Teil 2
Warum machen wir es nicht einfach? Hindernisse auf dem Weg zur Einfachheit
»Verbringe nicht die Zeit mit der Suche nach einem Hindernis, vielleicht ist keines da.«
Franz Kafka
»Mit herzlichen Grüßen aus Süddeutschland«
Im Mai 2008 erreichte mich folgender Brief eines Lesers:
Sehr geehrter Herr Brandes,
Ich habe Ihr Buch Einfach managen gelesen. Ich habe immer wieder den Kopf geschüttelt, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen, weil es mir zunächst schwerfiel, zu verstehen, dass andere, größere Unternehmen so »einfach gestrickt« und viel effizienter sind. Zum anderen, weil ich an meinem Arbeitsplatz täglich erlebe, wie aufwendig, teuer und zeitraubend in dem Unternehmen, in dem ich angestellt bin, gearbeitet wird. Wir haben in Deutschland 31 Filialen mit circa 4500 Mitarbeitern. Kein Einzelhandel, sondern Transport/Logistik ist unser Geschäft.
Für eine einfache Kundenvereinbarung brauche ich insgesamt vier Unterschriften, dann werden die Unterlagen kopiert und in die 500 km entfernte Fachabteilung geschickt, dort noch mal geprüft, dann ins EDV-System eingetragen und dann abgelegt. Ich wiederum habe circa zwei Tage später noch mal zu prüfen, ob die Daten auch wirklich im EDV-System hinterlegt wurden.
Im Jahre 2004 kam ein Manager auf die Idee, die sogenannte »Brutto-für-netto-Regelung einzuführen, das heißt, wenn ein Mitarbeiter Fehlzeiten hat (z. B. Urlaub, Krankheit, Schulungen etc.), muss er die nicht geleisteten Kundenkontakte nachholen oder Wochen vorher schon hereinholen.
So könnte ich Ihnen weitere Beispiele aufzeigen, die nicht nachvollziehbar sind, von denen aber stets behauptet wird, sie seien zwingend notwendig, da ich/wir immer das große Ganze sehen müssten …
Es scheint mir, dass es in größeren Firmen meist Leute gibt, die einen beindruckenden theoretischen Hintergrund haben, aber manchmal einfach übersehen, dass man manche Dinge ganz einfach an drei Fingern (oder meinetwegen auch an einer Hand) abzählen kann und dann entscheidet und umsetzt. Es fehlen vielfach der Praxisbezug und der gesunde Menschenverstand. Sie haben mir mit Ihrem Buch Mut gemacht, dass es auch anders geht. Aus diesem Mut leite ich die Hoffnung ab, dass der eine oder andere Manager in unserem Unternehmen eventuell doch mal zufällig eines Ihrer Bücher in die Hand bekommt und es auch mit großem Interesse liest. Ganz offen: Mein erster Gedanke beim Lesen Ihres Buches war: Ich besorge mir vier oder fünf Exemplare und schicke sie anonym an diverse Top-Manager unseres Unternehmens mit dem Vermerk: »... von einem engagierten, loyalen Mitarbeiter, der seine Arbeit gern macht, jedoch täglich unter der Flut der internen Bestimmungen und der sich wie eine Seuche ausbreitenden Bürokratie leidet und nun hofft, dass sich nach der Lektüre an oberster Stelle was ändert …«
Ich weiß: Es ist ein frommer Wunsch und wird es bleiben. Und doch hoffe ich, dass die eine oder andere Ehefrau unserer Manager eines Ihrer Bücher erwirbt und ihrem Gatten unters Kopfkissen legt.
Nochmals vielen Dank.
Herzliche Grüße aus Süddeutschland
3. Unklare Ziele – aller Komplexität Anfang
E-Commerce: das Einfache nicht begriffen
Viele Unternehmen scheiterten um das Jahr 2000 an ihrer Internet-Euphorie. Viele wollten Waren über das Internet verkaufen. Sie dachten offenbar nur an die Möglichkeiten ihrer Computer, aber weniger an Einkauf und Logistik oder an stimmige, überzeugende Geschäftsmodelle. Warum sollten Kunden denn überhaupt über das Internet kaufen? Ist es nicht doch besser, in den Supermarkt zu gehen? Die etablierten Versandhäuser sind mit ihren Systemen Profis für solche Geschäfte. Der Ottoversand kann so etwas. Die Aufgabe, Kontakt zum Kunden aufzubauen, ja, das können viele. Den Kunden zum Kaufen zu bringen – vielleicht auch noch. Aber dann den Kunden auch noch beliefern? Nein. Das schaffen die Newcomer dann doch nicht. Ohne Lager? Ohne Logistik? Ohne Sortiment? Ohne Einkauf? Ohne Kenntnis der Produkte? Nur mit Computern im Keller – das reicht nicht. Es entwickelten sich völlig neue Geschäftsmodelle, wie der Buchversand Amazon. Aber da ging es um ein Produkt, das für den Versand bestens geeignet ist und das man über das Internet zusätzlich mit interessanten Informationen anreichern kann. Es gab Fehleinschätzung über Fehleinschätzung gegen den gesunden Menschenverstand. Immer wieder wird übersehen, dass die neue Technologie, dass die Computer nur ein Medium sind, aber kein neues Geschäft schlechthin.
