Die Krux am Trend der Scripted-Reality-Formate ist leicht zu erkennen: Ob Produktionsfirma, Sendeverantwortlicher oder Redakteur - alle reden von Scripted Reality. Eine allgemein gültige Definition gibt es allerdings nicht. Genauso vielfältig wie die Verwendungen sind auch die Abwandlungen des Begriffs. Im folgenden Kapitel wird eine für diese Masterarbeit gültige und zugrunde liegende Definition erläutert und der Status Quo der gescripteten Formate im deutschen Fernsehen beschrieben.
Formate, die auf den ersten Blick wie Dokumentationen wirken, aber ein Drehbuch als Grundlage haben und mithilfe von Laienschauspielern dargestellt werden, nennt man Scripted Reality.
Solche Formate werden auch scripted documentary oder scripted-docu- soap genannt (vgl. Hißnauer, 2011, S. 363).
Weitere Merkmale dieser Formate sind laut Hißnauer, dass sich teilweise dokumentarischer Darstellungskonventionen bedient wird. In Bezug auf „Berlin - Tag & Nacht" sind damit u.a. die abgesetzten Interviews und die wackelige, lebendige Kamera gemeint.
Scripted-Reality-Formate sind rein fiktive Sendungen ohne realen Hintergrund.[1] Sie laufen entweder im Rahmen von Fortsetzungsserien, wie im Fall von „Berlin - Tag & Nacht" oder auch „Die Abschlussklasse", die von 2003 bis 2006 auf ProSieben lief, oder aber sie erscheinen als Episodenserie, wie „Familien im Brennpunkt" oder „Verdachtsfälle".
In den letzten Jahren wurde allerdings eine markante Veränderung der Scripted-Reality-Formate sichtbar:
„Sie inszenieren sich vermehrt ais journalistisch-dokumentarische Sozialreportagen“ (Hißnauer, 2011, S. 332).
Besonderes Merkmal von Scripted-Reality-Formaten wie „Berlin - Tag & Nacht“, die als Fortsetzungsserien konzipiert ist, ist die Serien-Dramaturgie. Nach Frey-Vor sind die wichtigsten Elemente einer Serie, die auch auf „Berlin - Tag & Nacht“ angewendet werden können, zunächst das Konzept auf Endlosigkeit. Konflikte werden nur oberflächlich gelöst und enthalten wiederum neue Konflikte. Am Schluss jeder Folge gibt es einen Cliffhanger. Charakteristisch ist auch die Zopfdramaturgie, d.h. mehrere Handlungsstränge sind miteinander verwoben. Die Dialoge dominieren gegenüber der Handlung. Diese Merkmale beziehen sich explizit auf „Berlin - Tag & Nacht“, sind allerdings nicht idealtypisch für alle Scripted-Reality-Formate. Es gibt viele Gemeinsamkeiten, allerdings auch Unterschiede. Die Kameraführung in fiktiven Serien ist meist statisch, in „Berlin - Tag & Nacht“ dagegen dominiert die living camera (vgl. Frey-Vor, 1996, S. 18ff).
Die Begriffsvielfalt für Scripted Reality und deren Formate ist enorm. Erschwerend hinzu kommt, dass sich selbst Produzenten, Verantwortliche der Sendeanstalten und Forscher uneins über Definitionen sind. Demzufolge gibt es auch keine einheitliche Verwendung.
Allerdings ist dies auch das Charakteristische an der Gattung. Für die in dieser Arbeit enthaltene Untersuchung ist es notwendig, dass der Begriff, die Entwicklung und das Umfeld von Scripted Reality umfassend erläutert wird, um darauf Bezug nehmen zu können.
Am Anfang der Hierarchie steht der Begriff Reality TV. Dies ist der Oberbegriff für sämtliche Gattungen. Spricht man von Reality TV, muss grundsätzlich zwischen narrativem und performativem Reality TV unterschieden werden.
Performatives Reality TV zeichnet sich im Gegensatz zum narrativen dadurch aus, dass diese Formate einen realen Hintergrund haben, in dem direkt in die Alltagswelt von Menschen eingegriffen wird (vgl. Lücke, 2002, S.). Um die Unterschiede noch genauer erklären zu können, muss zuerst eine genauere Begriffsbestimmung erfolgen, für die kurz die Entwicklung des Reality TV skizziert werden muss.
Mittlerweile sind Gattungen des Reality TV, also z.B. neben Scripted- Reality-Formaten auch Doku-Soaps oder Reality-Soaps, fester Bestandteil des deutschen Fernsehens. Über den genauen Beginn der Entwicklung gibt es verschiedene Ansichten, Grundlage dieser Masterarbeit sind die Schilderungen von Stephanie Lücke und Christian Hißnauer.
Den ersten Boom der Reality-TV-Formate gab es Anfang der 1990er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt tauchte der Begriff in der medienwissenschaftlichen Debatte auf und war attraktiv, weil er Authentizität versprach. Konkret handelte es sich zuerst um sogenannte eyewitness programmes, also u.a. Kompilationen von Augenzeugenberichten, Homevideos oder nachgestellte dramatische Ereignisse anhand von Zeugenaussagen (wie „Bitte lächeln" oder „Notruf"). Insgesamt sprach man damals von gewaltzentriertem Reality TV, weil der Fokus der Sendungen eben meist auf Unfällen oder Rettungsaktionen gerichtet war. Zu dieser Zeit waren Formen des Reality TV ganz klar der Information und nicht der Unterhaltung zugeordnet.
