März
Die schönste Bardame der Welt
„Eigentlich wollte ich hier nur vorbeischauen. Aber wer einmal hier ist und die Schönheit der Stadt sieht, verlässt sie nie wieder, verstehst du?“
(HASSAN VOM PEYOTE-CLUB IN „UNDER THE BRIDGE – THE B-SIDE OF ISTANBUL“ VON FATIH AKIN)
„TSCHAI?“, FRAGT FRAU Ö. knapp und gießt, ohne die Antwort abzuwarten, den heißen Tee in die Tasse. Ich nehme in dem Sessel Platz, den sie mir mit einer unwirschen Geste zuweist, und betrachte sie neugierig. Frau Ö. trägt das einst blonde Haar zu einem opulenten Dutt drapiert und gehört zweifellos zu den Frauen, die auch jenseits ihrer Jugend als schön bezeichnet werden. Als das Alter die unvermeidlichen Linien in ihr Gesicht gezogen hat, ist es dabei vorgegangen wie der Erbauer eines komplizierten Saiteninstruments, der nur sehr feines Material verwendet und jede Saite sorgfältig platziert. Bei einem Lachen würde eine nach der anderen zärtlich gestrichen, wie beim leisen Akkord auf der Laute, nur dass die Harmonie, die dabei entsteht, sichtbar ist und nicht zu hören. Im Moment jedoch ist von Heiterkeit keine Spur. Der Mund von Frau Ö. ist zu einem dünnen Strich geschrumpft, und auf der Stirn üben sich die Fältchen in einer düsteren Moll-Arie. Sie nimmt einen Schluck Tee und kommt ohne Umschweife zur Sache.
„Mir gefällt ganz und gar nicht, was meine Kinder da ausgeheckt haben.“
Ich folge ihrem Blick, der in einem Winkel von knapp dreißig Grad an mir vorbei auf die Wand gerichtet ist. In Silber gerahmt hängen sie da, die drei Übeltäter. Ich kenne nur Tochter Suzan, die das Blond von der Mutter und die markante Nase vom Vater geerbt hat und nun mit meiner Hilfe ein wenig mehr als deren Gene an die Nachwelt weitergeben möchte.
„Sie glauben, ich sei einsam seit dem Tod ihres Vaters“, fährt Frau Ö. fort, den Blick noch immer auf die gerahmte Nachkommenschaft geheftet. Dann schaut sie mich verbittert an: „Doch statt mich einfach häufiger zu besuchen, jagen sie mir eine Ghostwriterin auf den Hals.“
So verächtlich spricht sie das Fremdwort aus, dass ich für einen Moment wünschte, Ghostwriting hätte auch damit zu tun, unsichtbar wie ein Geist durch Wände verschwinden zu können.
„Wenn ich Ihre Kinder richtig verstanden habe, geht es ihnen nicht um eine Ganztagsbetreuung für ihre Mutter, sondern darum, Ihre Lebensgeschichte aufschreiben zu lassen, damit Ihre Enkel und Urenkel sie eines Tages nachlesen können.“
„Meine Lebensgeschichte!“, ruft Frau Ö. aus. „Als ob die so interessant wäre.“
Natürlich kokettiert sie. Zu gut weiß sie, wie spannend ihre Biographie auf andere wirkt, zumindest auf arglose Dreißigjährige, die Berlin bis dato für den Nabel der Welt hielten. In den Fünfzigern hatte sich Marianne K. aus Oberbayern unsterblich in einen durchreisenden Türken verliebt. Seinetwegen ließ sie Familie, Freundinnen und das aufziehende Wirtschaftswunder hinter sich und folgte ihm in den Orient, von dem sie damals nicht viel mehr wusste, als Scheherazade ihrem Sultan einst geflüstert hatte. Aus Fräulein K. wurde Frau Ö. und aus der Ingolstädterin eine Istanbulerin. Sie gebar drei Kinder, lernte die Stadt und den Bosporus lieben, und zwar so sehr, dass sie auch nach dem Tod ihres Mannes vor wenigen Jahren nicht nach Deutschland zurückkehren wollte. Angesichts der umfangreichen Antiquitätensammlung in ihrer Wohnung scheint eine gewisse Sesshaftigkeit allerdings auch verständlich.
„Haben Sie schon eine Fahrt auf dem Bosporus gemacht?“, fragt Frau Ö. unvermittelt. Ich nicke, erleichtert über die angenehme Wendung, die das Gespräch nun zu nehmen scheint. Doch bevor ich von meinem kleinen Bootsausflug erzählen kann, stellt sie schon die nächste Frage: „Und auf dem Basar?“
„Nein, noch nicht.“
„Blaue Moschee?“
„Ja, da war ich.“ Allerdings nicht lange, weil sich mir unter der märchenhaften Kuppel der schönen Moschee, die man wie alle Gebetshäuser Allahs auch als Nicht-Moslem nur ohne Schuhwerk betreten darf, das Bild von der „Käseglocke“ unangenehm aufdrängte. Auf wundersame Weise mischten sich hier die Ausdünstungen aus den unzähligen Tennissocken transpirierender Touristen zu einem ballongroßen Bouquet, das mich leider viel zu schnell wieder an die Frischluft trieb.
„Topkapi-Palast?“, fragt Frau Ö. weiter, wobei sie das „i“ wie ein kurzes „e“ ausspricht.1 Aber ich muss wieder passen. Bis auf den Film von 1964 – Topkapi mit Melina Mercouri, Peter Ustinov und Maximilian Schell – habe ich noch nichts gesehen vom Sultanspalast.
