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E-Book

Eine Nacht in Kabul

Unterwegs in eine fremde Vergangenheit

AutorUlrich Ladurner
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783701742462
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Was haben wir in Afghanistan verloren? Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt Die Afghanen haben im Laufe ihrer Geschichte die kalte Klinge der Geopolitik immer wieder zu spüren bekommen. Ihr Land war das Schachbrett, auf dem die Großmächte ihre Kräfte maßen, Russland und England im 19. Jahrhundert, die Sowjetunion und die USA im 20. Jahrhundert. Das große Spiel wurde auf dem Rücken der Afghanen ausgetragen. Die Attentate vom 11. September 2001 machten Afghanistan zum Gegenstand eines Experiments der Beglückung durch den Westen: Bomber plus Menschenrechte plus Rechtsstaat plus Demokratie ist gleich das Paradies auf Erden. Auch Ulrich Ladurner kam im Gefolge einer Armee, die interveniert hat und mehr und mehr Soldaten schickt. Er beobachtete, wie das neue gegen das alte Afghanistan kämpft, das Afghanistan, das keinen Krieg mehr will, gegen das Afghanistan, das ohne Krieg nicht leben kann. Seine Reisen führten ihn in ein Land voller Gegensätze, auf den Spuren von Eroberungen und Niederlagen. Er berichtet von den Schauplätzen in diesem Krieg, in dem die zentralen Werte des Westens beschädigt werden. Und er blickt zurück in die lebendige Vergangenheit eines alten Schlachtfeldes, das Europäern und Amerikanern zur Obsession wurde. Ein Geschichts- und Geschichtenbuch über Feindbilder und die Macht der Erinnerung, als Antwort auf die provokante Frage, was wir in Afghanistan eigentlich verloren haben.

Ulrich Ladurner Ulrich Ladurner, geboren 1962 in Meran/Südtirol, studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Innsbruck. Seit 1999 berichtet er als Auslandsredakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT aus Irak und Iran, Afghanistan und Pakistan. Er lebt in Hamburg.

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Leseprobe

1


Es ist kurz vor Mitternacht, als das Licht in meinem Zimmer erlischt. Ich bleibe am Schreibtisch sitzen und warte, den Stift in der Hand, über die Karte von Afghanistan gebeugt, die ich mir gekauft habe, als ich zum ersten Mal in dieses Land kam. Sie ist übersät mit Kreisen und Strichen, die ich im Laufe der Jahre gemacht habe, um Städte, Dörfer und Weiler hervorzuheben: Tarin Kowt, Musa Qala, Spin Boldak, Shindand, Salang, Sang-e-Talkh, Kundus, Kandahar, Herat, Ghazni, Khost. An manchen dieser Orte bin ich mehrmals gewesen, an anderen nur einmal, an den meisten aber nie, weil es zu gefährlich war oder weil mir der Mut fehlte, sie zu besuchen. Wenn das Licht wieder zurückkommt, denke ich, werde ich die Orte, an denen ich nie war, mit einem roten Stift markieren, dann werde ich sehen können, wie vieles in Afghanistan mir noch unbekannt ist, was mir alles noch fehlt, um behaupten zu können, ich kennte das Land. Die roten Stellen markieren ein Scheitern.

Im Dunkeln betaste ich die Karte. Das Papier ist inzwischen an verschiedenen Stellen eingerissen, an anderen ist es knittrig und abgenutzt. Es fühlt sich an wie ein matschiges Stück feuchten Kartons, der sich jeden Augenblick auflösen kann. Alles in allem ein unbrauchbarer Gegenstand. Trotzdem habe ich diese Karte nicht gegen eine neue eingetauscht, sondern immer bei mir getragen, eng an meinem Körper, in einer Seitentasche meiner Jacke, oder in meiner Tragetasche, sicher verstaut und doch so, dass ich schnell auf sie zugreifen konnte wie auf eine lebensrettende Medizin. Manchmal, wenn ich gerade wieder einmal nicht recht wusste, wo ich war und wohin ich wollte, nahm ich sie mit den leise gesprochenen Worten hervor: »Schauen wir mal, was du sagst!«, so vertraut war sie mir, so selbstverständlich war mir ihre Anwesenheit, dass ich sie behandelte wie einen Menschen, der sprechen und denken kann. Und tatsächlich, wenn ich mich auf sie einließ, wenn ich sie betrachtete wie jemanden, der trotz seiner Stummheit etwas zu sagen hat, sprach sie zu mir: Shindand, Shindand, Shindand. Sie wiederholte ihre Worte so lange, bis ich einen Klang vernahm, der mich auf etwas verwies, das hinter diesem Wort liegt, ein Afghanistan, das weniger ein fest umrissenes Gebiet war, sondern ein unbekannter Raum, der erst Ende des 19. Jahrhunderts den Namen »Afghanistan« bekam – und selbst danach blieb umstritten, wo denn die Grenzen dieses Gebildes lagen und was das denn für Menschen waren, die darin lebten.

