Wer ist der Islam und wenn ja, wie viele?
Identitätssuche in Köln
Mitte August geht es von Hamburg nach Köln. Für einen kurzen Augenblick sind vor dem Zugfenster die Elbe und der Hamburger Hafen mit seinen Kränen und endlosen Containerreihen zu sehen. Dann franst die Hansestadt aus, und Deutschland wird sehr flach und leer. Windräder wachen wie Riesen über der Landschaft und weisen den Weg nach Nordrhein-Westfalen. Als Norbert Röttgen dort vor ein paar Jahren den CDU-Chefsessel von Armin Laschet übernahm, der damalige Umweltminister sich gegen den damaligen Integrationsminister durchsetzte, machte ein Spruch die Runde, an den ich jetzt wieder denken muss: Windrad gewinnt gegen Minarett. Sie sind für die beiden Politikressorts bis heute tatsächlich die größten Unruhestifter: Deutschland kann sich wahnsinnig aufregen, wenn irgendwo ein Windpark eröffnet werden soll. Mindestens genauso hoch kochen die Emotionen beim Bau einer Moschee. Das Argument, mit dem Islamgegner und Windradbekämpfer einander begegnen, ist die Landschaftsverschandelung. Einen Clou in dieser Hinsicht haben Muslime in Hamburg-Norderstedt gelandet: Ihre Moschee, die gerade entsteht, wird nicht einfach nur zwei Minarette haben. Es werden Minarette mit Windkraftanlagen sein. Theoretisch könnten Islamgegner und Windradbekämpfer also gemeinsam auf die Barrikaden gehen. Da soll noch einmal einer behaupten, der Islam sei keine integrative Kraft.
Es gab einmal eine Zeit in Deutschland, da waren Menschen, die aus der Türkei, aus dem Iran, aus Tunesien oder anderen islamischen Ländern stammen, Gastarbeiter. Sie wurden zu ausländischen Mitbürgern, zu Mitbürgern mit Migrationshintergrund. Mittlerweile sind sie Muslime. Diese religiöse Etikettierung ist erstaunlich, da die Religion für die Mehrheit der etwa 4 Millionen in Deutschland lebenden Muslime nur einen geringen Stellenwert besitzt. Lediglich 37 Prozent von ihnen gaben 2013 zufolge der Bundeszentrale für Politische Bildung an, «stark gläubig» zu sein. Wie kommt es, dass sich die Perspektive auf die Kinder und Enkel der Gastarbeiter so verschoben hat? Die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus hat in ihrem Buch «Wer ist hier Muslim?» (2010) den Weg und dessen Folgen nachgezeichnet.
Die Perspektivverschiebung begann für sie mit dem 11. September. Das Attentat auf das World Trade Center rückte den Islam und Muslime auf die internationale politische, intellektuelle und mediale Agenda. Er offenbarte ein globales Bedrohungspotenzial, ohne das der Islam nicht mehr denkbar schien. Europa begann, sich auf seine christlichen Wurzeln zu besinnen und Begriffe wie Liberalismus, Säkularität und Demokratie in Abgrenzung zum Islam zu diskutieren. Auch die deutsche Politik behandelte innere Fragestellungen von nun an vermehrt unter diesen Vorzeichen: Soziale Konflikte wurden zunehmend als Glaubenskonflikte wahrgenommen und in religiösen Mustern gedeutet. Aus der Migration ist eine Religionsdebatte geworden, die Entwicklung von Parallelgesellschaften wird unter religiösen Vorzeichen diskutiert. Versucht man diese nur theologisch zu erklären, blendet man allerdings Faktoren aus, die für Phänomene wie Zwangsheirat, Ehrenmord und Fundamentalismus vielleicht viel wichtiger sind: Woher stammen die Menschen? Wo sind sie aufgewachsen? Wie wurden sie erzogen? Welchen Bildungsgrad haben sie?
Diskussionen über Wesen und Inhalt des Islams sowie darüber, welche Stellung er in der deutschen Gesellschaft haben sollte, besitzen enormes Erregungspotenzial. Allerdings bewegten erst die Ereignisse, die auf den 11. September folgten, viele Muslime dazu, sich überhaupt als Muslime zu positionieren: der deutsche Kopftuchstreit, die Anschläge in Madrid und London, die Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh in Amsterdam, die Diskussionen um die Einführung eines Leitfadens für Einbürgerungsgespräche in Baden-Württemberg sowie die Moscheebaukonflikte in deutschen Städten. Anstatt sich wegzuducken und die eigenen Wurzeln zu ignorieren, ergriffen auch Muslime das Wort.
In dem Maße, in dem die Anfeindungen wachsen und Muslime sich gezwungen sehen, Stellung zu beziehen, wächst auch die Hinwendung zur Auseinandersetzung mit der Religion, so lautet die These von Riem Spielhaus: Muslime sind nicht einfach Muslime, sondern werden auch zu solchen gemacht.
Für ihre lesenswerte Untersuchung hat die Islamwissenschaftlerin auch den Kölner Navid Kermani befragt. Er ist Muslim und Deutschperser, genauso wie er habilitierter Orientalist, Fan des 1. FC Köln, Vater von zwei Töchtern, Regisseur und Schriftsteller ist. Er verfasst freizügige Bücher über die körperliche Liebe oder schreibt Bücher über den Islam. Er liebt die persische Sprache, verzichtet im Urlaub aber nur ungern auf deutsche Zeitungen. Auch Kermani fand sich irgendwann in der Position wieder, in den Augen vieler Menschen vor allem Muslim zu sein. Diese Reduzierung, die alles, was eine Person sonst noch ausmacht, hinter dem Begriff Muslim zurücktreten lässt, rief auch bei ihm ein Echo hervor, wie er gegenüber Spielhaus beschreibt: «Es ist in der Tat so, dass ich stärker als Teil dieses Kollektivs ‹Islam› agiere. Weil ich zum Teil dieses Kollektivs gemacht werde. Und zwar völlig unabhängig von spirituellen Gründen.»
