Waldemar Fromm · Markus May
Einleitung
Der vorliegende Band möchte Impulse zu einer Neubestimmung des Werkes von Christian Morgenstern geben. Konträr zur anhaltenden Popularität des Autors und zur editionsphilologischen Erschließung seiner Schriften – mit dem Abschluss des neunten Bandes der Stuttgarter Ausgabe 2018 wird die Werkausgabe vollständig vorliegen – schwindet die literatur- und kulturgeschichtliche Aufmerksamkeit für den Autor. Erstaunlich ist, dass Ernst Kretschmer in einem Forschungsüberblick bereits vor dreißig Jahren Arbeiten aus den 1920er- und frühen 1930er-Jahren zitieren muss, um den Forschungsstand auszuweisen.1 Neben den grundlegenden Studien von Wolfgang Kayser, der 1957 Morgenstern im Zusammenhang mit dem Grotesken untersuchte,2 Alfred Liede, der 1961 Morgenstern im Rahmen der Sprachspieltradition einordnete,3 und Maurice Cureau, der wie Ernst Kretschmer dem Humor eine umfassende Studie widmete,4 sind nur wenige Dissertationen, insbesondere zu den Galgenliedern, erschienen.5 Eine neuerliche Würdigung von Autor und Werk ist vor dem Hintergrund dieser Forschungslage überfällig.6
Gegenwärtig ist Morgenstern vor allem als der Dichter der Galgenlieder präsent, wenngleich das wissenschaftliche Interesse auch diesbezüglich abzunehmen scheint. Der letzte größere Versuch, Morgensterns Rolle umfassender zu beschreiben, findet sich in Clemens Heselhaus’ Studie Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll von 1962 wie auch in seinem Nachwort zur Jubiläumsausgabe von 1979.7 In neueren literaturgeschichtlichen Überblicksdarstellungen fristet Morgenstern, pointiert gesagt, ein Nischendasein in der Rubrik ›komische Lyrik‹.8 Gleichwohl bündelt sich in seinem Werk eine Reihe wesentlicher Tendenzen der Lyrik der Moderne, und von daher lohnt sich ein erneuter Blick auf sein Werk. In diesem Kontext ist Morgensterns Stellung zur Avantgarde zu befragen. Eine solche Perspektive ergibt sich vor allem aus Morgensterns Beschäftigung mit sprachkritischen Impulsen. In der spezifischen Ausprägung bei Morgenstern eröffnet sich die Möglichkeit, eine moderne Variante des Verhältnisses von Kritik und Mystik im Kontext der Sprachreflexionen um 1900 zu erörtern.
Für die sprachkritischen Impulse sind insbesondere intermediale Bezüge hervorzuheben – es darf nicht vergessen werden, dass Morgensterns Großvater und Vater Landschaftsmaler waren, er selbst gibt als ersten Berufswunsch »zukünftiger Landschaftsmaler« an. Übersehen werden darf ebenso wenig das innovatorische Potenzial Morgensterns. Wie schon zu Lebzeiten, entfaltet der spielerische Umgang mit Sprache seine Wirkung bis zu Autoren der Gegenwart. Die Rezeptionsgeschichte, von der Forschung fast gänzlich vernachlässigt, reicht von der frühen Rezeption in Expressionismus und Dada über die Neuansätze der sprachartistischen und -reflexiven Dichtung nach 1945, etwa bei H. C. Artmann und Ernst Jandl, bis zur komisch-satirischen Lyrik der »Neuen Frankfurter Schule«.
Morgensterns Moderneverständnis setzt, wie z. B. im Beitrag Wie moderne Frauen schreiben, auf die Befreiung von der dogmatischen Erstarrung der Traditionsbezüge.
Modern – was heißt das überhaupt? Es ist ein verfänglicher Ausdruck: bedeutet er doch wörtlich »der Mode nach«. Die Mode aber ist eine Eintagsfliege. Er bedeutet indessen noch etwas anderes als die neueste Phase des Zeitgeschmacks, indem er vielmehr wie ein Siegel auf alles gedrückt ist, was unser Jahrhundert und in ihm besonders die letzten Jahrzehnte von früheren Zeitläuften stark unterscheidet. Die Wurzeln dieses Menschentums, das wir modern nennen, liegen überall, wo je eine große Kultur geherrscht hat oder doch angebahnt worden ist. Die Kulturen des alten Asiens, die Antike, das Christentum, die Renaissance, sie alle haben an den Anschauungen des neunzehnten Jahrhunderts mitgearbeitet, Anschauungen, die dahin gehen, eine Wiedergeburt des einzelnen und der Völker aus dem Geiste der Freiheit herbeizuführen. Traditionen sind etwas Ehrwürdiges, aber sie dürfen nicht Netze werden, aus denen niemand mehr herauskann.