In der Dunkelheit meines Zimmers lasse ich mich treiben von der Karte und den auf ihrer rissigen Haut aufgedruckten Namen. Shindand, Shindand, Shindand, murmele ich vor mich hin. Die Worte spannen sich wie das Fell einer Trommel und antworten auf jeden Schlag meiner Zunge mit einem dunklen Dröhnen, das mich immer weiter hinein lockt in diesen namenlosen Raum, in dem ich hoffe, Afghanistan zu finden, denn das ist es ja, was auf der Karte steht: Afghanistan.

Schließlich, gefangen in einem Wachtraum, sehe ich eine Karawane über den Fluss Indus setzen. Sie zieht sich über fast drei Kilometer dahin und schiebt sich langsam und beharrlich auf Peshawar zu, die Sommerresidenz des afghanischen Königs Shah Shuja. Sie besteht aus einem Dutzend Offizieren, Hunderten Fußsoldaten, mehr als hundert Kavalleristen, dreizehn Elefanten und zweihundert Kamelen. Es ist der 13. Oktober 1808, Herbst, doch die Erde ist noch trocken vom heißen Sommer. Staub umhüllt die Karawane und verwischt ihre Konturen. Wer sie von Weitem sieht, kann den Eindruck bekommen, dass sich hier ein riesiger Wurm durch die fruchtbare Ebene Punjabs frisst. Tatsächlich ist es der Zweck dieser Karawane, alles in sich aufzusaugen, was man nur aufsaugen kann über dieses Reich jenseits des Indus, das Reich Durrani des Shah Shuja. Sie bildet die erste offizielle diplomatische Mission, die die Briten in das Land der Afghanen entsenden. Angeführt wird sie von Mountstuart Elphinstone, neunundzwanzig Jahre alt, Spross eines schottischen Adelshauses, weltgewandt, gebildet, von großem Fleiß und unbändiger Neugier, alles in allem ein prächtiger Sohn des machtvollen britischen Empires. Er hat sich in Indien bereits eine Reihe von Meriten erworben, und nun steht er vor einem weiteren Karrieresprung. Elphinstone kommt im Auftrag der Ostindischen Kompanie, die sich in den vergangenen Jahrzehnten den indischen Subkontinent nach und nach unterworfen hat und nun ihre Fühler ausstreckt, um die Gegend jenseits des Indus zu erfassen. Fast zeitgleich mit dem Aufstieg der Kompanie war das Reich der Durrani in Hader und Streit versunken. Nichts mehr erinnert an die furchterregende Kraft, die noch ihr Gründer, Ahmed Shah Abdali, ausgestrahlt hatte. Der Leibwächter des persischen Herrschers Nadir Shah war nach dem gewaltsamen Tod seines Herrn 1747 in seine Heimat Kandahar zurückgekehrt. Dort riefen ihn Tausende Männer in aller Öffentlichkeit zum ersten König der Afghanen aus, woraufhin Shah Abdali daran ging, sich Stücke aus dem riesigen Körper des Subkontinents zu reißen und sein eigenes Reich zu gründen, das Reich der Durrani. Die Moguln – die Herrscher Indiens – konnten dem wenig entgegensetzen. Sie waren zu schwach geworden. Abdali konnte in Nordindien einfallen, ungestraft Delhi ausrauben und Tributzahlungen verlangen. Sein Reich nährte sich von Plünderungen. Als Abdali starb, kam es zu einem Streit unter seinen Söhnen, der das Königreich lähmte und zerriss. Nach seinem Tod öffnete sich jenseits des Indus buchstäblich eine Lücke. Die Briten wussten nichts Genaueres darüber, was dort, in dieser Leere, vor sich ging. Die Ostindische Kompanie war besorgt. Ihre Männer waren darin geschult, in großen Zusammenhängen zu denken und ihr Handeln in einen geostrategischen Kontext zu stellen. Indien wurde gerade zur Perle des britischen Empires. Sie galt es zu bewahren und zu schützen. Die Männer der Kompanie studierten die Landkarten und fragten sich: Woher droht uns Gefahr?