Die Etikettierung von Mitbürgern als Muslime ist auch deshalb bizarr, weil es den Muslim an sich nicht gibt. Es gibt ihn genauso wenig wie den typischen Christen oder Deutschen. Jeder Muslim wird etwas an sich haben, das typisch muslimisch ist, gleichzeitig wird es Merkmale seiner Persönlichkeit geben, die dem zuwiderlaufen. Spielhaus kann die Frage ihres Titels, wer in Deutschland Muslim ist, deshalb auch nicht in einem abschließenden Sinn beantworten. Ein Gemeinschaftsbewusstsein, das die Muslime in Deutschland oder gar alle Menschen aus muslimischen Ländern prägt, sei nicht feststellbar. Was Muslimsein in Deutschland bedeutet, steht nicht im Koran und kann genauso wenig von islamischen Gelehrten und Organisationen beantwortet werden. Denn Muslime in Deutschland sind kein homogenes Gebilde, als das sie oft vorgestellt werden. Sie sind vergleichbar mit einem Mosaik, dessen Muster und Farben gerade ausgehandelt werden. Ausgehandelt durch die Muslime selbst, aber auch durch Nichtmuslime sowie durch Medien und Politik.
In diesem Sommer 2015, in dem ich meine Reise durch das islamische Deutschland begonnen habe, ist es bisher relativ ruhig in der Debatte um Muslime und den Islam. Antidiskriminierungsstellen melden, dass Fitnessstudios vermehrt Frauen mit Kopftuch einen Aufnahmevertrag verweigern. Gleichzeitig wird wieder ein Burka-Verbot diskutiert. In Frankreich, Belgien und in einem Teil der Schweiz ist die Vollverschleierung in der Öffentlichkeit schon verboten. Julia Klöckner, die Vize-Vorsitzende der CDU, möchte einen Burka-Bann auch in der Bundesrepublik. Denn die Verschleierung, so Klöckner, stehe für ein «abwertendes Frauenbild».
Verschiedene Zeitungen haben die Zahlen für das erste Halbjahr 2015 über Angriffe auf Moscheen und andere islamische Einrichtungen gemeldet. Es hat 23 gegeben. Im Gesamtjahr 2014 waren es 45. Sollte die Entwicklung anhalten, könnte die Zahl der Angriffe also noch jene des Vorjahres übersteigen. Der Verfassungsschutz rechnet mit einem Anstieg rechtsextremistisch und islamfeindlich motivierter Gewalttaten. Zudem beobachten die Sicherheitsbehörden eine Zunahme von Straftätern und Kundgebungen gegen eine «Islamisierung Deutschlands», die von Rechtsextremisten gesteuert werden.
Auch über den antijüdischen Al-Quds-Marsch in Berlin ist berichtet worden. Seit 1996 findet er dort jedes Jahr am sogenannten Al-Quds-Tag statt, dem letzten Freitag im Fastenmonat Ramadan. Wie immer marschierten auch diesmal vor allem Muslime mit. Von den erwarteten 2500 Teilnehmern kamen allerdings nur 650. Der Al-Quds-Tag wurde von Ajatollah Khomeini ins Leben gerufen. Er wollte die verfeindeten Schiiten und Sunniten miteinander versöhnen, indem der Hass auf die gemeinsamen Feinde Israel und Amerika gelenkt wird.
Was zunehmend in den Medien unter der Überschrift Islam diskutiert wird, sind die steigenden Flüchtlingszahlen. In diesem Sommer rechnet Berlin damit, dass bis Ende 2015 etwa 850000 Flüchtlinge eintreffen. Man geht davon aus, dass etwa 80 Prozent von ihnen Muslime sein werden. Wie sollen wir mit ihnen umgehen?, werden Vertreter islamischer Verbände in Interviews gefragt. Es wird befürchtet, gerade jüngere Flüchtlinge seien anfällig für islamistische Agitation.
In Hannover steige ich um. In einen ICE, der so voll ist, dass die Koffer schon im Eingang stehen. Daneben hocken Leute auf dem Boden: Leidensmienen, Knopf im Ohr, verkörperte Anklagen an die Deutsche Bahn. Mitunter habe ich den Verdacht, einige Deutsche lieben diese Pose geradezu. Womöglich nehmen sie deshalb sogar den Zug. Wie auch jetzt ist die Leidensmiene oftmals nämlich gar nicht berechtigt, denn der Großraumwagen des ICE ist zwar recht voll, aber es gibt noch freie Sitze am Gang. Ich wähle jenen neben der Frau mit verhülltem Haar – keine Muslimin, sondern eine Nonne mit weißem Kopftuch, um den Hals trägt sie ein Kreuz aus Holz. Ihre weiße Kutte bedeckt die Arme und reicht bis auf die Fußknöchel. Eine Art brauner Überwurf vervollständigt die Tracht, zu der sie eine fein geschwungene Brille im Stil der sechziger Jahre trägt. Sie ist eine Erscheinung wie aus einer alten Fotografie.
Nach dem Treffen mit Kübra Gümüşay hatte ich mir vorgenommen, nie mehr eine Frau, die offensichtlich stark gläubig ist, mit Fragen nach den Gründen für ihr Tuch zu drangsalieren. Eine...