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Inside Anonymous

Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands

AutorParmy Olson
VerlagRedline Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783864142802
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Erstmals packen die Hacker aus. Ende des Jahres 2010 nahmen weltweit Tausende an den digitalen Angriffen der Hackergruppe Anonymous auf die Webseiten von VISA, MasterCard und PayPal teil, um gegen die Sperrung der Konten von Wiki-Leaks zu protestieren. Splittergruppen von Anonymous infiltrierten die Netzwerke der totalitären Regime von Libyen und Tunesien. Eine Gruppe namens LulzSec schaffte es sogar, das FBI, die CIA und Sony zu attackieren, bevor sie sich wieder auflöste. Das Anonymous-Kollektiv wurde bekannt durch die charakteristische Guy-Fawkes-Maske, mit der sich die Aktivisten tarnen. Es steht für Spaß-Guerilla und politische Netzaktivisten ohne erkennbare Struktur, die mit Hacking-Attacken gegen die Scientology-Sekte und Internetzensur protestierten. Internetsicherheitsdienste und bald auch die gesamte Welt merkten schnell, dass Anonymous eine Bewegung war, die man sehr ernst nehmen sollte. Doch wer verbirgt sich eigentlich hinter den Masken? Inside Anonymous erzählt erstmalig die Geschichte dreier Mitglieder des harten Kerns: ihren Werdegang und ihre ganz persönliche Motivation, die sie zu überzeugten Hackern machte. Basierend auf vielen exklusiven Interviews bietet das Buch einen einzigartigen und spannenden Einblick in die Köpfe, die hinter der virtuellen Community stehen.

PARMY OLSON ist die Leiterin des Londoner Büros des Forbes Magazine. Zuvor war sie Redakteurin für Börsenhandel, schrieb für den Blog Disruptors und für die berühmte Forbes-Liste über Milliardäre wie den russischen Internetmagnaten Yuri Milner oder den Harrords-Tycoon Mohammed Al Fayed.

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Leseprobe

Kapitel 2: William und die Anfänge von Anonymous


Aaron Barr hätte sich niemals der virtuellen Konfrontation mit Ano­ny­mous zu stellen brauchen, wenn nicht sieben Jahre zuvor ein dünner blonder New Yorker Jugendlicher namens Christopher Poole einen außergewöhnlichen Beitrag zur Netzkultur geleistet hätte. Im Sommer 2003 surfte der damals vierzehnjährige Poole von seinem Schlafzimmer aus im Web. Er war auf der Suche nach Informationen über japanische Animes, ein Hobby, das er mit Tausenden anderer amerikanischer Teenager teilte.

Schließlich stieß er auf ein japanisches Bilderforum mit pfirsichfarbenem Hintergrund, das sich ausschließlich mit Animes befasste und 2channel hieß, abgekürzt 2chan. Poole hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Gegründet hatte es 1999 der Collegestudent Hiroyuki Nishimura (heute, 2012, ist er fünfunddreißig Jahre alt); es enthielt Diskussionsthreads, die sich praktisch mit Lichtgeschwindigkeit fortschrieben. Poole musste nur 30 Sekunden warten und dann F5 drücken, um die Seite neu zu laden und einen Strom neuer Posts zu sehen – bis zu 1.000 Stück. Fast alle Poster blieben anonym. Anders als englischsprachige Webforen forderte 2chan keine Namensregistrierung, und kaum ein User meldete sich an.

Im selben Sommer war auch den japanischen Medien aufgefallen, dass 2chan ein ziemlich peinliches Fenster geworden war, das der Welt einen Einblick in die japanische Subkultur gewährte. Die Diskussionen über Animes hatten sich längst auf andere Gegenstände ausgeweitet: Jugendliche, die ihre Lehrer umbrachten, ihre Chefs angriffen oder einen örtlichen Kindergarten in die Luft sprengten. Und das Forum war eine der beliebtesten Webseiten des Landes.

