1. Kapitel
Kindheit und Jugend
1.
„Zehn Jahre jünger müsste man sein …!“, sinnierte der vom Alter und seiner schweren Krankheit gezeichnete Bruno Kreisky in einem unserer letzten Gespräche, wenige Tage nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. Mit resigniertem Bedauern über seine altersbedingte Gebrechlichkeit, jedoch geistig auf der Höhe der Zeit, verfolgte der bedeutendste Staatsmann der Zweiten Republik die sich überstürzenden politischen Ereignisse der historischen Zeitenwende 1989.
Wenige Monate später, am 29. Juli 1990, ist er neunundsiebzigjährig in seiner Geburtsstadt Wien gestorben. Der Kalte Krieg, der Kreiskys mehr als dreißigjährige politische Karriere als Staatssekretär und Außenminister, Parteichef der SPÖ und Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, Führer der Opposition und am längsten dienender Bundeskanzler der Republik Österreich geprägt hatte, war mit dem Fall der Berliner Mauer zu Ende gegangen. Der Zerfall des sowjetischen Imperiums, das Ende des großen Ringens der Ideologien zwischen Ost und West war aber nicht bloß der letzte Bruch in einem an biografischen und politischen Umbrüchen reichen Leben. Der Kalte Krieg war auch, so muss man es wohl sehen, der letzte Ausläufer jenes 19. Jahrhunderts, das die Themen des 20. vorgegeben hatte: Nationalismus, Sozialismus, Faschismus. Sie bildeten die ideologischen Konstanten im ereignisreichen Leben Bruno Kreiskys.
2.
Bei seiner Geburt im fünften Wiener Gemeindebezirk, am 22. Jänner 1911, hatte das Habsburgerreich, die k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn, noch knapp acht Jahre, davon vier Kriegsjahre, bis zu ihrem endgültigen Untergang vor sich. Bruno Kreiskys Familienbiografie reicht weit zurück in Geschichte und Geografie dieses multiethnischen Imperiums. „Ich habe mich immer als Ergebnis jenes gewaltigen melting pot gefühlt, der die Monarchie nun einmal war“, hielt Kreisky in seinen 1986 erschienenen Memoiren Zwischen den Zeiten fest, „als Ergebnis einer brodelnden Mischung von Deutschen, Slawen, Magyaren, Italienern und Juden.“ Aber auch das politische Spektrum der Familienmitglieder auf väterlicher wie auf mütterlicher Seite erscheint so uneinheitlich, wie die Donaumonarchie vielfältig war.
Urkundlich erwähnt sind die Kreiskys erst um 1780: als Bewohner des mährischen Ortes Kanitz (Kanice) nahe Brünn. Allerdings gibt es die Theorie einzelner Stammbaum-Forscher, der Familienname Kreisky könnte auf die katalanisch-sephardischen Gelehrten Abraham und dessen Sohn Jehuda Cresques zurückgehen. Sie seien, als König Pedro IV. den Juden 1381 das Tragen des „Gelben Flecks“ verordnete und sie mit der Inquisition bedrohte, in das Königreich Böhmen ausgewandert. Bruno Kreisky betrachtete diese Annahme allerdings mit der für ihn so typischen Skepsis: „Alle Juden wollen Spaniolen sein.“ Er begnügte sich mit der Deutung, das tschechische Wort krajský bedeute „am Kreis“, der Name sei mithin dem um 1780 nachweislich registrierten Jakob Kreisky gegeben worden, nachdem Kaiser Karl VI. 1727 „Familiantengesetze“ eingeführt hatte, um die Zahl der jüdischen Einwohner zu beschränken: In einem Landkreis durfte sich jeweils nur eine behördlich bestimmte Anzahl jüdischer Familien niederlassen.
Jakob Kreisky wurde Hausbesitzer in der Judengemeinde von Kanitz. Er hatte zwei Söhne, die zwei unterschiedliche Linien begründeten: Bernard wurde Lehrer an der örtlichen Schule, sein Bruder Moses aber Berufssoldat, der unter Feldmarschall Radetzky diente. Bernards Nachkommen waren überwiegend Lehrer; es hielt sie nicht in Kanitz, sie zogen nach Böhmen und nach Wien, während Moses’ Nachkommen mehrheitlich politisch konservative Gewerbetreibende, Kaufleute und Techniker waren, die ihre Heimat Kanitz in der Regel nicht verließen.
