Kapitel 2
Zwei Mal mit derselben Geranie
»Guten Tag. Mein Name ist Michael Blume. Ist Zehra zu Hause?«
Vor der Tür der Familie Tayanc steht ein Schüler. Ein schmaler, etwas unsicher wirkender Deutscher. Vielleicht 17, höchstens 19 Jahre alt. Er hält eine weiße Geranie in der Hand und wirkt – nun ja, halb zögerlich, halb forsch entschlossen. Mutter Türkan Tayanc hat in der Küche Auberginen geschnippelt, wischt die Hände an ihrer Schürze ab und lächelt: »Kommen Sie doch rein.«
War dieser Junge nicht vor Jahren schon mal bei ihnen gewesen, nur kurz, aber angenehm in Erinnerung? Als Zehra noch aufs örtliche Gymnasium ging und sie ihm für den Ethikunterricht einen deutschsprachigen Koran ausleihen sollte?
»Wer ist es?«, ruft Papa Osman aus dem Wohnzimmer.
»Blume, Michael Blume«, wiederholt der junge Mann, bleibt aber im Hausflur stehen. Er hat ja auch noch nie einen türkischstämmigen Vater nach dessen Tochter gefragt. »Ich bin mit Zehra in der Jungen Union. Also der CDU-Jugend, verstehen Sie? Ich wollte mal fragen …«
Mutter Türkan unterdrückt ein Kichern. Wer zittert mehr – die Blume oder der Blume?
»Zehra ist mit ihrer Klasse im Landschulheim«, sagt sie. »Die machen da irgendein Spiel, irgendwas Militärisches.«
»Was Militärisches? Vom Mädchengymnasium aus? Mit den Nonnen?«
»Ich weiß es auch nicht so genau. Sie ist jedenfalls bis Mittwochabend im Schwarzwald.«
»In Oppenau«, ergänzt der inzwischen hinzugekommene Herr Tayanc. Auch er schmunzelt. Einen jungen Mann, der sich um richtiges Benehmen bemüht, will er nicht verschrecken. Er reicht Michael die Hand und holt ein »Willkommen« nach. Doch Michael hat einen Ort gehört. Und schon einen Entschluss gefasst. Die Geranie hält er kopfüber nach unten wie einen Regenschirm.
Vielleicht gibt es diesen Typ Mann ja in jeder höheren Schulklasse, an allen Universitäten und in jedem Lehrbetrieb: ein meist unauffällig gekleideter, zurückhaltender, bisweilen graumäusig wirkender Junge, der sich die Wertschätzung seiner männlichen Kumpel nicht mit Körperstyling, Sportlichkeit, Draufgängertum oder Trinkfestigkeit erwirbt, sondern der durch sprachgewandte Klugheit, Engelsgeduld und eine schier unerschöpfliche Hilfsbereitschaft beliebt ist. Bei den meisten jedenfalls. Man muss ihn nicht bewundern, vielleicht muss man ihn nicht mal bevorzugt mögen, aber – man kann ihn gebrauchen. Gebrauchtwerden ist ihm ohnehin Liebesbeweis genug.
Na ja, meistens. Mit Freundlichkeit und Fleiß hat er sich etwas Ansehen und Autorität unter Gleichaltrigen erarbeitet. Er markiert nicht den Halbstarken, aber seine eher leise Stimme hat Einfluss. Und den übt er aus. Ganz ohne Machtspiele oder -posen.
Mögen andere Männer kurz vor zwanzig »ein Testosteronfass auf zwei Beinen« sein, wie der Biolehrer manchmal spottet – für viele Mädchen ist Michael eher der »beste Freund«. Kein geschlechtsloses Wesen, aber doch jemand, der hoch über den kleinlichen Irrungen und Wirrungen der Liebe steht. Ein Junge, von dem keinerlei Bedrohung ausgeht, den sie aber auch nicht als Lover begehren. Obwohl sie ständig seine Nähe suchen. Dem sie ihren Liebeskummer mit anderen Kerlen klagen und dem sie ihre Geheimnisse anvertrauen. Weil er so viel Verständnis, so viel Besonnenheit ausstrahlt. Und weil er vernünftig ist, ohne deshalb oberlehrerhaft zu sein.