Im Norden des Subkontinents steht der unüberwindliche Himalaya, im Osten befindet sich die undurchdringliche grüne Mauer des südostasiatischen Dschungels, das Meer, das Indien auf drei Seiten umspült und über das Eroberer jederzeit kommen könnten, ängstigt die Männer der Kompanie nicht. Denn auf den Meeren herrscht unumstritten die Flotte Seiner Majestät. Gefahr kann demnach nur aus dem Westen kommen, aus der Landmasse, die man Afghanistan zu nennen begonnen hat. Sind nicht all die Eroberer, von Alexander dem Großen über die Timuriden bis zu Shah Abdali, über den Khyberpass gekommen und in Indien eingefallen?

Je weniger die Kompanie über Afghanistan wusste, desto größer war ihre Sorge. Sie galt allerdings nicht so sehr den Afghanen, sondern konkurrierenden europäischen Mächten, die Afghanistan nutzen könnten, um dem britischen Empire zu schaden. Als Elphinstone 1808 zu seiner Erkundungsreise aufbrach, befand sich England im tödlichen Kampf mit dem französischen Kaiser Napoleon. Es erschien den Briten daher nur natürlich zu glauben, dass Frankreich versuchte, in Afghanistan Einfluss zu gewinnen. Die Tatsache, dass der Arm des napoleonischen Frankreichs gar nicht nach Kabul oder Peshawar reichen konnte, weil er nicht stark genug war, änderte nichts an der Gefahrenanalyse. Das Vakuum Afghanistan empfanden die Briten per se als Bedrohung. Es könnte, wenn man nicht wachsam war, immer von Feinden genutzt werden, um von dort aus einen Schlag zu führen. Afghanistan wurde zur Obsession der Briten. Jedes Gerücht, dass in Herat, in Kabul oder gar in Peshawar Franzosen gesichtet worden seien, löste im Tausende Kilometer entfernten Verwaltungsgebäude der Kompanie größte Unruhe aus. In Kalkutta notierten die Beamten des Empires die Nachrichten aus dem Westen, trugen sie weiter, von Büro zu Büro, wo sie zusammengefasst und ausgewertet wurden, bis sie schließlich auf dem Tisch des Gouverneurs landeten, der sie mit größter Aufmerksamkeit las. Nichts sollte ihm entgehen. So empfindlich und ängstlich war das Imperium. Es war wie ein riesiges, mächtiges Tier, das sich vor dem Dunklen fürchtete und nicht mehr unterscheiden konnte zwischen einer echten Gefahr und den Gespenstern, die nichts weiter waren als das Produkt der eigenen Furcht. Aus diesem Dunkel heraus blickten die entstellten Gesichter all jener, die das Imperium im Zug der Eroberung unterworfen, gedemütigt, ums Leben gebracht hatte. Jenseits des Indus hatten sie Asyl gefunden. Sie streckten die Zungen heraus, fletschten die Zähne, rollten die Augen, schimpften, spuckten und höhnten, sodass es den Männern der Ostindischen Kompanie kalte Schauer über den Rücken jagte. Afghanistan war wir eine Leinwand, auf der die Ängste der britischen Herrscherseele sich abbildeten und lebendig wurden.

Im fernen Westen trieben auch Deserteure der Kompanie ihr Unwesen. Sie waren nicht auf Rache aus oder Wiedergutmachung, sie suchten nach Gelegenheiten, Geld zu verdienen. Je erfolgreicher die Kompanie war, je mehr Schlachten sie auf dem militärischen Feld gewann, desto mehr wuchs unter den von den Briten noch unabhängigen Herrschern des Subkontinents der Bedarf nach militärischen Kenntnissen der Europäer. Ranjit Singh, König der Sikh, suchte gezielt nach Offizieren, die seinen Soldaten beibringen konnten, wie man moderne...

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