Es folgte ein deutlicher Wandel im Begriffsverständnis, hin zu einem kommerziellen, auf Unterhaltung ausgerichtetem Programmangebot.
Heutzutage versteht man Reality TV als Oberbegriff für verschiedene Formen, die sowohl einen Unterhaltungs- als auch einen Anspruch auf dokumentarische Wirklichkeitsdarstellung haben (vgl. Lücke, 2002 und Hißnauer, 2011).
Einige Autoren verwenden synonym den Begriff Factual Entertainment. Dieser stammt aus der angelsächsischen Literatur und beschreibt die Unterscheidung bei nonfiktionalen Fernsehformaten zwischen Information (z.B. Nachrichten) und Unterhaltung (z.B. Doku-Soaps) (vgl. Weiß/Ahrens, 2012, S. 65f).
Im Laufe dieses Wandels bildeten sich die Merkmale des Reality TV aus: die Vermischung von Fiktion und Non-Fiktion.
Reality TV ist gekennzeichnet von Hybridisierung, d.h. es verknüpft Charakteristika verschiedener Gattungen und formt daraus neue Formate. Zusammen mit einer thematischen Verschiebung, vom Schicksal des Einzelnen hin zum Alltag (obwohl auch dort eher das Spektakuläre im Alltag von Interesse ist) von Menschen.
Der zweite Boom folgte dann 2000 mit der Ausstrahlung der ersten Staffel von „Big Brother". Damals war von Sittenverfall die Rede, dennoch gilt „Big Brother" als Start der Real-Life-Soaps bzw. als das Synonym für semidokumentarische Formen.
Unter dem Begriff Real-Life-Soap werden die Gattungen Doku-Soap, Reality-Soap sowie Scripted Reality subsumiert.
Doku-Soaps kennzeichnen das Prinzip, dass Menschen in ihrer gewohnten Umgebung gezeigt werden. Reality-Soaps dagegen sind selbstgenerierte TV-Events, d.h. sie finden nur statt, damit sie im Fernsehen gezeigt werden können. Doku-Soaps unterstellt man grundsätzlich, dass sie echt und dokumentarischen seien (natürlich mit einem gewissen Grad an Inszenierung). Doku-Soaps werden aber immer mehr und immer öfter fiktionalisiert - sodass sie zu Scripted-Reality-Formaten werden.[2] An diesem Punkt setzt noch mal die genauere Definition von narrativem und performativem Reality TV an: Bei performativen Showformaten (also Reality-Soap-Formaten) macht das Script die Show bzw. die Sendung und gibt den Handlungsrahmen vor, in dem sich die Akteure bewegen können. Beispiele dafür sind „Big Brother", „Das perfekte Dinner" oder „Frauentausch".
Bei narrativen Erzählformaten verändert das Script die dokumentarische Erzählstruktur komplett und wandelt sich vom Beobachten zum Nachspielen. Dazu gehören dann sowohl die klassischen Doku-Soap-Formate wie „Goodbye Deutschland", „Unsere erste gemeinsame Wohnung" oder „Menschen, Tiere & Doktoren" sowie Scripted-Reality-Formate (vgl. Hißnauer, 2011 und Weiß/Ahrens, 2012, S 62f).
Die Landesmedienanstalten ordnen den Start der Verbreitung von Scripted- Reality-Formaten in Deutschland in das Jahr 2009 ein. Allerdings war und ist die Umsetzung nicht neu - auch den Daily Talks Ende der 1990er Jahre sowie den Gerichtsshows werden ein Script als Grundlage unterstellt (vgl. Weiß/Ahrens, 2012, S. 59f). Hißnauer geht sogar noch weiter zurück und verortet das Prinzip von Scripted Reality in das Dokumentarspiel der 1960er und 1970er Jahre, in dem Kriminalfälle fiktionalisiert wurden (vgl. Hißnauer, 2011, S. 365).
Die Ursache für die Entwicklung gescripteter Formate in Deutschland war für Markus Brauck ganz eindeutig:
„Das Boom-Genre hat ein Personalproblem"(Brauck, 2009, S. 87).
Auch für die Landesmedienanstalten sind ökonomische Gründe für diesen Verlauf entscheidend gewesen. Einerseits sind Scripted-Reality-Formate schneller und billiger herzustellen als jedes andere dokumentarische Format - auch im Vergleich zu anderen Reality-TV-Formaten - andererseits ist auch die Recherche von echten Geschichten und von Menschen, die ihre echte Geschichte erzählen und sich von der Kamera begleiten lassen, immer schwieriger, als sich Geschichten auszudenken und sie dann nachstellen zu lassen. Hinzu kommt, dass dadurch keine Gefahr mehr besteht, dass Persönlichkeitsrechte o.Ä. verletzt werden.
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