dynamik. Ihre Atemlosigkeit. Der Planet Moskau schien sich schneller zu drehen als der Rest der mir bekannten Welt.
Jeden Tag galt es, einen Wettkampf zu bestehen. Um den Einstieg in den Metrowagen. Um einen Sitzplatz. Um den rechtzeitigen Ausstieg. In Moskau machte schon der Morgen müde. In den Nächten aber feierte sich die russische Hauptstadt, als würde die Sonne nie mehr aufgehen.
Bei meinem ersten nächtlichen Spaziergang mit Wladimir über den mehrspurigen Neuen Arbat sah ich, was ich mir immer unter Las Vegas vorgestellt hatte: Spielhöllen, Leuchtreklamen, Luxusschlitten. Vor Kasinos, deren Farben in den nachtschwarzen Himmel strahlten, postierten sich schlanke Männer in Smoking und Sonnenbrille. Aus Lautsprechern, die über den Eingängen hingen, schallte russischer Pop. Reklamefilme für Coca-Cola flimmerten über Werbeflächen, groß wie Garagentore. Karossen mit verdunkelten Scheiben rasten neben uns über den Boulevard. Sah so eine Stadt aus, in der man den Sozialismus einst zur allein seligmachenden Staatsform erklärt hatte?
Moskau erschien mir wie eine Schlange, die sich seit meinem Besuch in den Neunzigern mehrfach gehäutet, aber den Kommunismus dabei, wie ich noch merken sollte, nicht gänzlich abgestreift hatte.
Die Moskauer des 21. Jahrhunderts lebten im Zeitraffer. Sie gingen nicht durch ihre Stadt, sie eilten, als hätten sie ein ganzes Leben aufzuholen. Wladimir, der ebenfalls schnellen Schrittes neben mir ging, schien meine Gedanken gelesen zu haben. „Na, so kennst du Moskau noch nicht, oder?“, sagte er, klappte den Kragen seiner Lederjacke hoch und lächelte stolz. Der Wind trug die Stimme von DJ Smash über die Straße: „Moscow never sleeps, Moskwa, ljublju tebja, Moscow never sleeps.“
Ohne Ziel ließ ich mich Tag um Tag in der Stadt treiben. Wie ein Stamm, den ein schneller Strom mit sich gerissen hatte. Am Abend sank ich nach langen Spaziergängen todmüde auf meinen Diwan, am Morgen rissen mich singende Amerikaner aus dem Schlaf. Wladimir hatte sich als Weckruf einen Song von REM aufs Handy geladen. Wegen der dünnen Wände begann jetzt auch mein Tag mit „Leaving New York“. Das Lied ließ mich an Menschen denken, die ich für meinen Neustart in Moskau zurückgelassen hatte. It’s easier to leave than to be left behind/ leaving was never my proud.
Nun dehnte ich auf einem durchgelegenen russischen Diwan meine Glieder und sinnierte über die Zukunft. It’s quiet now and what it brings is everything. Ich dachte an meinen Vater, der vor zwei Jahren gestorben war. Ihn hatte der Krieg in die Sowjetunion geführt, bei mir war es das Fernweh.
In meinem fränkischen Heimatdorf Obereuerheim kamen die Leute auf die Russen vor allem dann zu sprechen, wenn sie sich an vergangenes Leid erinnerten. Für mich waren die Russen meine Mitbewohner, meine Nachbarn, meine Kollegen. Die junge Mutter auf dem Spielplatz vor der Tür. Der alte Mann mit Hut, der an der Metrostation Blumensträuße feilbot. Der Bodyguard, der sich am Neuen Arbat vor dem Nachtclub aufbaute. Aus Feinden waren einfach nur Fremde geworden.
Mein russischer Chefredakteur hieß Podwigin. Podwig bedeutet Heldentat, und tatsächlich hatte es etwas Heldenhaftes, als Russe eine deutschsprachige Zeitung aus der Taufe zu heben. Podwigin war ein groß gewachsener Mann mit Halbglatze und brauner Brille. Er legte Wert auf Umgangsformen, ohne in geringster Weise steif zu wirken. Jeden Morgen schüttelte er den männlichen Kollegen die Hand. Mir und den anderen Redakteurinnen nickte er nur freundlich zu. Russen, die auf sich hielten, grüßten Frauen nicht mit Handschlag. Dafür hatten sie den Handkuss noch nicht verlernt. Jahr für Jahr, so verrieten mir meine Kollegen, versorgte Podwigin die Journalisten mit rotbackigen Äpfeln von seiner Datscha.
In den ersten Wochen lernte ich: Es war sehr leicht, Russen in ihrem Stolz zu verletzen. Kritik an politischen Machtspielen konnte leicht als Kritik an den Menschen missverstanden werden. Zwar fühlte ich mich als nemka, Deutsche, in Moskau herzlich willkommen. Doch harsche Worte von einem inostranjez, einem Ausländer, trafen schnell ins Mark. Da die Kollegen jedoch allesamt kritische Köpfe waren, gab es in Redaktionskonferenzen immer wieder heiße Diskussionen und manchmal dicke Luft.
Dass aber auch Russen ihr Land in die Mangel nehmen, lernte ich von meiner russischen Journalistenkollegin Natascha.
Mit schwarzem Fransenpony, perfektem Make-up und extravaganter Mode wirkte sie oft, als käme sie gerade von einer Ausstellungseröffnung. In Moskau bewegte sie sich wie der Fisch im Wasser. Wusste immer, wo neue Clubs...