Wieviele solcher Netze drohen, die Entwickelung eines Individuums zu ersticken! Ein überkommender Glaube – etwas Wunderbares, wenn der Mensch ihm frei gegenübersteht, etwas Fürchterliches, wenn er ein Gesetz aus ihm macht.9
Der »Geist der Freiheit« lebt von der anti-bürgerlichen Haltung in der Literatur und Kultur um 1900, Morgenstern war sowohl in der Münchner als auch die Berliner Moderne verankert, wie die Briefe zeigen. Aber er hat zeitlebens nicht nur eine Antwort auf die Probleme einer als bürgerlich beengend empfundenen Kultur gefunden. Von heute aus müssen mindestens zwei bedacht werden: die frühe, die mit der Tradition bricht, und die späte, die mit Rekurs auf Rudolf Steiner über den Bruch hinaus versucht, eine moderne Variante des Verhältnisses von Kritik und Mystik zu fundieren. Noch im Tagebuch eines Mystikers wird festgehalten: »Dieser Grundhang, das Leben zu einer Biedermeierei zu erniedrigen, ist es, den ich unter der Bezeichnung ›bürgerlich‹ überall aufspüre und verfolge. [… Man sollte, Anm. d. Hg.] den Menschen in Erinnerung […] rufen, daß sie nicht nur Bürger von diesem Namen und jenem Stand seien, sondern unerforschliche Teile des Unerforschlichen.«10 Zwischen sprachkritischem und sprachmystischem Morgenstern findet also keine »Kehre« statt, wenn man bedenkt, wem er entkommen will. Morgenstern geht es nicht darum, das früher Geschriebene zu revidieren oder als Irrtum zu entlarven, er sucht nach einer Alternative zum bürgerlichen Leben, wohl auch dem der Väter. Die Konsequenz des Übergangs liegt in einer Grundhaltung, die Freiräume des Denkens und Handels erkundet und die ob der Rationalisierungstendenzen in der Moderne schwindelt. Diesen Weg von den Freiheiten einer sozialen und künstlerischen Avantgarde ins Religiöse oder Mystische sind andere Autoren vor und nach Morgenstern auch gegangen. Aus dem frühromantischen Ausbruch aus den Zwängen der Vernunft in den Glauben und die Mystik etwa Clemens Brentano oder August Wilhelm Schlegel, aus dem Überbietungsgestus der Moderne in den Glauben etwa Hermann Bahr oder Hugo Ball, aus der Kritik in die Mystik Fritz Mauthner. Im historischen Abstand von hundert Jahren sollte heute der ganze Morgenstern aus historischer Perspektive in den Blick genommen werden: der Vorreiter der Avantgarde und der Anthroposoph. Diesen Anspruch versuchen die hier versammelten Aufsätze einlösen.
Der erhebliche Eindruck, den die Philosophie Nietzsches auf Morgenstern machte, ist ein durchaus bekanntes Phänomen, wobei allerdings häufig die Frage unterbleibt, wie genau sich dieser Einfluss denn ausgewirkt hat und wie die bei Morgenstern zu verzeichnenden produktiven Adaptionsprozesse präzise zu beschreiben sind. Das Schlagwort von der »Umwortung der Worte« zählt zu den berühmtesten und besonders markierten Bezugnahmen. Ernst Kretschmer geht in seinem Beitrag Christian Morgenstern und die »Umwortung der Worte« zunächst der Frage nach, wie und wann genau denn diese Spur der Nietzsche-Rezeption bei Morgenstern sich nachweisen lässt, um an den Galgenliedern und am Palmström zu demonstrieren, wie sich dieses Prinzip auswirkt. Kretschmer konstatiert hierbei eine Dynamisierung des Verhältnisses von Signifikat und Signifikant, die vor allem in den Neologismen ihre Potenziale entfaltet. Darüber hinaus legt Kretschmer dar, welche sprachphilosophischen und -kritischen Implikationen – und damit letztendlich auch ethische – damit verknüpft sind.
Auch der nächste Beitrag schließt an die sprachkritischen Überlegungen um 1900 als Grundlage des Morgenstern’schen Dichtens an. In seinem Aufsatz Der beleidigte Pathetiker im Spiegelkerker. Morgensterns Sprachmythologie im Kontext von Friedrich Nietzsche und Fritz Mauthner unternimmt Tobias Krüger den Versuch einer Situierung von Morgensterns Sprachkonzeption zwischen den beiden großen Polen der Sprachkritik der Jahrhundertwende. Anders als in der Morgenstern-Forschung bislang üblich, betont Krüger eine stärkere Distanzierung Morgensterns zu Nietzsche, gerade weil Morgenstern das Verhältnis von Spiel und Ernst umkehrt und er auch noch der überbordendsten Phantasie eine »Nabelschnur zur Wirklichkeit« attestiert, wobei allerdings der spezifische Umgang mit der Sprache Ausdruck des Weltverhältnisses des Individuums sei. Einmal mehr erscheint Morgensterns Poetologie in ihrer Radikalität als eine auch philosophisch valide Alternative im Laboratorium der Moderne.
Auf Morgensterns mit avantgardistischen Mitteln formulierten epistemologischen Gültigkeitsanspruch bezieht sich auch der daran anschließende Beitrag von Monika Schmitz-Emans, Die Physiognomien der Satzzeichen bei Christian Morgenstern. Im Rekurs auf Theodor W. Adornos Essay über Satzzeichen analysiert Schmitz-Emans die Spielräume, die durch...