Besuch an einer Schule – statt eines Vorwortes
Es gibt so etwas wie einen Standard-Eindruck von Schulen quer durch Europa. Dazu gehört die Architektur, aber noch vieles mehr: Akustische und optische Eindrücke, ja sogar Gerüche sind schultypisch.
Zum Standard gehört die oft beträchtliche Lautstärke am Morgen, wenn sich die Klassen füllen, vor allem dann in den Pausen und wenn um dreizehn Uhr ein paar Dutzend oder ein paar Hundert Schülerinnen und Schüler den Ort ihrer Bildung verlassen. Die Abschnitte eines Schulalltags werden fast ausnahmslos von Schulglocken markiert, die schrillen, bellen oder harmlos als Gongschläge daherkommen. Zum Standard gehört auch die Stille während der Unterrichtszeit. Kaum zu glauben: Da sind fünfzig oder auch vierhundert Schülerinnen und Schüler in einem Gebäude, durch dessen Gänge man geht – und es ist still. Fast still. Meistens. Nicht selten mucksmäuschenstill. Zum Standard gehören ebenso die geschlossenen Klassentüren, die verhindern, dass Geräusche nach außen dringen. Was sich da abspielt in der Unterrichtszeit, erschließt sich dem Besucher oder der Besucherin einer Schule, der oder die eine Schule durchwandert, überhaupt nicht. Was der Besucher oder die Besucherin wahrnimmt, das ist die Anordnung der einzelnen Klassen nach einem strengen Ordinalsystem: Auf die 1A folgt die 1B, dann die 2A und die 2B und so weiter.
Zum Standard gehören auch die mit den Werken der Schülerinnen und Schüler gestalteten Wände und Treppenhäuser. Hier wird mehr oder weniger liebevoll, mehr oder weniger abwechslungsreich die Arbeit ausgestellt, die an der Schule geleistet wurde. Aber es ist immer nur ein höchst schmaler Ausschnitt der Arbeit, meist nur aus dem bildnerischen Bereich und von diesem selbstverständlich nur die schönen und guten Produkte – was jemand aus welchen Gründen auch immer dafür hält. Vom Lernen sieht man da wenig.
Die Volksschule Innere Stadt in Innsbruck ist anders. Ganz anders. Der Besucher oder die Besucherin kommt über die Freitreppe von außen in den ersten Stock. Von Westen fällt durch die Glasfassade viel Licht in die Aula; auf der Ostseite sind vier Klassen untergebracht. Im zweiten Stock dann noch einmal sechs Klassen.
Wenn ich während der Unterrichtszeit komme, was meistens der Fall ist, bin ich immer wieder – auch nach dem fünfzigsten Besuch – erstaunt, ja verblüfft: Alle Klassentüren stehen offen. Die große Aula ist sozusagen der verlängerte Klassenraum für alle, besser: der vergrößerte Arbeitsplatz für die Schülerinnen und Schüler. Da sitzen zwei oder drei um einen Tisch und beschäftigen sich mit Arbeitsmaterial. Da liegen vier am Teppich und arbeiten, da hockt einer oder eine allein und memoriert etwas – hochkonzentriert. Ein Blick durch die offenen Türen in die Klassenräume: Ja, selbstverständlich arbeiten auch dort Buben und Mädchen, aber nachdem nicht wenige in die Aula ausgewichen sind, scheinen die Klassenräume meist halbleer, obwohl in jeder Klasse auch bis zu 24 Kinder sitzen.
Und – dies ist der zweite höchst ungewöhnliche Eindruck beim Besuch dieser Schule – es ist immer ruhig, sehr ruhig. Aber nicht still, und schon gar nicht mucksmäuschenstill. Das ist noch etwas, was mich immer wieder überrascht: Die ruhige Arbeit der Kinder, die an den allermeisten anderen Schulen oft nur mit Mühe durch das Dirigat von Lehrerinnen und Lehrern herbeigeführt und auch nicht selten nur mit Mühe aufrechterhalten wird, funktioniert hier wie von alleine. Alle Schülerinnen und Schüler arbeiten konzentriert an ihren Aufgaben, und die Lehrerinnen sind auf den ersten Blick kaum auszumachen. Buben und Mädchen sprechen miteinander, Lehrerinnen sitzen bei Lerngruppen oder bei Einzelnen und geben Hilfen und Hinweise, aber alle immer so leise, dass man aus einem Meter Entfernung kaum etwas davon versteht. Wenn ich die Volksschule Innere Stadt betrete, sehe ich Lernen. Und das wirkt nicht gekünstelt oder gedrillt, muss nicht unter Kontrolle gehalten werden, schon gar nicht unter Androhung von Sanktionen, sondern ist einfach ganz natürlich da.
Nein, selbstverständlich funktioniert das nicht von alleine, also „automatisch“ – es funktioniert, das ist immer wieder mein Eindruck, weil die Schülerinnen und Schüler hier offenbar gerne lernen, d .h. sich gerne mit den Aufgaben beschäftigen, die sie vor sich haben.