„Das machen sie nämlich sonst alle“, fährt Frau Ö. fort. „Sie schippern auf dem Bosporus herum, laufen über den Basar und durch ein paar Moscheen und Paläste. Am Abend gehen sie mit Vorliebe dort essen, wo zwischen den Gängen eine Bauchtänzerin die Hüften schwingt, und dann fahren sie nach Hause und glauben, Istanbul gesehen zu haben.“ Verächtlich winkt Frau Ö. ab. „Wussten Sie, dass der Tourismusminister der Türkei vor ein paar Jahren gefordert hat, dass der Bauchtanz nicht mehr als typisch türkische Attraktion vorgeführt wird? Arabisch sei der, so seine Begründung, nicht türkisch. Im Ausland solle man schließlich kein falsches Bild von uns bekommen.“
Ich frage mich, ob das Image der Türkei, das unter anderem von fettigem Döner, finsteren Schnurrbartträgern und den gruseligen Zuständen in türkischen Gefängnissen geprägt ist, nicht doch ein paar hübsche Hüften kreisende Bauchtänzerinnen gut vertragen könnte. Doch ich übergehe ihren Exkurs und erwidere, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass ein Tourist, der ein paar Tage in der Stadt verbracht hat, tatsächlich denkt, Istanbul zu kennen. Diese Riesenstadt überfordere jeden, der sie besucht. Niemand könne hier abreisen ohne das unbefriedigende Gefühl, längst nicht alles gesehen und stattdessen viel zu viel verpasst zu haben.
Zum ersten Mal seit meiner Ankunft glaube ich, einen freundlichen Zug um ihre Mundwinkel ausmachen zu können. Ihre Augen funkeln belustigt. Ich war ihr auf den Leim gegangen.
„Sehen Sie, genauso blauäugig ist das, was Sie mit mir vorhaben.“
Ich schaue sie fragend an.
„Sie kommen her, stellen mir vier Wochen lang irgendwelche Fragen. Dann fahren Sie nach Hause in Ihre gewohnte Umgebung und wollen ein Buch schreiben über mein Leben in dieser Stadt, in dieser Kultur, die Sie doch gar nicht kennengelernt haben können. Wie soll das funktionieren?“
Sie hat mich eiskalt erwischt. Wie ein kleines Schulmädchen fühle ich mich, das im Aufsatz das Thema verfehlt hat und von der strengen Lehrerin vor der gesamten Klasse dafür gerügt wird. Ich fixiere das Muster der Tischdecke und muss Frau Ö. recht geben. Bisher schrieb ich nur die Erinnerungen von Menschen auf, die ihr Leben in Deutschland verbrachten. Ihre Geschichten waren mir nicht fremd, viele Schauplätze und Situationen sogar bestens bekannt. Dieser Auftrag hier war anders. Wie könnte ich das Leben von Frau Ö. authentisch beschreiben, ohne ständig im Klischee hängen zu bleiben?
„Sie wissen gar nichts nach vier Wochen“, sagt sie wie zu sich selbst, während sie aus dem Fenster schaut. „Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man als Fremde in dieser Stadt eine Heimat sucht, wie es sich anfühlt, eine von vielen und eine von wenigen zu sein. Sie wissen nicht, wie sich der Bosporus verändert, wenn die Sonne scheint oder wenn der Himmel voller Wolken hängt. Sie wissen nicht, was in der Stadt los ist, wenn Ramadan ist, oder ein Fußballspiel der hiesigen Clubs. Sie wissen nicht, wie unglaublich bürokratisch es hier zugehen kann, und dann wieder wie südländisch unkompliziert.“ Dann schaut sie mich eindringlich an: „Sie wissen nicht, was es heißt, eine Istanbulerin zu sein.“
Es ist bedrückend still im Raum. Draußen hupen Autos, ein Straßenverkäufer preist im monotonen Sprechgesang seine Waren an. „Vielleicht“, fährt Frau Ö. fort, nachdem sie einen Schluck Tee genommen und das Glas geräuschlos auf die Untertasse gesetzt hat, „vielleicht bekommen Sie eine Ahnung davon, wenn Sie eine Zeitlang in Istanbul leben.“ Auf der Straße strebt das Hupkonzert seinem vorläufigen Höhepunkt entgegen. „Ein Jahr brauchen Sie“, sagt Frau Ö. und fügt nachdrücklich an: „Mindestens.“
Ich lache auf, als hätte sie einen schlechten Witz gemacht. Ein Jahr in einer Stadt, in der so viele Menschen auf einem Haufen leben wie in dem gesamten Staat, in dem ich geboren wurde? Deren Verkehrschaos so sehr an den Kräften zehrt, dass man nach einer Woche am liebsten eine Dauerkarte für den Hamam kaufen möchte? Der ein Kontinent nicht genügt, so dass sie sich gleich über zwei erstrecken muss und die Menschen somit unweigerlich an den Rand der Schizophrenie treibt? Aber vor allem: Ein Jahr in einer Stadt, die 1700 Kilometer weit weg ist von Berlin und damit von Tom? Undenkbar.
„Überlegen Sie es sich“, sagt Frau Ö. schließlich und steht auf, um mich zur Tür zu begleiten. „Wenn Sie nicht bereit sind, sich so weit auf die Geschichte einzulassen, können Sie den Auftrag vergessen.“
Wenn dies eine Drohung sein soll, so verfehlt sie ihre Wirkung. Ich habe nämlich jetzt schon keine Lust mehr auf diesen Job.
Wenige Augenblicke später befinde ich mich auf einem schmalen Gehsteig und inmitten der Geräuschkulisse eines Formel-1-Rennens. So schnell wie die Autos neben mir rasen die Gedanken durch den Kopf. Warum eigentlich nicht? Ein Jahr als Gastarbeiterin in der Türkei? Einige meiner Jobs könnte ich dank Internet und Telefon auch in Istanbul erledigen. Wenn ich den Platz in meiner Bürogemeinschaft kündige, habe ich die...