Poole wünschte sich ein solches, in dem er sich auf Englisch mit anderen Interessierten über Animes austauschen konnte, aber 2chan hatte angefangen, englische Posts zu blockieren. Also machte er sich daran, 2chan zu klonen. Er kopierte den frei verfügbaren HTML-Code der Seite, übersetzte den Inhalt ins Englische und baute das Ganze dann aus, alles auf dem Computer zu Hause in seinem Zimmer. Das Ergebnis nannte er 4chan. Als ein Online-Bekannter mit dem Spitznamen moot fragte, was der Unterschied zwischen 4chan und 2chan sein solle, antwortete Poole mutig: »ES IST DOPPELT SO VIEL CHAN, MOTHERFUCKER.«

Am 29. September 2003 registrierte Poole die Domain 4chan.net und kündigte sie auf Something Awful an, einem Internetforum, in dem er regelmäßig postete. Sein Thread trug den Titel: »4chan.net – das englische 2chan.net!«

4chan sah fast genauso aus wie 2chan: dunkelroter Text auf pfirsichfarbenem Hintergrund mit farbigen Kästchen für die Diskussionsthreads. Weder 4chan noch 2chan haben ihren Auftritt bis heute groß geändert; ein paar neue Farbschemata sind dazugekommen. Kurz nach der Eröffnung von 4chan verlinkte sich ein englischsprachiger Anime-Hub namens Rasp­berry Heaven mit dem Forum, gefolgt von Something Awful. Die ersten Besucher schauten herein und waren sofort begeistert. Die einzelnen Unterforen waren oben auf der Seite alphabetisch aufgeführt: /a/ stand für Animes, /p/ für Fotografie und so weiter. Unter /b/ hatte Poole ein »allgemeines« Forum eingerichtet, das binnen zwei Monaten zum wichtigsten Bestandteil der Seite werden sollte. In einer Diskussion mit einigen der ersten User schrieb moot, /b/ sei das »schlagende Herz der Seite«, aber auch »eine Klapsmühle«. Hier konnte jeder schreiben, worüber er wollte.

Poole hatte 4chan zunächst so konfiguriert, dass jeder Poster sich einen Spitznamen auswählen musste. Das blieb bis Anfang 2004 so, als ein 4chan-User und PHP-Programmierer mit dem Nickname Shii gegen diesen Zwang aufbegehrte. Er veröffentlichte einen Essay über den Wert der Anonymität in Internetforen und wies auf 2chan hin, wo die Anonymität der Eitelkeit Einzelner und der Cliquen- und Elitenbildung entgegenwirke. Eine Seite, die einen zwang, sich mit einem Spitznamen zu registrieren, schrecke außerdem interessante Menschen ab, die viel zu tun hatten, und ziehe stattdessen Menschen an, die zu viel Freizeit hatten und zu bösartigen und sinnlosen Kommentaren neigten. »In einem anonymen Forum«, schrieb er, werde die Logik über die Eitelkeit triumphieren.

Poole las den geposteten Essay. Er gefiel ihm, und er setzte Shii als Moderator und Administrator der Foren auf 4chan ein. Einen anderen Administrator ließ er auf einigen Teilen der Seite »Forced_Anon« einführen, ein Feature, das keine Nicknames mehr zuließ. Viele User regten sich darüber auf, einige umgingen die erzwungene Anonymität mit sogenannten Tripcodes, die wieder Spitznamen ermöglichten. Andere wiederum, denen die Anonymität gefiel, machten sich über die Spitznamen-User lustig und tauften sie »Tripfags«.

Der folgende Konflikt war vielleicht schon ein Anklang zukünftiger Entwicklungen. Die Anhänger der Anonymität und die der Tripcodes begannen getrennte Threads, in denen sie dazu aufriefen, mit Posts ihre Sache zu unterstützen, sowie eigene »Tripcode-vs.-Anon«-Threads. Die Tripfags verspotteten die anonymen User, indem sie sie als einzigen Menschen mit dem Namen Ano­ny­mous oder als hive mind, als Gruppenhirn, bezeichneten. Im Laufe der nächsten Jahre nutzte der Witz sich ab, und in einigen Diskussionsforen wurde »Ano­ny­mous« tatsächlich als einheitliches Wesen behandelt. Poole trat zunehmend in den Hintergrund, während Ano­ny­mous ein Eigenleben annahm. Insbesondere /b/ wurde mit der Zeit zur Heimat einer Fangemeinde, deren ganzes Leben sich um den Spaß und die Erfahrungen drehten, die es bot. Es handelte sich meistens um männliche englischsprachige User zwischen achtzehn und fünfunddreißig Jahren. Einer von ihnen war William.