Unklarheit über Zielvorstellungen ist aller Komplexität Anfang. Hilfreich ist da die Frage, warum der Kunde mein Produkt oder in meinem Laden kaufen sollte. Nur wer diese Frage schlüssig beantwortet, hat eine Chance, Geschäfte zu machen. »Nur wer seiner Tante und seinem Onkel den Geschäftsplan in wenigen Sätzen erklären kann, verfügt über eine Erfolg versprechende Strategie«, sagte ein weiser Unternehmer. Weit verbreitet scheint es zu sein, sofort an komplexe Prozesse zu denken und dabei das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. Das Wesentliche sieht man nur, wenn man sich beschränkt, wenn man versucht, einfache Zusammenhänge zu bilden und zu verstehen. Das Internet ist nur ein interessantes Vehikel zum Kunden.
Die Hamburgischen Electricitätswerke handeln mit Kaffeemaschinen
Offenbar ist es schwierig, dem Kunden ein sinnvolles Angebot im Energiebereich zu machen. Der unübersichtliche Wettbewerb zwischen den Stromkonzernen veranlasst diese dazu, alle denkbaren Extras zu offerieren. Die Briefkästen sind heute schon voll mit Broschüren und Zeitschriften, mit Preisausschreiben und Aufforderungen zum Sammeln von Punkten oder mit Gewinnspielen. Dazu haben sich auch die Stromversorger gesellt. Sind denn alle verrückt geworden? Wissen die nicht, wie man sicher und günstig Strom verkaufen kann? Will der Kunde wirklich mehr? Ist das zielorientiertes, strategisches Handeln, ist das Kundenorientierung, die so intensiv von 90 Prozent aller Unternehmen als wichtigste Aktivität bezeichnet wird? Oder ist das pures Marketing?
Als Hamburger Stromverbraucher wollte ich einmal hinter die Marketingaktivitäten der Hamburgischen Electricitätswerke (heute Vattenfall) schauen und brauchte zunächst zehn Minuten, bis ich auf den HEW-Pages feststellen konnte, dass ich 6050 Punkte auf meinem Punktekonto habe. Ich könne mir dafür etwas aussuchen. Zur Auswahl stand zum Beispiel ein Siemens-Kaffeeautomat. Aber zu den 6000 Punkten sollte ich noch 100 Euro zuzahlen. Dass ich etwas zuzahlen muss, wurde mir zwar nicht sofort deutlich, aber ich kam bald dahinter. Ich verzichtete auf das Angebot. Ich wusste ja gar nicht, was der Apparat im Handel kostete oder ob dieses Angebot günstig war. Ich war verärgert.
Ich mache einige Wochen später einen zweiten Versuch. Aus einem größeren Angebot wähle ich zwei Mal »Spanisches Weinduo«. 5000 Punkte muss ich opfern, aber nichts zuzahlen. Nach zwei Wochen erhalte ich ein Schreiben: »Vielen Dank für Ihre Bestellung. Aufgrund der sehr starken Auftragsannahme ist die von Ihnen bestellte Aktionsprämie leider ausverkauft. Daher können wir Ihre Prämienbestellung nicht ausführen.« Ich bin wiederum verärgert und beginne, mich zu fragen, ob das wohl auch der richtige Stromlieferant ist – über den ich mich immer ärgern muss. Zumindest dankt man dann noch für mein Verständnis, das ich gar nicht habe, und wünscht mir weiterhin viel Spaß mit meiner HEW-Card.
Ich will nur Strom und meine wertvolle Zeit nicht verschwenden. Der nächste Brief von den HEW, persönlich adressiert: 46 Seiten verschiedenster Unterlagen: Gutscheinhefte, Bestellformulare, Unterlagen und Erläuterungen zum Punktesammeln bei 50 Firmen und Veranstaltern und eine praktische HEW-Card-Mappe. Mit der Kundenkarte könnte ich bei McDonald’s billiger essen oder das Kieser-Fitness-Studio günstiger nutzen. Ein Besuch mit meinen Enkeln im dänischen Legoland mit einer Ersparnis von 30 Euro wäre auch nicht schlecht. Das Sinnvollste erschien noch ein Angebot zur einmaligen kostenlosen Nutzung der Störungsbeseitigung an der Kundenanlage einmal im Jahr, obwohl ich gar nicht weiß, was eine Kundenanlage in meiner Wohnung ist. Vielleicht ist es der Sicherungskasten oder der Zählerkasten? Geht der denn so oft kaputt? Alles dieses sollen die Kunden nun bedenken, klären, sich entscheiden – arg kompliziert, weil die HEW sich für Komplexität entschieden haben.
Wie lautet die Botschaft des Stromanbieters HEW an seine Kunden? Zugegeben, es scheint nicht auf der Hand zu liegen, welches die Gründe sein können, bei diesem oder jenem Stromanbieter Kunde zu sein. Der Preis fällt einem natürlich sofort als Grund ein. Sinn könnten auch die neuen Ideen machen, wonach der Kunde selbst seinen Mix aus verschiedenen Energiequellen zusammenstellen und damit sogar seinen Preis beeinflussen kann.
An der Frage, warum die Kunden gerade seinen Strom kaufen sollten, kommt der Stromanbieter aber nicht vorbei. Da muss eine glasklare Antwort her. Und wenn der Grund nur im Preis liegen sollte, so hat das Unternehmen die Aufgabe, alle Funktionen und Aktivitäten so zu gestalten, dass es zum Kostenführer werden kann. Die Sprüche des HEW-Pressesprechers, Mario Spitzmüller, sind nicht genügend: »Wir versorgen unsere Kunden eben nicht nur mit Strom, sondern auch mit guten Ideen.« Wer will eigentlich von allen möglichen Unternehmen permanent mit sogenannten »guten Ideen« rundum versorgt werden? Hermann Simon15 spricht vom »gelben Gefasel –...