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Ein Jahrhundert wird abgewählt

Europa im Umbruch 1980-1990 Erweiterte Neuausgabe

AutorTimothy Garton Ash
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl496 Seiten
ISBN9783446266292
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
30 Jahre Mauerfall: Timothy Garton Ash 'einer der einflussreichsten politischen Publizisten der Welt' (titel thesen temperamente) zu den Hintergründen der Revolution '89
Timothy Garton Ash zählt zu den wichtigsten Chronisten der europäischen Revolution von 1989. Schon Jahre zuvor war er in den Metropolen Mitteleuropas unterwegs und traf sich mit Dissidenten wie Lech Wa??sa und Václav Havel. Aus seinen Reportagen erfuhr der Westen, wie der Osten in Bewegung geriet. Und bereits im Herbst 1990 legte Garton Ash ein wichtiges Buch über diese Epochenwende vor: 'Ein Jahrhundert wird abgewählt'.
30 Jahre später hat Garton Ash noch einmal die Länder des ehemaligen Ostblocks besucht, um zu erkunden, was aus den damaligen Hoffnungen und Visionen geworden ist. Der Bericht seiner Reise vervollständigt die Neuausgabe dieses Klassikers der Zeitgeschichte.

Timothy Garton Ash, 1955 geboren, ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University. Daneben schreibt er regelmäßig für wichtige internationale Zeitungen und Zeitschriften. Er lebt in Oxford und Stanford.  Im Carl Hanser Verlag sind zuletzt erschienen: Jahrhundertwende. Weltpolitische Betrachtungen 2000-2010 (2010) und Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt (2016). 

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Leseprobe

2

Der Papst in Polen


Dies ist eine analytische Reportage aus dem Jahr 1983 über den Papstbesuch in Polen, seinem zweiten.

Tschenstochau


Sie pilgerten von überall aus Polen in stillen Märschen durch die Nacht hierher. Jetzt sammeln sie sich auf der Wiese vor den ziegelroten Festungswällen des Klosters Jasna Góra. Zwischen den religiösen Insignien auf den flatternden Fahnen über ihren Köpfen ist überall das unverkennbare rote Buchstabengewirr von Solidarność zu sehen. Und nicht nur der Name der verbotenen Bewegung, sondern eine ganze Ansammlung von Variationen zum Thema: Das T des päpstlichen Mottos Totus Tuus bildet die polnische Fahne; »Ihr unterstützt die Studenten von Gdańsk« (»Studenten« in der Kalligraphie von Solidarność geschrieben); »Wir grüßen die Verteidiger der Menschenrechte«. Dies ist ein Treffen der Jugend aus der Solidarność-Generation, doch nirgendwo ist jene lockere, festliche Fröhlichkeit zu spüren, wie sie vor vier Jahren geherrscht hatte. Die Gesichter im kalten Wind sind angespannt und voller nervöser Erwartung.

Plötzlich ist er bei ihnen, hoch oben auf dem riesigen weiß-goldenen Podium, das vor den Klosterzinnen errichtet wurde. Minutenlang ertränken sie ihn in Wogen des Applauses. Wieder und wieder, einmal aus dieser und einmal aus jener Ecke, kommen ihre rhythmischen Rufe: »Lang lebe der Papst, lang lebe der Papst«; »Der Papst ist bei uns, der Papst ist bei uns«. Politische Schlachtrufe, keine religiösen Gesänge, Rhythmen, wie sie schon am ersten Abend des Besuchs zu hören waren, als Zehntausende von der Warschauer Kathedrale am Hauptsitz der Kommunistischen Partei vorbeimarschierten und riefen: »So-li-dar-ność, So-li-dar-ność«, »Lech-Wa-łę-sa, Lech-Wa-łę-sa«, »De-mo-kra-cja, De-mo-kra-cja«, »Un-ab-hän-gig-keit, Un-ab-hän-gig-keit …«

Endlich dringt seine Stimme durch die Lautsprecher: »Ich möchte euch fragen, ob eine gewisse Person, die heute aus Rom zu euch gekommen ist, zu euch sprechen darf.« »Nur zu, nur zu«, rufen sie. Und dann, »näher zu uns, näher zu uns« … »Hört ihr mich?«, antwortet er in den Tumult hinein. »Ich komme näher.« Und die weiße Figur kommt ihnen auf den roten Treppen entgegen. Ein Mönch mit einem Mikrophon in der Hand stolpert dem Papst hinterher. »Danke, danke«, brüllt die Menge. Und dann: »Stuhl für den Papst, Stuhl für den Papst.« Noch ein Mönch stolpert die Treppen hinunter. Als der Papst stehen bleibt, ist er noch immer fünfzig Meter vom nächststehenden Pilger entfernt. Doch mit dieser einzigen theatralischen Geste ist er ihnen nähergekommen. Zum ersten Mal während dieses Besuches hat er, wie schon vor vier Jahren, jenen magischen, spontanen Kontakt mit der unüberschaubaren Menge hergestellt. Er spricht zu ihnen. Sie sprechen zu ihm.

Und dann ist die Menge auf einmal ehrfurchtsvoll still, eine halbe Million Menschen lauscht mit einer solchen Aufmerksamkeit, dass man das Klicken eines Rosenkranzes hören könnte. Er hält eine große, schlichte und moralische Predigt, keine politische Rede. Er predigt Liebe, die »größer als all die Erfahrungen und Enttäuschungen ist, die das Leben für uns bereithalten kann«. Er zeigt ihnen, dass er ihre Enttäuschungen kennt und teilt, ohne dass er das Kriegsrecht direkt ansprechen muss. Er sagt ihnen, sie müssten mit der Reformation ihrer selbst beginnen, die jeder sozialen oder politischen Reform vorangehen muss; auf ihr Gewissen hören; »Gut und Böse beim Namen nennen«. »Es liegt an euch«, sagt er, »eine feste Barriere gegen die Demoralisierung aufzurichten.« Dann, und erst dann erwähnt er zum ersten Mal das Wort Solidarność. Er lässt es leise in die schweigende Menge einsickern. Nicht über Solidarität, die verbotene Bewegung, spricht er, sondern über »die grundlegende Solidarität zwischen Menschen«.