Benedikt, Bruno Kreiskys Großvater väterlicherseits, den der junge Enkel besonders liebte, wurde Oberlehrer und später stellvertretender Direktor der Lehrerbildungsanstalt Budweis. Seine Gattin Katharina, geborene Neuwirth, war eine der ersten Lehrerinnen Mährens. Das Ehepaar hatte zehn Kinder. In späteren Jahren zogen Brunos Großeltern nach Wien und wohnten im Bezirk Fünfhaus. Benedikt Kreisky war politisch keineswegs sozialistisch eingestellt, er bezeichnte sich als Deutsch-Freiheitlicher und soll nicht selten bemerkt haben: „Gott sei Dank kommen die Sozis nie ans Ruder!“
Benedikt und Katharinas 1876 geborener Sohn Max – Bruno Kreiskys Vater – absolvierte die Höhere Technische Textilschule in Brünn und schaffte den Aufstieg zum Generaldirektor der Österreichischen Wollindustrie und Textil A.G. mit Sitz in Wien. Als angesehener Manager berief man ihn zum Zensor der Österreichischen Nationalbank. Ehe er 1944 im schwedischen Exil starb, leitete er dort noch zwei Jahre lang eine Textilfabrik. Max Kreisky, der nie Sozialdemokrat wurde, war dennoch ein Mann mit sozialem Gewissen, der seine Ideale von Freiheit und Brüderlichkeit bei den Freimaurern1 suchte. Er nahm unter anderem an der Aktion der Industrieangestellten zur Durchsetzung der vollen Sonntagsruhe teil, wurde Mitglied des Zentralvereins der kaufmännischen Angestellten, und es gelang ihm – als Vorsitzendem eines Schiedsgerichts – einen langwierigen Streik zu beenden. Er war ein bürgerlicher Liberaler, ein Mann von vornehmer Gesinnung, der Politik und Kultur seiner Zeit aufmerksam verfolgte, ohne aber über sein standespolitisches Engagement hinaus politisch aktiv zu werden. Als Freimaurer verfügte er über viele Kontakte zu führenden Persönlichkeiten der Hauptstadt, er kannte vermutlich Arthur Schnitzler und verkehrte regelmäßig mit einer Reihe prominenter Journalisten und Intellektueller.
Die Beziehung zu seinem „strengen und gütigen“ Vater beschrieb Bruno Kreisky als innig. Auch wenn sie nicht einer gewissen Sprödigkeit entbehrte, hatte er ihn „sehr gern“. Wohl auch deshalb, weil der Vater der politischen Betätigung seines Sohnes viel Verständnis entgegenbrachte. In der Zeit der illegalen politischen Aktivitäten des jungen Kreisky und seiner damit verbundenen Inhaftierung durch die Austrofaschisten sollte diese tolerante Haltung des Vaters eine ernste Bewährungsprobe erleben.
Kein Wunder, dass der andere Kreisky-Zweig, die Nachkommen von Moses Kreisky, ihre Verwandten gerne als „die Roten“ bezeichneten: Rudolf Kreisky, Max Kreiskys jüngster Bruder, war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und leitender Funktionär der sudetendeutschen Konsumgenossenschaften. „Er war in meinen Augen der hervorragendste und derjenige, der mich eigentlich zur Sozialdemokratie hingeführt hat, soweit es noch eines Hinführens bedurfte“, erinnert sich Bruno Kreisky in seinen Memoiren. Der beginnende industrielle Kapitalismus produzierte Wohlstand, die Dynamik der Veränderung schuf aber auch neue soziale Fragen, die der junge Bruno in den frühen zwanziger Jahren auf den Fußwanderungen mit seinem Onkel in den verelendeten Dörfern des Böhmerwaldes und des Riesengebirges kennenlernte. Das angewandte Modell der Genossenschaften, wie es Rudolf Kreisky vertrat, schärfte den Blick des Kindes aus wohlhabendem Haus für die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Ungleichheit. Rudolf überlebte den Zweiten Weltkrieg in England und kehrte nach Kriegsende nach Prag, später nach Wien zurück, wo er 1966 starb.
Zwei Brüder von Max Kreisky, Oskar und Otto, Lehrer der eine, Advokat der andere, waren Mitglieder einer schlagenden Verbindung und machten aus ihrer deutsch-freiheitlichen Einstellung nie ein Hehl. Ein dritter deutsch-freiheitlicher Onkel Bruno Kreiskys, Ludwig, auch er Lehrer, setzte sich mit Nachdruck für die Erhaltung des Deutschtums in Böhmen ein. Oskar Kreisky gelang die Flucht nach Amerika, wo er ein jüdisches Behindertenheim leitete. Er kam 1955 nach Wien zurück, behielt aber bis zu seinem Tod im Jahre 1976 die amerikanische Staatsbürgerschaft bei. Ludwig und Otto hingegen wurden trotz ihrer deutschfreundlichen Gesinnung – in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten umgebracht.
Fünfundzwanzig seiner engsten Verwandten, so errechnete der ehemalige Bundeskanzler, kamen durch den Naziterror um: Sie wurden vergast, verschleppt, vertrieben, erschossen, enthauptet. Kreisky resümierte: „Ich kann sagen, dass meine beiden Familien den Nazismus in seiner grauenhaftesten und umfassendsten Form erfahren haben und dass nur wenige von uns übrig geblieben sind. Über die Welt verstreut, trifft man hier und da den einen oder anderen. Jedesmal, wenn jemand herumzudividieren beginnt, ob das vier oder sechs Millionen gewesen seien, die dem Holocaust zum Opfer gefallen sind, kann ich trotz eines gewissen Verständnisses für die Schwächen der Menschen nur sagen: Von den mir Nahestehenden wurden so viele umgebracht, dass Zahlen mich nicht mehr interessieren.“
Eine Schwester Max Kreiskys, Brunos Tante Rosa, wanderte rechtzeitig nach Palästina...