Ich sehe immer wieder Schülerinnen und Schüler, die – ohne von einer Lehrerin dazu aufgefordert zu sein – sich neue Arbeitsmaterialien holen. Ich sehe die Lehrerinnen meistens auf gleicher Augenhöhe neben den Kindern sitzen und etwas erklären. Ich sehe immer wieder auch Schülerinnen und Schüler, die sich vielleicht gerade etwas erholen, die ihren Gedanken nachhängen. Vielleicht hat ihr Meerschweinchen heute Morgen Junge bekommen, oder die Eltern hatten gestern Abend einen bösen Streit. Auch Kinder haben ihre Sorgen und arbeiten nicht immer in höchster Konzentration. Aber ich habe noch nie eine Lehrerin erlebt, die sie deshalb zurechtwies, anherrschte oder antrieb. Ich habe an dieser Schule noch nie erlebt, dass Buben oder Mädchen sich bewusst der Arbeit ganz entzogen oder diese gar verweigert hätten, dass Kinder durch die Klasse gebrüllt hätten oder dass sie andere bei der Arbeit absichtlich gestört hätten. Nie. Das ist der Hauptgrund, warum ich die Volksschule Innere Stadt in Innsbruck immer wieder gerne besuche und mich jedes Mal freue, wenn ich über die Freitreppe in den ersten Stock hinauf steige – dem Lernen entgegen, sozusagen. Offenbar lernen hier Kinder gerne, freiwillig und auch höchst erfolgreich, wie ich inzwischen weiß.
Von alleine geht das selbstverständlich nicht. An dieser Schule wird vielmehr ein hervorragendes, auch wissenschaftlich gut begründetes Konzept umgesetzt, das im Abschnitt Grundlagen näher beschrieben wird. Entwickelt und umgesetzt wird dieses pädagogische Konzept von den Lehrerinnen, die an dieser Schule arbeiten. Ich schätze diese Damen ganz außerordentlich, auch weil sie so selbstverständlich gegen den Mainstream arbeiten.
Das ist der große Unterschied der Volksschule Innere Stadt zu den meisten anderen Schulen. Es gibt aber noch ein paar andere Unterschiede: Eine Schulglocke gibt es – wen verwundert das? – nicht. Die Hektik am Morgen und in den Pausen ist bei weitem nicht so groß wie in anderen Schulen, auch der Lärmpegel nicht. Ich habe auch noch nie eine Lehrerin schreien gehört. Auch in den Pausen wird nicht gerempelt, gelärmt, geschubst und geschrien. Wobei es aber schon auch Ausnahmen gibt.
Dabei ist die Volksschule Innere Stadt eine normale Sprengelschule, die von Schülerinnen und Schülern aller sozialen Schichten, von mehr als 30 verschiedenen Nationalitäten und neun verschiedenen Konfessionen besucht wird. Die Klientel der Schule ist dieselbe wie die einer anderen Volksschule in einer anderen österreichischen Landeshauptstadt.
Anders ist an der Volksschule Innere Stadt auch die Bezeichnung der Klassen: Da herrscht kein Ordnungsprinzip; hier gibt es unter anderem eine Regenbogen-Klasse, eine Raben-Klasse oder auch eine Pinguini- oder Topolini-Klasse.
„Schöne“ Schülerarbeiten sieht man an dieser Schule kaum. Nicht auf den Gängen, nicht in den Klassen. Dafür wäre auch kaum Platz. Alle Wände sind mit Regalen verbaut, in denen die Arbeitsmaterialien für die Schülerinnen und Schüler übersichtlich geordnet sind. In der Halle ist auch wenig Platz für solche; der Platz reicht gerade, um die Preise und Auszeichnungen auszustellen, die die Schule schon gewonnen hat. Da ist es nicht verwunderlich, dass der Schulversuch bilinguale Klassen gerade an dieser Schule angesiedelt ist. In diesem pädagogischen Konzept hat er einen guten und sicheren Platz.
Immer mehr Kinder wachsen heute mit zwei Muttersprachen – besser – mit einer Mutter- und einer Vatersprache auf. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen ermöglichen oder erzwingen eine weitaus höhere Mobilität der Menschen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dabei war Gesamttirol vor dem Jahr 1918 bereits ein bilinguales Land; in den südlichen Landesteilen war die Verwendung des Deutschen und des Italienischen nebeneinander Normalität. Das kehrt heute wieder ein kleines Stück weit zurück. Im Raum Innsbruck leben heute aus den unterschiedlichsten Gründen immer mehr Familien, in denen einer der beiden Elternteile aus dem italienischen Sprachraum und der andere aus dem deutschen stammt. Solche Kinder wachsen also bilingual auf, wobei immer eine der beiden Sprachen die aktuell dominantere als die andere ist. Darauf sind die Schulen in Österreich aber nicht vorbereitet; der Unterricht findet – mit Ausnahme des Fremdsprachenunterrichts – ausschließlich auf Deutsch statt.
Im Jahr 2005 wurde zwischen der Provinz Trient in Italien und dem Bundesland Tirol ein Staatsvertrag abgeschlossen, der vorsieht, dass in Trient und Innsbruck jeweils eine Grundschule eingerichtet wird, in der der Unterricht bilingual – deutsch und italienisch – erfolgt. In der Volksschule Innere Stadt unterrichten in vier von zwölf Klassen neben den jeweiligen Klassenlehrerinnen jeweils weitere zwei Lehrerinnen aus der Provinz Trient; elf...