Natürlich folgt sofort stürmischer Applaus. Aber es ist nicht mehr das heftige Tosen wie noch vor einer Stunde. Es klingt freundlicher, erwachsener. »Es wäre schwierig«, fährt er fort, »all die Ängste hier aufzuzählen, die jene und ihre Familien umgeben, die interniert, gefangen und von ihren Arbeitsplätzen entlassen wurden. Ihr kennt sie besser als ich. Ich erhalte nur sporadische Nachrichten darüber …« Schließlich, als richte er sich direkt an die Ikone der Schwarzen Madonna im Kloster hinter ihm, appelliert er: »Mutter von Jasna Góra, du, die du uns durch die Vorsehung zur Verteidigung der polnischen Nation gegeben wurdest, nimm diesen Ruf der polnischen Jugend gemeinsam mit der polnischen Hoffnung an, und hilf uns, die Hoffnung zu bewahren

Während er langsam vom Podium schreitet, nach links und rechts winkend, schicken sie ihm noch eine letzte emotionale Botschaft: »Bleib bei uns, bleib bei uns, bleib bei uns …«

Am späteren Abend demonstriert eine kleinere Solidarność-Gruppe in der Stadtmitte, doch die riesige Menge hat sich friedlich zerstreut. Er hat die Katharsis vollbracht, hat Sturmböen in Hymnen verwandelt. Doch vielleicht hat er ihnen auch einen »Ausweg« gewiesen, einen Ausweg aus Umständen, aus denen viele keinen Ausweg mehr zu erkennen glaubten.

Krakau


»Bleib bei uns, bleib bei uns«, rufen auch hier die unüberschaubaren, freundlichen Massen in stürmischer Liebe. Und jede einzelne Geste des Papstes wirkt, als wollte er sagen: Wenn ich nur könnte, wenn ich nur könnte. Das Flugzeug, das sich vergangenen Donnerstagnachmittag über die Wiesen seines geliebten Krakaus erhob, brachte einen sehr heimwehgeplagten Mann nach Rom zurück. Aber es ließ eine Gesellschaft im festen Glauben daran zurück, dass diese zweite große Pilgerreise des Karol Wojtyła in sein Heimatland, von der er engen Freunden gegenüber zuvor als der schwierigsten seiner Reisen (Nicaragua eingeschlossen) gesprochen hatte, ein Triumph gewesen war.

Die Berichte der westlichen Presse haben bewiesen, dass seine Aussagen ausländischen Zeitungslesern nicht vermittelbar sind. Es ist unmöglich, denn er spricht zu den Polen in einer Sprache aus historischen, literarischen, philosophischen und mariologischen Symbolen und Anspielungen, die alle ein ganzes Kapitel an Erklärungen erfordern würden. Es ist unmöglich, weil so vieles von jener Theatralik des Vortrags abhängt, die John Gielgud einmal »perfekt« nannte. Es ist unmöglich, denn die Poesie ist es, die in einer Übersetzung verloren geht.

Aber versuchen wir das Unmögliche. Beginnen wir mit dem, was der Papst nicht gesagt hat. In scharfem Kontrast zu seinem letzten Besuch sagte er nichts über eines der Leitmotive seines Pontifikats: über die Zukunft der Kirchen in Osteuropa und die besondere Mission des slawischen Papstes, die Einheit des christlichen Europas vom Atlantik bis zum Ural einzufordern. Das war die große Konzession des Vatikans an Moskau. Andererseits aber hat er der sowjetischen Presse auch keine Geschenke gemacht, obwohl er viel zum Thema Frieden gesagt hat. In seiner einzigen Stellungnahme zur atomaren Abrüstung erinnerte er an ein Memorandum der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften über die Folgen eines Atomkriegs, das sowohl an die Sowjetunion wie an die Vereinigten Staaten geschickt worden war. Alles in allem aber predigte er diesmal als Pole den Polen über Polen.

Was er dem polnischen Volk vor allem mitteilte, war, wie sehr er ihre Enttäuschungen und Leiden durch das Kriegsrecht teilt. Er zeigte es ihnen durch sein gebeugtes Haupt und seine schwermütige Miene von dem Augenblick an, an dem er die Rollbahn des Warschauer Flughafens betrat. »Er ist traurig«, sagte die alte Frau neben mir. »Sehen Sie, er versteht.« Er zeigte es ihnen in seiner ersten Predigt in der St. Johannes-Kathedrale in Warschau: »Gemeinsam mit all meinen Landsleuten — besonders mit denen, die die Bitternis der Enttäuschung am schlimmsten erleiden müssen, die erniedrigt werden, die leiden, die ihrer Freiheit beraubt sind, die verleumdet werden, deren Würde mit Füßen getreten wird — stehe ich unter dem Kreuze Christi …« Und er zeigte es ihnen, als er vom »Primas des Millenniums« sprach, von Kardinal Stefan Wyszyński: »Göttliche Vorsehung ersparte ihm die schmerzlichen Vorkommnisse, die mit dem Datum des 13. Dezember 1981 verbunden sind.« Zehntausende, die sich in den Straßen der Altstadt um die Kathedrale herum versammelt hatten, applaudierten. Bislang haben die Zensoren diesen Satz überall gestrichen,...

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