Ein bisschen hört man die Wunde jener Jahre noch, wenn Michael zurückblickt: »Ich war für die Mädels nicht cool genug, nicht chic, nicht so richtig vorzeigbar. Aber ich war immer gut genug, sich bei mir auszuheulen. Das schmerzte, aber es spornte auch an.«
Michael Blume ist in der Abiturklasse seines Gymnasiums einer der Besten, er ist computerkundiger als die meisten, er ist Spielleiter bei gemeinsamen Fantasy-Abenteuern an Rollenspieltischen und in der Cyberwelt. Worüber auch immer diskutiert wird – er hat zu allem schon mal was gelesen, wartet aber, bis er gefragt wird. Andere mögen kräftiger, drahtiger, cooler sein, das akzeptiert er. Aber wenn er redet, hört man ihm zu. Sogar Lehrerinnen, Gruppenleiter Kommunalpolitiker und sonstige Erwachsene tun das und nehmen ihn ernst, ohne ihr Interesse herablassend zu heucheln.
Zehra Tayanc besucht ein privates katholisches Mädchengymnasium. An den Wochenenden ist sie in der Jungen Union engagiert. Michael ist der Ortsvorsitzende, wer sonst.
Ja, sie hat schon manches Mal ein Auge auf ihn geworfen, Ja, auch sie ist ihm schon oft aufgefallen. Aber: »Er hat ja eine Freundin. Und er ist nicht gläubig. Ich bin aber muslimisch. Also wird’s nix. Schade«, erinnert sich Zehra an ihre Gedanken und Gefühle damals.
Die eine Vermutung stimmt zu dem Zeitpunkt nicht mehr, die andere noch nicht.
»Damals ging ich mit einem Mädchen aus. Im Kino tauschten wir den ersten Kuss. Ich war high, dachte, das wird etwas Großes. Aber auf dem Heimweg bummelten wir an einem übel riechenden Bettler vorbei. Weil ich mein Glück einfach teilen wollte, gab ich ihm etwas. Doch sie regte sich maßlos auf, schimpfte und spottete über diesen Menschen, nannte ihn Penner. Und ich spürte: ›Das war’s. Aus. Ende. Feierabend. Was taugt ein Kuss, wenn er das Herz nicht wärmt? Wenn du eines Tages hilfsbedürftig und unansehnlich wirst, wenn du krank, alt oder arm bist, dann redet die auch so von dir! Es hängt doch wieder alles nur von Leistung ab. Dann ist es aber keine Liebe. Also mach Schluss. Lieber heute als morgen.‹«
Ein Abend, ein Kuss, dabei bleibt’s. Michael ist wieder einsam und innerlich bitterer als zuvor. Und dem Bettler im Grunde noch dankbar für seine Warnung vor einer »Liebe«, die von Erfolg und Leistung abhängig wäre.
Er glaubt an die Liebe. Ein Romantiker mit buchstäblicher »Heidenangst«, enttäuscht zu werden. Michael wurde nicht getauft als Baby, er ist konfessionslos aufgewachsen, er wurde nicht konfirmiert. Zehra Tayanc weiß das, denn als beide noch zur selben Schule gingen, in der neunten bis zehnten Klasse, waren sie u.a. deshalb gemeinsam im Ethikunterricht gewesen. Weil für sie beide weder der evangelische noch der katholische Religionsunterricht infrage kam.