William öffnete ein Auge und riskierte einen Blick. Es war ein kalter Nachmittag im Februar 2011, und der 4chan-Süchtige dachte darüber nach, ob er vielleicht allmählich aufstehen solle. Weit weg versuchte Aaron Barr gerade, die Schäden zu reparieren, die ein Zusammenstoß mit Ano­ny­mous-Hackern hinterlassen hatte. Auch William gehörte zu Ano­ny­mous, und manchmal attackierte er gerne andere Menschen. Er hatte zwar nicht die technischen Fähigkeiten wie Sabu oder Kayla, aber seine Methoden waren wirksam genug.

An der Wand seines Schlafzimmers war ein Bettlaken festgenagelt, das vom Boden bis zur Decke reichte. Weitere Laken hingen vor den Wänden. Am Fußende des Betts stapelte sich Gerümpel auf einem niedrigen Regal; das Fenster dahinter war mit einem blickdichten Springrollo verschlossen. Dieses Zimmer war im Winter sein Kokon, das Bett sein Sicherheitsnetz. Mit seinen einundzwanzig Jahren hatte er fast jeden Tag auf 4chan verbracht, seit er vor sechs Jahren die Schule verlassen hatte, manchmal viele Stunden lang ohne Unterbrechung. Aus diversen Gründen hatte er es nie länger als ein paar Monate an einem Arbeitsplatz ausgehalten, auch wenn er es versuchte. William hatte zwei Gesichter: In der wirklichen Welt war er freundlich zu seiner Familie und loyal seinen Freunden gegenüber. Als anonymer /b/-User auf 4chan verwandelte er sich in eine dunklere, manchmal bösartige Persönlichkeit.

Für William und andere fanatische Hardcore-User war 4chan nicht nur eine von vielen Unterhaltungsseiten, die Millionen Leute immer mal wieder aufsuchten – es war ein Lebensstil. Außer Pornos, Witzen und verstörenden Bildern gab es hier Opfer, denen man Streiche spielen konnte. Jemandem im Internet Angst zu machen oder ihm wirklich Schaden zuzufügen hieß auf 4chan »life ruin« – ein Leben ruinieren. Mit ganz ähnlichen Methoden wie Aaron Barr suchte sich William in den Diskussionsforen von 4chan Teilnehmer, die verspottet wurden oder es verdient hätten. Dann »doxte« er sie, das heißt, er stellte ihre wahre Identität fest, schickte ihnen Drohbotschaften auf Facebook oder machte Familienangehörige ausfindig und belästigte sie. Der Hauptgewinn war es, wenn er auf Nacktfotos stieß – die konnte man an Familie, Freunde und Kollegen des Opfers schicken, entweder, um es in eine peinliche Lage zu bringen, oder sogar, um es zu erpressen.

Leben zu ruinieren machte William nicht nur Spaß, sondern es verschaffte ihm ein Machtgefühl, das er in der realen Welt nicht kannte. Ähnlich fühlte er sich höchstens, wenn er sich mitten in der Nacht aus dem Haus stahl und sich mit ein paar alten Freunden traf, um bunte Graffiti an Häuserwände und Waggons zu sprühen. Die Graffiti waren im Sommer seine Geliebte, im Winter war es 4chan und inzwischen manchmal die breiter gestreuten Aktivitäten bei Ano­ny­mous.

Auf 4chan gab es durchaus auch harmlose Inhalte und sachliche Diskussionen, hauptsächlich aber Pornos, Splatter und ständige Beleidigungen der User untereinander; alles zusammen ergab einen pulsierenden Knoten der Negativität. Das Forum ließ manchmal unheimliche Gedanken an Selbstmord in William aufsteigen, aber es hielt ihn auch am Leben. Wenn er spürte, dass eine depressive Phase im Anzug war, blieb er oft die ganze Nacht auf 4chan und dann den folgenden Tag wach. Wenn die Selbstmordfantasien kamen, konnte er sich in den Schlaf flüchten, sicher in seine Bettdecke gewickelt und zur Wand gedreht, die er mit einem Laken verhängt hatte.

William war in einer britischen Sozialwohnungssiedlung aufgewachsen. Seine Eltern hatten sich im YMCA getroffen, nachdem seine Mutter, eine Südostasiatin, aus einer unglücklichen Ehe geflohen war und zeitweise auf der Straße lebte. Das Paar trennte sich, als William sieben Jahre alt war; er entschied sich dafür, bei seinem Vater zu bleiben. In der Schule, laut Statistik einer der schlechtesten landesweit, fiel er kontinuierlich durch schlechtes Benehmen auf. Er beschimpfte die Lehrer oder stand einfach...

Blick ins Buch

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