Jetzt, kurz vor den letzten Pfingstferien des letzten Schuljahres, umweht Zehra eine Melancholie wie seit Teenagertagen nicht mehr. Sie könnte euphorisch, mindestens aber optimistisch gestimmt sein: Ihr St.-Agnes-Gymnasium in der Stuttgarter Innenstadt ist als anspruchsvoll und elitär gefürchtet. Das schriftliche Abitur sei für Zehra gut gelaufen, hört man in der Schülerszene. Trotzdem spürt sie kaum Freude. Michael bekommt das mit. Und entscheidet sich spontan, der eigenen Bedrücktheit zu entfliehen, indem er ihr eine kleine Freude macht.
»Dad, kann ich heute Nachmittag die Karre haben?«
Vater Blume ist irritiert. So einen bemüht coolen Ton schlägt sein Sohn sonst nie an. Michael hat zwar einen Führerschein, ist aber im Gegensatz zu seinen Mitschülern kein bisschen autoversessen. Er fährt selten und demzufolge vermutlich auch unsicher. Eine Mutprobe? Ein Date?
»Hast du nicht Nachmittagsschule?«
»Ja, aber die schwänz ich ausnahmsweise. Ich muss nach Oppenau. Zehra ist dort in einem Landschulheim.«
»Und was ist für diese Sarah so dringend?«
Michael hält eine nicht mehr ganz taufrische Geranie in der Hand.
»Die hier. Keine Ahnung. Ich möchte sie ihr bringen. Heute.«
»Du willst …was?«
»Kann ich nun den Wagen haben, oder nicht? Ich frage nicht oft danach. Also: Ja oder Ja?!«
»Äh, also, ja gut, ich meine, wenn das so ist. Nimm den Schlüssel und behalt die Tankuhr im Auge.«
Warum beugt sich ein Vater der spontanen Schnapsidee seines 19-Jährigen?
»Ich glaube, meine plötzliche Entschlossenheit hat ihn überrumpelt, aber auch positiv überrascht«, interpretiert Michael die Erlaubnis von damals, »ich war der Bücherwurm, der Computernerd, ich war der lesende Streber. Jeder noch so kleine Entschluss von mir wurde vorher hundertmal erwogen, durchdacht, theoretisch geprüft. Wahrscheinlich hatten meine Eltern – das gaben sie später augenzwinkernd zu – insgeheim die Sorge, ich würde noch mit 35 im Hotel Mama hocken. Und jetzt, aus dem Nichts, entscheidet der mal was? Wegen einem Mädchen? Na, dann los.«
Politiksimulationsspiele sind Mitte der 90er-Jahre eine zwar aufwendige, aber vielerorts erfolgreiche Methode, Gymnasiasten die tatsächliche Relevanz von Politik nahezubringen. Der Mauerfall ist bereits ein halbes Jahrzehnt her, Helmut Kohl ist zum vierten Mal für vier Jahre zum Bundeskanzler gewählt worden, die politischen Feuilletons beklagen sein selbstgefälliges Aussitzen drängender Probleme, sprechen von Stillstand und Reformstau im Land. Wo es wenig Hoffnung auf Veränderungen gibt, wenden sich viele Jüngere ab. Grüne und Linke spotten, der ganze Bundestag sei momentan ein Politik-Simulationsspiel.
Wer zwischen 16 und 20 ist, interessiert sich mit Sicherheit mehr dafür, warum »Nirvana«-Frontmann Kurt Cobain Selbstmord begangen hat, warum »Oasis« 2,5 Millionen Eintrittskarten für zwei Open-Air-Konzerte verkaufen können, wie das neue Album der »Toten Hosen« klingt und welche Zoten Harald Schmidt in seiner neuen Late-Night-Show raushauen wird. Wenn man es denn schafft, werktags um 23.15 Uhr noch fernsehen zu dürfen …
Aber: Der Bürgerkrieg auf dem Balkan und das Massaker von Srebrenica im Juli 1995, als Radovan Karadzic und Ratko Mladic mehr als 8000 meist muslimische Bosnier ermordeten, hat auch naturgemäß desinteressierte Jugendliche aufgeschreckt....